DGPPN 2022: Online-Sucht - bei Mädchen anders

Bei heranwachsenden Jungen ist die Abhängigkeit von Online- und Offline-Spielen bekannt und eine entsprechende Diagnose zumindest in der Wissenschaft etabliert. Dass einige Mädchen nicht mehr ohne Social-Media leben können, wurde dagegen lange kaum beachtet.

Maedchen Smartphone

„Ich hätte viel früher eine Gruppe für Mädchen machen sollen“, sagte Dr. Daniel Illy, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie am Asklepios Fachklinikum Lübben [1]. Er ist selbst von Online-Spielen begeistert und hatte früh eine Gamingsprechstunde initiiert. Nur sehr selten fanden Mädchen mit einem problematischen Internetgebrauch den Weg dorthin. Erst seit 2021 organisiert er eine eigene Sprechstunde für Patientinnen mit Social-Media-Abhängigkeit in der psychiatrischen Institutsambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Standort Königs Wusterhausen bei Berlin.

Häufigkeit der Social-Media-Abhängigkeit unterschätzt

Nach Ergebnissen der PINTA-Studie lag der Anteil der Menschen mit Internet-Abhängigkeit 2010-2011 bei etwa 1%, mit einer etwas stärkeren Betroffenheit der Männer (1,2% vs. 0,8% Frauen) [2]. Schon damals war der Anteil bei Jüngeren größer: 2,4% der 14–24-Jährigen und 4,0% der 14–16-Jährigen erfüllten die Kriterien einer Online-Sucht. 14- bis 16-jährige Mädchen sind nach der IBS-femme-Studie stärker von einer solchen Abhängigkeit betroffen als Jungen (4,9% vs. 3,1%) [3]. Ein Grund mag die soziale Erwünschtheit des Social-Media-Konsums bei Mädchen sein, meinte Illy. Die Nutzung werde von der Umgebung später als schädlich angesehen als bei massivem Computerspielen bei Jungen.

Mehrere Stunden Social-Media-Nutzung täglich

Eine Studie der DAK Gesundheit untersuchte 2017 erstmals die Nutzungsintensität und die Auswirkungen der Social Media bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland [4]. 85% der 12- bis 17-Jährigen nutzte soziale Medien täglich, wobei die Nutzungshäufigkeit mit dem Alter anstieg. Die durchschnittliche tägliche Nutzungsdauer aller Altersgruppen lag bei 166 Minuten, wobei Mädchen mit durchschnittlich 182 Minuten täglich länger in Social Media unterwegs waren als Jungen mit 151 Minuten. Daten zur Häufigkeit einer isolierten Social-Media-Abhängigkeit in Deutschland gibt es nicht.

Einordnung der Social-Media-Abhängigkeit

Die Begrifflichkeiten zu verschiedenen Formen der Internet-Abhängigkeit sind noch nicht gut etabliert. Im DSM-5 wird die Internet-Gaming-Disorder als Forschungsdiagnose aufgenommen. Die Diagnose Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung gibt es noch nicht. Illy schlägt vor, hier die Kriterien wie bei der Internet-Gaming-Disorder einzusetzen. Dazu gehören im DMS-5

  1. Gedankliche Vereinnahmung
  2. Entzugserscheinungen
  3. Toleranzentwicklung
  4. Kontrollverlust
  5. Interessenverlust
  6. Fortsetzung trotz psychosozialer Probleme
  7. Lügen/Verheimlichen
  8. Dysfunktionale Emotionsregulation
  9. Brüche im Lebensweg

Zur Diagnostik hat Illy die Soziale-Netzwerke-Abhängigkeits-Skala nach Shahnawaz und Rehman übersetzt und modifiziert [5]. Alternativen sind das strukturierte klinische Interview AICA-SKI: IBS oder die Selbstbeurteilung zum Onlinesuchtverhalten mit dem OCVe-S [6].

Teilabstinenz erreichen

Illy bietet betroffenen Kindern und Jugendlichen eine wöchentliche Gruppentherapie mit sechs bis acht Teilnehmern an. Das Ziel der Therapie ist eine Teilabstinenz. Es soll gemeinsam mit dem Patienten versucht werden, einen maß- und freudvollen Umgang mit dem Medium zu finden. Die Therapie ist modular aufgebaut und behandelt Themen wie Alltagsgestaltung, Psychoedukation und Metathemen (Influencer, Links), beinhaltet aber auch sportliche Aktivitäten wie Bouldern und soziale Gruppenaktivitäten. Es wurde bereits ein Therapiemanual „Gut Gud in Social Media“ entwickelt, das demnächst publiziert werden soll. Vorbereitend auf die Gruppe und bei Bedarf werden neben den Gruppen- auch Einzelsitzungen angeboten, um die Motivation zu verbessern, Ziele festzulegen und individuelle Thermen aufzugreifen. Ergänzend werden Gespräche mit Angehörigen und Eltern geführt.

Praktische Hinweise

Wichtig sei es, sich selbst zu hinterfragen, wie nutzungsaffin man sei, meinte Illy und riet dazu, selbst die Apps herunterzuladen und auszuprobieren. Für die häufigen Veränderungen im Bereich der Social Media müsse man offen bleiben. Als zentral für die Therapie nannte er eine wertschätzende Haltung. Dann seien prinzipiell alle Techniken der Verhaltenstherapie mit Techniken der motivierenden Gesprächsführung anwendbar. Folgende Internetseiten informieren über neueste Entwicklungen im Bereich Social Media: https://www.schau-hin.info und https://www.klicksafe.de. Hier gibt es auch Tipps zum Umgang mit Cybergrooming, wenn Ältere sich durch falsche Identitäten in Social Media in sexueller Intention an Kinder und Jugendliche annähern.

Autor:
Stand:
02.12.2022
Quelle:
  1. Dr. Daniel Illy: „Social-Media-Abhängigkeit – unterschätzte Risiko bei weiblichen Betroffenen“, DGPPN Kongress 2022, Berlin, 24. November 2022.
  2. Rupf HJ, Meyer C, Kreuzer A et al. (2011): Prävalenz der Internetabhängigkeit (PINTA). Bericht an das Bundesministerium für Gesundheit
  3. Müller KW et al. (2019) Internetbezogene Störungen bei weiblichen Betroffenen: Nosologische Besonderheiten und deren Effekte auf die Inanspruchnahme von Hilfen (IBSfemme). Abschlussbericht zum Projekt.
  4. DAK-Studie (2017) WhatsApp, Instagram und Co. – so süchtig macht Social Media.
  5. Shahnawaz MG, Rehman U (2020): Social Networking Addiction Scale. Cogent Psychology. DOI: 10.1080/23311908.2020.1832032
  6. Wölfling K, Müller K, Beutel M (2010): Diagnostische Testverfahren: Skala zum Onlinesuchtverhalten bei Erwachsenen (OSVe-S). In D. Mücken, A. Teske , F. Rehbein, , B. te Wildt, (Hrsg.), Prävention, Diagnostik und Therapie von Computerspielabhängigkeit (S. 212 – 215). Lengerich: Pabst Science Publishers


 

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