
Männer haben höheres COVID-19-Risiko
Insgesamt untersuchten die Wissenschaftler unter der Leitung von Professor Dr. Andrea Alimonti von der Universität in Bellinzona (Schweiz), eine Kohorte von 9.280 Patienten mit einer bis zum 1. April 2020 im Labor bestätigten SARS-CoV-2-Infektion in Venezien. Die 4.532 infizierten Männer entwickelten häufiger einen schweren Verlauf der Coronavirus-Erkrankung 2019 (coronavirus disease 2019; kurz COVID-19), mussten häufiger stationär und intensivmedizinisch behandelt werden und verstarben häufiger als Frauen, obwohl Frauen häufiger infiziert waren. 786 der 9.280 Patienten (8,5%) hatten eine Krebsdiagnose. Für die aktuelle Analyse werteten die Forscher nur die Krebspatienten männlichen Geschlechts aus.
Krebspatienten sind oft schwer an COVID-19 erkrankt
Von den 4.532 mit SARS-CoV-2-infizierten Männern waren 430 (9,5%) an Krebs erkrankt, 118 (2,6%) an einem Prostatakarzinom. Die Krebspatienten waren im Durchschnitt etwas älter als die übrigen männlichen Infizierten und wiesen ein um den Faktor 1,8 erhöhtes Risiko für COVID-19 auf. Auch entwickelten sie besonders häufig einen schweren Verlauf und Komplikationen der Erkrankung.
Ausnahme Prostatakarzinom
Die Auswertung von Patienten mit Prostatakarzinom ergab ein differenzierteres Bild. Ein Altersunterschied zwischen infizierten Prostatakarzinompatienten und anderen Infizierten fand sich zwar nicht, wohl aber auch hier für alle Prostatakarzinompatienten zusammen ein erhöhtes Risiko für COVID-19 und eine schweren Verlauf dieser Erkrankung. Bei Auswertung der Krebsregisterdaten von Venetien zeigte sich aber, dass nur 4 von insgesamt 5.273 Patienten mit Prostatakarzinom, die eine Androgendeprivationstherapie (ADT) erhalten, eine SARS-CoV-2-Infektion entwickelten. Zudem war von diesen Patienten trotz Krebserkrankung keiner verstorben. Patienten mit Prostatakarzinom, die eine andere Therapie erhalten hatten, wiesen demgegenüber ein über vier Mal höheres Risiko für eine Infektion auf als Patienten unter ADT (Odds Ratio 4,05). Noch größer war der Unterschied des Risikos für COVID-19 zwischen Patienten unter ADT und anderen Krebspatienten (Odds Ratio 5,17).
Androgendeprivation als Prophylaxe?
Die Wissenschaftler um Alimonti schlagen aufgrund dieser Befunde vor, man könne eine ADT eventuell Männern ohne Prostatakarzinom mit hohem COVID-19-Risiko für eine begrenzte Zeit (beispielsweise 3 Monate) verabreichen, um sie so in der Pandemie zu schützen. Auf der anderen Seite könnte die ADT auch eine therapeutische Option für bereits an COVID-19 erkrankte Patienten sein, um die Symptomschwere zu mindern. Eignen würden sich dafür beispielsweise Gonadotropin-Releasing-Hormon-Antagonisten, deren Wirkung innerhalb von 48 Stunden einsetze aber transient sei. Die Autoren betonen aber auch, dass ein solcher Einsatz zuerst einmal entsprechende klinische Studien erfordert.
Pathophysiologie hinter der Androgendeprivation
Der beobachtete Effekt der ADT auf die Ausprägung der SARS-CoV-2-Infektion kommt nicht von ungefähr. Nach Forschungen von Alimonti hängt der Eintritt von SARS-CoV-2 in menschliche Zellen von der Bindung des viralen Spike-Proteins an das Angiotensin-konvertierende Enzym 2 (ACE2) ab und es ist belegt, dass die transmembrane Serinprotease 2 (englisch: transmembrane protease serine subtype 2, TMPRSS2) diesen Vorgang fördert. Möglicherweise kann deshalb die Hemmung von TMPRSS2 helfen, die Schwere von SARS-CoV-2-Infektionen abzuschwächen oder zu blockieren. Das Enzym wird von einem Androgen-regulierten Gen kodiert und ist beim Prostatakarzinom hochreguliert. Diese Hochregulation scheint die Zellproliferation und genetische Translokationen im Tumor zu fördern. ADTs der ersten und zweiten Generationen blockieren TMPRSS2.