Die hereditäre Fructoseintoleranz (HFI) ist eine sehr seltene Störung im Kohlenhydratstoffwechsel, die auf einem genetisch bedingten Mangel des Fructose abbauenden Enzyms Aldolase B basiert. Die HFI darf nicht mit der intestinalen Fructoseintoleranz (IFI) bzw. der Fructosemalabsorption verwechselt werden.
Die hereditäre Fructoseintoleranz (ICD-10 E74.1) ist eine sehr seltene autosomal-rezessiv vererbte Kohlenhydratstoffwechselstörung. Die Störung ist auf einen mutationsbedingten Aktivitätsmangel des Fructose spaltenden Enzyms Fructose-1-Phosphat-Aldolase (kurz Aldolase B) zurückzuführen. Die Beschwerden beginnen meist erst bei/nach der Entwöhnung von der Muttermilch und der Einführung von Beikost. Nach dem Verzehr von Fructose- und Saccharose-haltigen Lebensmitteln leiden die Betroffenen an starken Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Hypoglykämien. Eine längerfristige Fructosezufuhr führt zu Leber- und/oder Nierenversagen, Krampfanfällen und Koma – auch mit letalem Verlauf. Die Diagnostik erfolgt mittels humangenetischer Blutuntersuchung und dem Nachweis der Mutation im Aldolase-B-Gen. Eine hereditäre Fructoseintoleranz kann nicht medikamentös behandelt werden. Einzige therapeutische Maßnahme ist der vollständige Verzicht von Fructosehaltigen Nahrungsmitteln [1][2].
Cave: Die hereditäre Fructoseintoleranz (HFI) darf nicht mit der deutlich häufiger vorkommenden intestinalen Fructoseintoleranz (IFI) bzw. Fructosemalabsorption und der essenziellen Fruktosurie infolge einer Fruktosämie verwechselt werden.
Epidemiologie
Die Prävalenz der hereditären Fructoseintoleranz wird in der westlichen Bevölkerung auf 1:20.000 bis 1:30.000 Neugeborene geschätzt. Im deutschsprachigen Raum ist von etwa 2.500 erwachsenen HFI-Patienten auszugehen [3][4].
Ursachen
Die hereditäre Fructoseintoleranz basiert auf einem genetisch bedingten Aktivitätsmangel der Fructose-1-Phosphat-Aldolase. Als Ursache kommen mehr als 50 pathogene Mutationen im Aldolase-B-Gen (auf dem langen Arm des Chromosoms 9 lokalisiert) infrage. Die in Europa am häufigsten vorkommenden Defekte (85% aller HFI-Patienten) sind die Mutationen A149P, A174D und N334K oder Delta4-E4.
Die HFI wird autosomal-rezessiv vererbt. Das bedeutet, dass zur klinischen Ausprägung des Enzymmangels sowohl das ererbte väterliche als auch das ererbte mütterliche Allel eine Mutation tragen muss [3].
Pathogenese
Patienten mit hereditärer Fructoseintoleranz haben insbesondere Probleme mit drei Nahrungsbestandteilen:
Fructose (Fruchtzucker), der in den meisten Früchten und Gemüsearten natürlich enthalten ist
Saccharose (Haushaltszucker), ein Disaccharid, bestehend aus je einem Molekül Glukose und Fructose
Sorbit, ein Zuckerausstoffstoff, der über Sorbit-Dehydrogenase zu Fructose dehydriert
Nach der Aufnahme von Fructose, Saccharose oder Sorbit werden diese in der Leber verstoffwechselt. Zunächst erfolgt der Umbau von Fructose mittels Fruktokinase zum toxischen Metaboliten Fructose-1-Phosphat (F-1-P). Unmittelbar im Anschluss wird F-1-P in Dihydroxyacetonphosphat (DHAP) und Glycerinaldehyd – die Ausgangssubstanzen für Glykolyse und Glukoneogenese – gespalten. Hierfür ist das Enzym Fructose-1-Phosphat-Aldolase (weitere Bezeichnungen sind Aldolase B, Leber-Aldolase oder ALD-B) erforderlich. ALD-B wird in den Zellen von Dünndarm, Leber und Nierenrinde exprimiert. Dort ermöglicht es die Einschleusung von Fructose bzw. deren Abbauprodukten in die Stoffwechselwege der Glykolyse und Glukoneogenese. Fehlt Aldolase B – wie bei der hereditären Fructoseintoleranz – kann Fructose-1-Phosphat nicht gespalten werden und akkumuliert nach dem Verzehr von Fructose, Saccharose oder Sorbit in den Zellen. Daraus resultieren zwei Haupteffekte: [3][4][5]
Die Glukoneogenese und Glykogenolyse werden blockiert. Infolge wird die hepatische Glukoseproduktion stark gebremst, wodurch schwere Hypoglykämien entstehen.
ATP wird vermehrt ausgenutzt und vermindert regeneriert. Der ATP-Mangel führt zu einer Hypophosphatämie, Hyperurikämie, Hypermagnesiämie, Hyperalaninämie und weiteren Störungen. Zeitgleich wird die Proteinsynthese gestoppt – mit der Folge von ultrastrukturellen Läsionen, die eine gastrointestinale, hepatische und renal-tubuläre Dysfunktion bedingen.
Symptome
Eine hereditäre Fructoseintoleranz manifestiert sich üblicherweise im Säuglings- oder Kleinkindalter. Kinder mit HFI sind so lange symptomfrei, bis sie Fructose, Saccharose oder Sorbit zu sich nehmen. Dies ist gewöhnlich um den sechsten Lebensmonat im Zuge der Entwöhnung der Muttermilch mit der Zufütterung von Beikost der Fall. Bei ungestillten Babys zeigen sich die Symptome aufgrund des Zusatzes von Fructosehaltigen Nährstoffen in Säuglingsnahrung schon früher. Eines der wichtigsten Kardinalsymptome ist eine unmittelbar postprandiale auftretende Hypoglykämie [2].
Weitere Beschwerden, die auf eine hereditäre Fructoseintoleranz hinweisen, sind: [2][5]
Unwohlsein
Übelkeit und Erbrechen
Bauchschmerzen
Blähungen, Meteorismus
starkes Schwitzen
zittern
Unruhe, Schreien
Somnolenz
Lethargie, Apathie
Krampfanfälle
Hepatomegalie
Aszites
Ödeme
Nahrungsverweigerung
chronische Wachstumsbeschränkung/Gedeihstörung
zunehmende Leber- und Niereninsuffizienz
Gerinnungsstörungen
HFI-Betroffene entwickeln oft eine Aversion gegen Süßes und Obst. Durch diese instinktive Abneigung kann eine HFI bis ins Erwachsenenalter unbemerkt bleiben. Oft fällt ein kariesfreies Gebiss auf [3][5].
Besonderheiten
Hohe Fructose-Exposition
Nehmen Säuglinge große Mengen an Fructose auf, kann es zu potenziell lebensbedrohlichen Situationen mit Lethargie, Krampfanfällen und/oder Koma kommen [2].
Arzneimittel
Grundsätzlich kann jede Behandlung mit Fructose-, Saccharose- oder Sorbitol-haltigen Arzneimitteln, inklusive Fructosehaltiger Sondennahrung, zu schweren Nebenwirkungen führen [2].
Impfungen
Vorsicht ist bei Saccharose-haltigen Impfstoffen geboten. Dazu gehören Rotarix® Pulver und Lösungsmittel zur Herstellung einer Suspension zum Einnehmen und RotaTeq® Lösung zum Einnehmen. Jede Person, die nach der unmittelbaren Verabreichung einer solchen Vakzine schwere unerwünschte Reaktionen in Form von Erbrechen, Hypoglykämie, Lethargie, Leber- und/oder Niereninsuffizienz zeigt, sollte gründlich auf die Möglichkeit einer hereditären Fructoseintoleranz untersucht werden [2].
Diagnostik
Erste Hinweise auf eine hereditäre Fructoseintoleranz liefern die Ernährungsanamnese und Klinik. Bei gastrointestinalen Beschwerden gepaart mit postprandialer Hypoglykämie nach dem Verzehr einer Fructosehaltigen Speise kann eine Fructosekarenz versucht werden. Bessern sich die Beschwerden, erhärtet sich der Anfangsverdacht. Die eigentliche HFI-Diagnose erfolgt mittels molekulargenetischer Untersuchung. Zunächst sollte nach den drei häufigsten Mutationen des Aldolase-B-Gens (also A149P, A174D und N334K) gesucht werden. Können zwei Mutationen nachgewiesen werden, gilt eine HFI als gesichert. Wird keine dieser häufigeren Mutationen gefunden, ist die Wahrscheinlichkeit einer HFI sehr gering. Bei Nachweis nur einer einzelnen heterozygoten Mutation oder bei sehr dringendem klinischem Verdacht ohne Mutationsnachweis in der ersten Stufe, kann in Stufe zwei nach weiteren selteneren Mutationen im Aldolase-B-Gen gesucht werden. Ferner besteht die Möglichkeit, die Aldolase-B-Aktivität mittels Leberbiopsie zu bestimmen [5].
Cave: Fructose-Toleranztests sollten bei Verdacht auf eine hereditäre Fructoseintoleranz aufgrund des Risikos lebensbedrohlicher Stoffwechselentgleisungen nicht mehr durchgeführt werden [2].
Labor
Zu den wichtigsten laborchemischen Merkmalen einer hereditären Fructoseintoleranz gehören:
Hypoglykämie
Erhöhung der Transaminasen
Hyperbilirubinämie
Hypermagnesiämie
Hyperurikämie
Hypophosphatämie
metabolische Azidose
Proteinurie
Fruktosurie
Tyrosylurie
Aminoazidurie [2][5]
Differenzialdiagnose
Unverträglichkeitssymptome nach Fructose-Exposition sind deutlich häufiger Folge einer intestinalen Fructoseintoleranz (IFI) bzw. Fructosemalabsorption sowie chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie Morbus Crohn [2].
Weitere mögliche Differenzialdiagnosen sind:
Typ-I- und Typ-IV-Allergien, pollenassoziierte Kreuzallergien
Zöliakie
Laktoseintoleranz
Histaminintoleranz
intestinale Dysbiosen
Pankreasinsuffizienz
Hepatitis
Intoxikationen
Reizdarmsyndrom
Therapie
Der wichtigste Punkt bei der Behandlung einer hereditären Fructoseintoleranz ist die sofortige Elimination potenzieller Fructosequellen. Dies sollte bereits bei Verdacht auf HFI erfolgen. Bei bestätigter Diagnose müssen Betroffene eine Diät einhalten und zeitlebens den Verzehr von Fructose, Saccharose, Sucralose und Sorbit vermeiden. Säuglinge und Kleinkinder sollten bis zum Alter von zwei bis drei Jahren eine extrem strenge Karenz einhalten. Mit zunehmendem Alter kann sich die Toleranz gegenüber Fructose geringfügig erhöhen. Dennoch dürfen auch erwachsene HFI-Patienten täglich nicht mehr als 2,0–2,5 g Fructose zu sich nehmen (zum Vergleich: üblicherweise beträgt der Fructosegehalt in der Nahrung mehr als 35–50 g). [2][3]
HFI-Diät streng einhalten
Eine HFI-Diät enthält keinerlei Obst und nur ausgewählte Fructosearme Gemüsesorten. Um einen Mangel an Mikronährstoffen, insbesondere an wasserlöslichen Vitaminen, zu vermeiden, wird täglich eine Vitaminsubstitution (in erster Linie Vitamin C und Folsäure) empfohlen. Neben Fructose muss auf Sorbit, Saccharose, Sucralose und Polysorbat, Fructosehaltige Oligosaccharide, Maissirup mit hohem Fructosegehalt, Honig, Agavendicksaft, Invertzucker, Ahornsirup, Melasse, Palm- oder Kokosnusszucker und Sorghum (ein Spelzgetreide) verzichtet werden. [2][3]
Überdies müssen Arzneimittel und Sondennahrungen vor der Anwendung auf ihren Fructose- und Saccharosegehalt überprüft und entsprechend gemieden werden. Dazu gehören vor allem Sirupe, Suspensionen, Klistierlösungen, einige Immunglobulin-Zubereitungen sowie Säuglings- und Kindernahrungsgetränke. Ferner sind Diabetikerprodukte und Nahrungsergänzungsmittel auf ihren Fructose-/Saccharose-/Sorbitgehalt zu kontrollieren. [2][5]
Hinweis: Patienten, die an einem Austausch mit anderen Betroffenen interessiert sind, können sich an die Selbsthilfegruppe hereditäre Fructoseintoleranz SHG-HFI wenden.
Fructosetoleranz nicht austesten
Von einer individuellen Austestung der Fructosetoleranz bis kurz vor Auftreten subjektiver gastrointestinaler Symptome oder hypoglykämischer Episoden ist abzuraten. Eine minimal zu hohe Fructoseaufnahme (> 2–2,5 g) führt möglicherweise noch nicht zu Beschwerden, kann langfristig aber Störungen im Harnsäure- und Magnesiumhaushalt verursachen [3].
Weitere Behandlung
Weitere therapeutische Maßnahmen richten sich nach der Symptomatik. Akute Manifestationen wie Lethargie, Krampfanfälle, fortschreitende Leber- und/oder Niereninsuffizienz, metabolische Azidose und Koma sollten symptomatisch in einem Krankenhaus behandelt werden [2].
Monitoring
Es gibt keine formellen Leitlinien für die Überwachung von HFI-Patienten. Nach der Diagnose ist jedoch eine regelmäßige Bewertung der Leber- und Nierenfunktion, des Vitaminstatus und des Wachstums anzuraten, insbesondere wenn die Fructose-/Sucrose-/Sorbit-/Sucralose-beschränkte Ernährung nicht absolut befolgt wird [2].
Prognose
Die Prognose richtet sich nach dem Einhalten der Fructosearmen Diät. Bei nahezu Fructosefreier Ernährung mit optimaler Vitaminsubstitution ist die Prognose sehr gut. In dem Fall haben Menschen mit HFI eine normale Lebensqualität und Lebenserwartung. Folgekrankheiten sind nicht bekannt. Mitunter ist eine leichte, nicht progrediente Fibrosierung des Leberparenchyms möglich [2][3].
Unbehandelt kann eine HFI zu schweren Organschäden (insbesondere Nieren- und Leberversagen), Krampfanfällen und einem progressiven Koma führen – auch mit letalem Ausgang [2].
Hinweis: Patienten mit HFI sollten immer einen Notfallausweis bei sich tragen, in dem auf die Notwendigkeit einer extrem Fructosearmen Diät hingewiesen wird.
Prophylaxe
Da es sich bei der hereditären Fructoseintoleranz um einen angeborenen Enzymdefekt handelt, gibt es keine vorbeugenden Maßnahmen.
Orphanet: Fruktoseintoleranz, hereditäre. ORPHA: 469, Stand März 2004; abgerufen am 09. August 2021.
Gaughan, S. et al.: Hereditary Fructose Intolerance. In GeneReviews® [Internet]. University of Washington, Seattle; 1993–2021, 2015 Dec 17 [updated 2021 Feb 18], PMID: 26677512; abgerufen am 09. August 2021.
Wendel, U. (2014): 21. Hereditäre Fruktoseintoleranz (HFI). In: Angeborene Stoffwechselkrankheiten bei Erwachsenen, 193–7, Springer; DOI: 10.1007/978-3-642-45188-1_21.
Goldmann, K., Busse, B.: Fructose-Intoleranz, hereditäre (FBP1-Defizienz inbegriffen). Zentrum für Humangenetik und Laboratoriumsdiagnostik (MVZ); abgerufen am 09. August 2021.
Institut für Medizinische Diagnostik (IMD): Hereditäre Fructoseintoleranz (HFI); abgerufen am 09. August 2021.