
Hintergrund
Das Leitlinienprogramm Onkologie hat unter Federführung der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) 2021 erstmals eine S3-Leitlinie zur Komplementärmedizin in der Behandlung von Karzinomerkrankungen veröffentlicht. Nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin werden die wichtigsten – derzeit in Deutschland gängigen – komplementären und alternativen Methoden, Verfahren und Substanzen bewertet. Damit steht nun allen in der Onkologie tätigen Berufsgruppen und Patienten mit malignen Tumorerkrankungen ein Nachschlagewerk zur Verfügung, das Informationen, Empfehlungen und Nicht-Empfehlungen zu Homöopathie, Akupunktur, Osteopathie, Vitaminen, Heilpflanzen und Co. beinhaltet.
Themen
Die S3-Leitlinie „Komplementärmedizin in der Behandlung von onkologischen PatientInnen“ unterteilt die alternativen/komplementären Verfahren in vier Schwerpunkte:
- Medizinische Systeme (whole medical systems): dazu gehören Akupunktur, Akupressur, anthroposophische Medizin, Homöopathie sowie die klassischen Naturheilverfahren Phytotherapie, Hydrotherapie, Ernährungstherapie, Bewegungstherapie und Ordnungstherapie
- Mind-Body-Verfahren: inklusive Meditation, Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR), multimodale und integrative Verfahren, Tai Chi/Qigong und Yoga
- Manipulative Körpertherapien: beinhalten Bioenergiefeldtherapien wie Reiki, Therapeutic Touch, Healing Touch und Polarity Therapie sowie Chirotherapie/Osteopathie/Cranio-Sacral-Therapie, Hyperthermie, Reflextherapie, Schwedische Massage, Shiatsu/Tuina sowie Sport und Bewegung
- Biologische Therapien: Einsatz von Mineralstoffen, Spurenelementen, Vitaminen, Enzymen, Phytotherapeutika und sekundären Pflanzenstoffen
Ziele
Die Leitlinie soll vor allem dabei helfen, aktive Empfehlungen für einzelne komplementärmedizinische Maßnahmen, Verfahren oder Substanzen auszusprechen oder aber von ihnen abzuraten. Weiter sollen Patienten zukünftig an jedem Tumorzentrum und Behandlungsort Antworten auf Fragen zur Komplementär- und Alternativmedizin erhalten und bei der Suche nach seriösen Informationen unterstützt werden.
Vor- und Nachteile
Die Leitlinienexperten sehen in der Komplementärmedizin insbesondere Vorteile bezüglich bestimmter Nebenwirkungen einer onkologischen Behandlung sowie der Lebensqualität der Betroffenen. Beispielsweise kann Akupunktur (zusätzlich zur antiemetischen Therapie) bei platinbasierter Chemotherapie zur Vorbeugung von verzögerter Übelkeit und Erbrechen helfen. Ebenso wird eine Steigerung der Lebensqualität durch Mittel aus der klassischen Homöopathie zusätzlich zur Tumortherapie beschrieben.
Allerdings betont die DKG, dass es für die meisten komplementärmedizinischen Anwendungen oder alternativen Verfahren kaum wissenschaftliche Untersuchungen gibt. Darüber hinaus beinhalten die vorhandenen Studien häufig nur eine kleine Probandenzahl; zudem fehlt oft eine adäquate Vergleichsgruppe. Deswegen sind die Ergebnisse nur eingeschränkt interpretierbar. Weiterhin gibt es nur wenige systematisch erfasste Daten zu potenziellen Nachteilen in Form von Nebenwirkungen und Interaktionen mit onkologischen Therapien.
Nebenwirkungen und Interaktionen
Potenzielle Arzneimittelinteraktionen können beispielsweise die Wirksamkeit der Karzinombehandlung oder der supportiven Therapie vermindern, oder umgekehrt deren Bioverfügbarkeit erhöhen und so verstärkte Nebenwirkungen hervorrufen. Einige Phytotherapeutika zeigen organtoxische Auswirkungen.
Amygdalin (Aprikosenkerne)
Ein typisches Beispiel ist Amygdalin bzw. Laetril (intravenöse Form). Die cyanogene Glykosid-Pflanzenverbindung (fälschlicherweise als Vitamin B17 bezeichnet) kommt in den Kernen vieler Früchte (Aprikosenkerne) und in zahlreichen Pflanzen der Gattung Prunus vor. Amygdalin- und Laetrilhaltige Arzneimittel werden vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) als bedenklich eingestuft und sind in Deutschland nicht zugelassen. Aufgrund der potentiell lebensbedrohlichen Nebenwirkungen (Cyanidvergiftung) spricht die Leitlinie auch komplementärmedizinisch eine Nicht-Empfehlung aus.
Aloe vera
Aloe vera ist eine Pflanzenart aus der Gattung der Aloen in der Familie der Grasbaumgewächse (Xanthorrhoeaceae). Aus der Pflanze werden unterschiedliche Arten von Zubereitungen herstellt. Die Zellschichten unmittelbar unter der Blattoberfläche enthalten Anthrachinonglykoside. Anthrachinonhaltige Zubereitungen der Aloe zählen laut Stoffliste des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) zu den Arzneistoffen, für die eine Verwendung als Lebensmittel oder Lebensmittelzutat aufgrund bekannter Risiken nicht empfohlen wird (Liste A). Laut einer aktuellen Neubewertung durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) können Anthranoide bzw. Anthrachinone kanzerogene und erbgutschädigende Wirkungen haben. Aloe-Gel aus filetierten Blättern ist hingegen frei von Anthranoiden und als Lebensmittel oder äußerlich aufgetragen unbedenklich. Im Internet werden jedoch immer wieder Nahrungsergänzungsmittel aus ungeschälten Aloe vera Blättern angeboten, die als nicht sicher gelten.
Die unsachgemäße Anwendung von Aloe vera Supplementen wurde mit Schilddrüsenfunktionsstörungen, akuter Hepatitis, perioperativen Blutungen und Elektrolytanomalien in Verbindung gebracht. Nach Aloe vera Injektionen bei Krebspatienten waren mehrere Todesfälle zu verzeichnen.
Wunsch nach Komplementärmedizin frühzeitig erfragen
Gemäß der Leitlinie sollen alle Krebspatienten frühestmöglich und im Verlauf wiederholt zur aktuellen und geplanten Anwendung von komplementären Verfahren befragt und gezielt auf mögliche Interaktionen zwischen diesen Anwendungen und der onkologischen Therapie hingewiesen werden. Bei Informationswunsch ist auf verlässliches Material aus seriösen Quellen zu verweisen.
Für eine optimale Patientenbetreuung empfiehlt die Leitliniengruppe verstärkte Aus-, Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen für alle im onkologischen Bereich tätigen ärztlichen und nichtärztlichen Berufsgruppen (zum Beispiel Ärzte, Psychologen, Pflegepersonal, Physiotherapeuten, Yogainstruktoren, TCM-Therapeuten, Naturheilkundler, Ernährungsberater, Navigatoren etc.)