
Hintergrund
Die durch das neuartige SARS-CoV-2 (severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2) ausgelöste Pandemie stellt das deutsche Gesundheitssystem vor bislang ungekannte Herausforderungen. Seit dem Frühjahr 2020 sind durch die Bindung von Ressourcen bei der Versorgung von Patienten mit COVID-19 (coronavirus disease 2019) ethisch und klinisch relevante Auswirkungen auf die Versorgung von an Krebs erkrankten Patienten zu verzeichnen, wie zum Beispiel eine zeitlich befristet reduzierte Kapazität für Tumoroperationen oder für die stationäre Versorgung sowie ein Rückgang von Früherkennungs- und Nachsorgemaßnahmen.
Es ist davon auszugehen, dass in den kommenden Monaten ein Mehrbedarf an Diagnostik und Therapie in der ambulanten und stationären Krebsmedizin bestehen wird, da während der COVID-19-Pandemie teilweise weniger Krebserkrankungen als in regulären Zeiten diagnostiziert wurden. Ärzte sowie andere Berufsgruppen, die in der onkologischen Versorgung tätig sind, müssen daher immer wieder Entscheidungen über die Zuteilung von vorhandenen Betten, Personal und anderen Ressourcen treffen. Solche Entscheidungen können Behandler belasten. Gleichzeitig müssen Entscheidungen über die Verteilung knapper Ressourcen wohlinformiert, transparent und fair getroffen werden.
Neue Leitlinie zur Priorisierung in der Krebsversorgung
Die Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO) in der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. und die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V. (DGHO) haben dieses Problem proaktiv adressiert und in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern des CancerCOVID-Verbundes eine S1-Leitlinie erarbeitet und veröffentlicht [1, 2].
Gegenstand dieser S1-Leitlinie sind Handlungsempfehlungen zur empirisch und ethisch begründeten Priorisierung von Maßnahmen in der Krebsversorgung am Beispiel von Patienten mit kolorektalem beziehungsweise Pankreaskarzinom im Falle einer zeitlich befristeten Knappheit an Ressourcen.
Diese Leitlinie richtet sich an Beschäftigte im Gesundheitswesen, die Patienten mit kolorektalen Karzinomen oder Pankreaskarzinomen in allen Krankheitsphasen (einschließlich Vorsorge dieser Erkrankungen) versorgen und mit Ressourcenknappheit konfrontiert sind.
Die Leitlinie gilt zunächst für maximal ein Jahr. Eine Überarbeitung ist, auch angesichts zu erwartender neuer Erkenntnisse über die Versorgung von an Krebs erkrankten Patienten im Kontext der Pandemie, fest geplant.
Über den CancerCOVID-Verbund
Die Handlungsempfehlungen wurden innerhalb des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten interdisziplinären Forschungsprojektes CancerCOVID entwickelt. Das Verbundprojekt besteht aus den Teilprojekten Ethik (Leitung: Prof. Jan Schildmann, Halle/Saale), Onkologie (Leitung: Prof. Anke Reinacher-Schick, Bochum) und Versorgungsforschung (Leitung Prof. Jochen Schmitt und Dr. Olaf Schoffer, Dresden) und wird von Prof. Schildmann koordiniert.
Methodik
Die Experten führten in PubMed und Google Scholar eine selektive Literaturrecherche zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Krebsversorgung sowie eine Auswertung thematisch einschlägiger internationaler Leitlinien durch. Des Weiteren nahmen sie Erhebungen zur psychosozialen Belastung von Patienten und Angehörigen der Gesundheitsberufe vor.
Zudem wurden versichertenbezogene Routinedaten der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) PLUS, Daten aus Darmzentren und aus weiteren Zentren (Praxen und Kliniken) der AIO, dem Institut für Pathologie der Ruhr-Universität Bochum, der ColoPredict Plus 2.0 Registerstudie sowie des Berufsverbandes der niedergelassenen Hämatologen und Onkologen in Deutschland und der Onkotrakt AG analysiert.
Die Experten führten ferner qualitative Leitfadeninterviews und auf Grundlage der vorangegangenen Forschungsergebnisse strukturierte Gruppendiskussionen mit Vertretern der Gesundheitsberufe und weiteren Experten sowie eine kombinierte empirisch-ethische Analyse durch. Die Vorstände von 9 AWMF-Fachgesellschaften, 20 weiteren Fachorganisationen und 22 weiteren Experten aus unterschiedlichen Disziplinen sowie Patientenvertreter konsentierten schließlich die S1-Leitlinie.
Kriterien für die Entscheidungsfindung in der Krebsversorgung
Patientenzentrierte Entscheidungsfindung
Die Indikationsstellung und der Patientenwille bilden die Grundlage für jede patientenzentrierte Entscheidungsfindung. Grundlage für die Indikationsstellung und das darauf basierende Angebot beziehungsweise die Empfehlung einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme ist, dass nach ärztlicher Einschätzung mit der entsprechenden Maßnahme eine Heilung, Linderung oder ein anderweitiges Ziel der Gesundheitsversorgung erreicht werden kann. Voraussetzung für die Durchführung der entsprechenden Maßnahme ist die Einwilligung der Patienten.
Leitprinzip Minimierung von individuellem Schaden
Handlungsleitendes Prinzip für Priorisierungsentscheidungen bei Mittelknappheit ist die Minimierung von individuellem Schaden. Folgende Aspekte sollen bei der konkreten Entscheidungsfindung leitend sein:
1. Die zeitliche Dringlichkeit zur Vermeidung beziehungsweise Verringerung eines Schadens:
Bei vergleichbaren negativen gesundheitlichen Auswirkungen im Sinne von Verlust an Lebenszeit und/oder Lebensqualität, der direkt im Zusammenhang mit einer Verschiebung beziehungsweise Verzicht auf die Durchführung einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme steht, muss geklärt werden, wie dringlich eine Maßnahme durchgeführt werden muss, um dem entsprechenden Schaden entgegenzuwirken. Erkrankungssituationen, in denen der Schaden mit der avisierten medizinischen Maßnahme zeitlich dringlicher abgewendet werden muss, haben Priorität.
2. Die Erfolgsaussicht der avisierten medizinischen Maßnahme:
Für den Fall, dass eine vergleichbare Dringlichkeit in Bezug auf einen zu vermeidenden beziehungsweise zu mindernden Schaden besteht, muss geprüft werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit die avisierte medizinische Maßnahme den Schaden in einer bestimmten Erkrankungssituation abwenden kann. Maßnahmen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, den Schaden zu mindern beziehungsweise zu vermeiden, haben Priorität.
3. Die Prüfung alternativer medizinischer Maßnahmen:
Sofern verfügbar und geeignet zur Verminderung des Schadens ist zu prüfen, wie groß der Schaden beim Einsatz alternativer verfügbarer medizinischer Maßnahmen im Vergleich zur avisierten Maßnahme ist.
Das Geschlecht, das kalendarische Alter, eine Behinderung, die Ethnie, die Herkunft und weitere soziale Merkmale, wie der soziale oder der Versicherungsstatus sowie die Vehemenz eines Behandlungswunsches und der SARS-CoV-2-Impfstatus sollen explizit nicht zur Rechtfertigung einer Priorisierung beziehungsweise Posteriorisierung herangezogen werden.
Faire Gestaltung des Verfahrens der Entscheidungsfindung
Bei einem relevanten Schadenrisiko durch eine mögliche nachrangige Behandlung sollen Priorisierungsentscheidungen individuell für die jeweiligen Patienten nach dem Mehraugen-Prinzip getroffen werden. Es sollen jeweils möglichst folgende Akteure an der Entscheidung beteiligt werden:
- Zwei in der Behandlung der jeweiligen Tumoren erfahrene Ärzte
- Eine erfahrene Person aus der onkologischen Pflege
- Ein Experte für relevante Begleiterkrankungen
- Weitere Fachvertreter (z. B. klinische Ethik, Palliativversorgung).
Abgedeckte Handlungsfelder - kolorektales Karzinom und Pankreaskarzinom
Kern der Leitlinie sind Empfehlungen zur Priorisierung von Maßnahmen der Gesundheitsversorgung an den Beispielen kolorektales Karzinom und Pankreaskarzinom, die zu folgenden Handlungsfeldern konkretisiert wurden:
- Diagnostische Verfahren
- Tumoroperationen
- Systemische Therapien und Strahlentherapie
- Psychosoziale Versorgung
- Allgemeine und spezialisierte Palliativversorgung.
Weitere Themen der Leitlinie
- Rechtliche Aspekte
- Unterstützungsangebote für Patienten und Zugehörige, wie psychosoziale Unterstützung und Beratung sowie Palliativversorgung
- Unterstützungsangebote für Mitarbeitende.
Fazit
Die von einem breiten interdisziplinären Konsens getragenen Empfehlungen können eine empirisch und ethisch fundierte Handlungsorientierung für die Versorgung von Patienten mit Kolon- beziehungsweise Pankreaskarzinom in Situationen befristeter Knappheit von Ressourcen bieten, Entscheidungsträger entlasten und das Vertrauen der Bevölkerung in die Krebsversorgung, auch in Situationen einer außergewöhnlichen Knappheit von Ressourcen, ermöglichen.