
Hintergrund
Weltweit sind Kliniken aufgrund der COVID-19-Pandemie an ihren Kapazitätsgrenzen angelangt oder haben sie sogar überschritten. Dank der Eindämmungsmaßnahmen konnte dies in Deutschland bislang im Großen und Ganzen erfolgreich verhindert werden. Dennoch mussten auch die Kapazitäten von Fachabteilungen hierzulande reduziert werden, um separate und leistungsfähige COVID-19-Stationen in den Klinken aufzubauen. Davon sind auch die kardiologischen Abteilungen und Herzkatheterlabore betroffen.
Enges Zeitfenster bei der Akutversorgung
Als Methode der Wahl für die Akutversorgung von Patienten mit ST-Hebungsmyokardinfarkt (ST elevation myocardial infarction [STEMI]) gilt heutzutage die primäre perkutane Koronarintervention (primäre PCI) innerhalb von idealerweise 90 Minuten nach medizinischem Erstkontakt, um eine ausreichend schnelle und nachhaltige Reperfusion im Ischämie-Gebiet zu erreichen. Die infolge der Pandemie limitierten Kapazitäten der Herzkatheterlabore, die Infektionsschutzmaßnahmen für medizinisches Personal und Patienten sowie die Durchführung zusätzlich erforderlicher Untersuchungen können jedoch dazu führen, dass das ideale Zeitfenster von 90 Minuten für die primäre PCI nicht eingehalten werden kann. [1]
Fibrinolyse als Alternative zur PCI?
Unter den Gegebenheiten der SARS-CoV-2-Pandemie schlagen nun einige Experten vor, die Fibrinolyse als Alternative zur PCI in bestimmten Situationen wieder häufiger bei der Akutversorgung des STEMI einzusetzen. Dieser Vorschlag wird aktuell in der Fachzeitschrift Circulation: Cardiovascular Quality and Outcomes von zwei Expertengruppen kontrovers diskutiert. [2,3]
Argumente für die Fibrinolyse
Für die Befürworter eines verstärkten Einsatzes der Fibrinolyse bei der Akutversorgung des STEMI um Dr. Paul W. Armstrong von der University of Alberta in Edmonton stellt die Fibrinolyse-Therapie angesichts der möglichen Verzögerungen bei der Reperfusionstherapie mittels PCI infolge der SARS-CoV-2-Pandemie eine effektive, einfache und sichere Alternative dar. Die Autoren sind der Meinung, dass eine adäquate und rechtzeitige Reperfusionstherapie wichtiger ist als die Art der Reperfusion. Sie untermauern ihre Meinung mit folgenden Argumenten:
Gute Ergebnisse bei Fibrinolyse
Die Strategic Reperfusion Early after Myocardial Infarction (STREAM) Studie von 2013 zeigt laut den Befürwortern, dass eine frühe fibrinolytische Therapie gepaart mit einer zeitnahen PCI ähnliche gute Ergebnisse hinsichtlich des klinischen 30-Tage-Outcomes und einer 1-Jahres Mortalität erzielte wie eine primäre PCI.
Empfehlungen der Fachgesellschaft
Eine Fibrinolyse-Therapie wird auch von US-Amerikanischen und Europäischen Fachgesellschaften empfohlen, falls eine rechtzeitige primäre PCI nicht möglich ist.
Vorteile in Pandemiezeiten
Nach Ansicht der Autoren kann das Gesundheitssystem mithilfe eines verstärkten Einsatzes der Fibrinolyse entlastet, Ressourcen wie Schutzkleidung gespart und das Expositionsrisiko für das medizinische Personal verringert werden.
Einwände gegen den verstärkten Einsatz der Fibrinolyse
Als Leiter von Herzkatheterlaboren an zwei akademischen Lehrkrankenhäusern in New York haben die Kardiologen Dr. Ajay Kirtane und Dr. Sripal Bangalore viele Erfahrungen mit den Folgen der COVID-19-Pandemie auf die Organisation der STEMI-Akutversorgung gesammelt. Sie sprechen sich gegen einen verstärkten Einsatz der Fibrinolyse als Alternative zur primären PCI aus und führen folgende Argumente an:
Fibrinolyse ist der PCI unterlegen
Im Vergleich zu PCI wird mit einer Fibrinolyse seltener eine vollständige Reperfusion erreicht. Die durch die Pandemie veränderten Behandlungsbedingungen verzögern auch den Einsatz der Fibrinolyse. Dabei ist zu erwarten, dass da die Koronarthromben zum Zeitpunkt des Therapiebeginns bereits älter und besser organisiert sind und die Fibrinolyse dadurch weniger effektiv wirkt.
Verringerung der Virenexposition durch Fibrinolyse
Bei einer Fibrinolyse besteht ein höheres Reinfarktrisiko, das relativ häufig eine elektive oder eine Rescue-PCI erfordert. In diesen Fällen verringert die Fibrinolyse die Virenexposition des medizinischen Personals nicht. Auch die Ressourcen an Schutzkleidung werden so nicht geschont.
COVID-19-Myokarditis
COVID-19 kann eine Myokarditis verursachen, die zu einer ST-Streckenhebung im EKG führt. Eine Fibrinolyse ist in diesem Fall nicht indiziert und mit einem erhöhten Blutungsrisiko verbunden. Tatsächlich macht die häufig anhaltende ST-Streckenhebung in diesen Fällen auch eine Herzkatheterisierung nötig.
Diagnostische Vorteile
Die Vorteile der STEMI-Behandlung im Herzkatheterlabor beschränken sich nicht auf die Durchführung einer primären PCI beschränkt sei. Koronarangiografie und hämodynamische Messungen liefern häufig diagnostische und prognostische Informationen, die für die Diagnosesicherung und die Stabilisierung der Patienten etwa durch medikamentöse Therapien von wichtig sein können.
Fazit
Vorausgesetzt, es werden alle nötigen Vorkehrungen getroffen, das medizinische Personal vor einer Ansteckung zu schützen, ist die primäre PCI auch in COVID-19 Zeiten die beste Therapieoption bei STEMI, erläutern Kirtane und Bangalore und raten daher von einem Einsatz der Fibrinolyse als Alternative zur PCI ab. Wenn die Möglichkeit einer primären PCI jedoch nicht besteht, gelten selbstverständlich auch in Pandemie Zeiten die Empfehlungen der Fachgesellschaften zum Einsatz von pharmakoinvasiven Strategien mit Fibrinolyse.