
Wissenschaftler um Dr. Lucie Cluver, Professorin für Kinder- und Familiensozialarbeit an der University of Oxford und der University of Cape Town, haben in einer Modellierungsstudie den Anteil an Kindern unter 18 Jahren, die durch die Corona-Pandemie mindestens ein Elternteil oder Betreuungspersonen verloren haben, mathematisch modelliert. Die globalen, regionalen und nationalen Berechnungen erfolgten mithilfe von Mortalitäts- und Fertilitätsdaten. Der erste Beobachtungszeitraum erstreckte sich vom 01. März 2020 bis 31. Oktober 2021. Den Berechnungen zufolge erlitten weltweit 1.134.000 Kinder (95%-KI: 884.000–1.185.000) den Verlust durch Tod von primären Bezugspersonen (einschließlich mindestens eines Elternteils oder sorgeberechtigten Großelternteils). 1.562.000 Kinder (95%-KI: 1.299.000–1.683.000) mussten dem Tod von mindestens einer primären oder sekundären Bezugsperson erleben. In den folgenden sechs Monaten erhöhte sich die Anzahl der betroffenen Kinder drastisch. Diese Entwicklung ist vermutlich der Verbreitung neuer Coronavirus-Varianten und den Ungleichheiten beim Impfstoffzugang geschuldet, so die Studienautoren.
Zielsetzung
In einer Nachuntersuchung sollte die ansteigende Zahl der Kinder, die von COVID-19-assoziierter Verwaisung und dem Tod von Betreuungspersonen betroffen sind, sowie die kumulative Verteilung der Verwaisung nach Altersgruppen und Umständen (mütterlicher oder väterlicher Verlust) mathematisch aufgeschlüsselt werden.
Methodik
Um den Anstieg der Mindestschätzungen für SARS-CoV-2-bedingte verwaiste oder mit dem Tod einer Pflegeperson konfrontierten Kinder vom ursprünglichen Studienzeitraum (01.03.2020–30.04.2021) auf den nachbeobachteten Zeitraum (01.05.–31.10.2021) zu modellieren, nutzte die Arbeitsgruppe aktualisierte Daten zur Übersterblichkeit und Fertilität aus 21 Ländern. Verwaisung ist definiert als Tod eines oder beider Elternteile. Der Verlust der primären Betreuungsperson umfasst den Tod der Eltern oder den Tod eines oder beider sorgeberechtigter Großelternteile; der Verlust der sekundären Betreuungsperson schließt die mitwohnenden Großeltern oder Verwandten ein. Für den gesamten 20-monatigen Beobachtungszeitraum wurden die Kinder nach Alter (0–4 Jahre, 5–9 Jahre, 10–17 Jahre) und mütterlichem oder väterlichem Verlust gruppiert.
Ergebnisse
Die Zahl der Kinder, die aufgrund einer COVID-19-Erkrankung ein Elternteil oder eine Betreuungspersonen verloren haben, stieg in der Nachbeobachtungsphase vom 30. April bis 31. Oktober 2021 schätzungsweise um 90 Prozent (95%-KI: 89,7–90,4) an – von 2.737.300 (95%-KI: 1.976.100–2.987.000) auf 5.200.300 (95%-KI: 3.619.400–5.731.400) Kinder.
Nach Altersgruppen berechnet erlebten im Gesamtzeitraum fast 500.000 Kinder im Alter von null bis vier Jahren, mehr als 735.000 Kinder im Alter zwischen fünf und neun Jahren und mehr als 2.1 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter von zehn bis 17 Jahren den Verlust von Mutter, Vater, beiden Elternteilen oder einem sorgeberechtigten Großelternteil durch einen COVID-19-bedingten Tod. Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch weitaus höher.
Die Prävalenz der väterlichen Waisenschaft war in jeder Altersgruppe und Region höher als die der mütterlichen Verwaisung. Nach dem Modell verloren 76,5 Prozent (95%-KI: 76,3–76,7) der Kinder den Vater und 23,5 % (95%-KI: 23,3–23,7) die Mutter.
Fazit
Die Berechnungen zeigen, dass die Gesamtzahl der verwaisten oder mit dem Tod einer Pflegeperson konfrontierten Kinder innerhalb des sechsmonatigen Nachbeobachtungszeitraums fast doppelt so hoch war wie in den ersten 14 Monaten der Corona-Pandemie.
In der gesamten 20-monatigen Beobachtungsspanne wurden 5 Millionen COVID-19-Todesfälle erfasst; 5,2 Millionen Kinder haben mindestens ein Elternteil oder eine Betreuungsperson durch SARS-CoV-2 verloren. Das bedeutet, dass weltweit für jeden gemeldeten Corona-Tod mindestens ein Kind zur Waise wurde oder von einer engen Bezugsperson Abschied nehmen musste.
Geringere Durchimpfungsrate – mehr Waisen
In Regionen mit höheren Gesamtfruchtbarkeits- und niedrigen Durchimpfungsraten, etwa in Afrika, im östlichen Mittelmeerraum und in Südostasien, überstieg die Zahl der verwaisten oder mit dem Tod einer Pflegeperson konfrontierten Kinder die Zahl der SARS-CoV-2-Todesfälle sogar. Nach Schätzungen der COVID-19-Impfstoffabdeckung hatten bis zum 9. September 2021 lediglich 4 Prozent der Bevölkerung in den afrikanischen Ländern, 21 Prozent in der östlichen Mittelmeerregion und 34 Prozent im südostasiatischen Raum mindestens eine Impfdosis erhalten. In Europa lag der Anteil bei 53 Prozent, in Nord- und Südamerika bei 56 Prozent und in der westpazifischen Region bei 67 Prozent. Die Zahlen unterstreichen die Wichtigkeit, die weltweite Durchimpfungsrate zu beschleunigen, so die Studienautoren.
Hilfsprogramme für Kinder und Jugendliche schaffen
Darüber hinaus sollten die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, die Eltern oder enge Bezugspersonen verloren haben, stärker in den politischen Fokus rücken. Ebenso fordern die Wissenschaftler, entsprechende Hilfsprogramme zu schaffen. Anderenfalls sind negative Auswirkungen auf die familiäre Bindung, die frühkindliche Entwicklung und/oder die Bildung zu befürchten; überdies könnte das Risiko für psychische Auffälligkeiten und körperliche Erkrankungen steigen.