Biperiden

Biperiden ist ein zentral wirksames Anticholinergikum, das bei allen Formen des Parkinsonismus und iatrogenen extrapyramidalen Symptomen indiziert ist. Zusätzlich wird der Wirkstoff bei Vergiftungen durch Nikotin oder organische Phosphorverbindungen angewendet.

Biperiden

Anwendung

Der anticholinerge Wirkstoff Biperiden ist indiziert bei:

  • Allen Formen des Parkinsonismus
  • Medikamentös bedingten extrapyramidalen Symptomen wie exzitomotorische Phänomene, Parkinsonoid, Akinesie, Rigidität, Akathisie, akute Dystonien
  • Anderen extrapyramidalen Bewegungsstörungen wie generalisierte und segmentale Dystonien, Meige-Syndrom, Blepharospasmus, Torticollis spasmodicus
  • Nikotinvergiftung
  • Vergiftung durch organische Phosphorverbindung

Anwendungsart

Biperiden ist in folgenden Darreichungsformen erhältlich:

  • Tablette (2 mg, 4 mg)
  • Retardtablette (4 mg)
  • Injektionslösung (5 mg/mL)

Die Injektionslösung ist vor allem geeignet, wenn ein rascher Wirkungseintritt erforderlich ist, oder zur einleitenden Therapie in schweren Fällen von Parkinsonismus.

Die Tagesdosis sollte auf mehrere Einzeldosen aufgeteilt und gleichmäßig über den Tag verteilt eingenommen werden.

Die Tabletten sind viertelbar und mit ausreichend Flüssigkeit vorzugsweise während oder nach einer Mahlzeit einzunehmen (gastrointestinale Nebenwirkungen lassen sich durch die Einnahme unmittelbar nach den Mahlzeiten reduzieren).

Die Dauer der Anwendung richtet sich nach Art und Verlauf der Erkrankung und kann von einer kurzfristigen Gabe bis zur Dauermedikation reichen.

Das Absetzen einer Behandlung mit Biperiden sollte nicht abrupt, sondern schrittweise erfolgen.

Wirkmechanismus

Biperiden ist ein zentral wirksames Anticholinergikum, dessen anticholinerge Effekte in der Peripherie gering ausgeprägt sind (verglichen mit Atropin). Biperiden bindet kompetitiv an periphere und zentrale Muskarin-Rezeptoren (vornehmlich M1) und beeinflusst infolgedessen Zustandsbilder, die mit cholinerger Hyperaktivität im ZNS einhergehen (beispielsweise das Parkinsonsyndrom als striäres Dopamin-Mangel-Syndrom infolge neuronaler Degeneration oder entsprechende, durch Neuroleptika ausgelöste Symptome, die ebenfalls auf eine Störung der dopaminergen Neurotransmission in den Basalganglien zurückgeführt werden).

Das extrapyramidal-motorische System (EPMS) ist für die Steuerung des Muskeltonus und Ausführung der Motorik verantwortlich. Verschiedene Hirnareale sind dabei miteinander verschaltet, um Bewegungsabläufe durch Ausschüttung von Neurotransmittern im Striatum zu modulieren. Kortikostriatale Afferenzen sind vorwiegend glutamaterg, nigrostriatale Afferenzen dopaminerg. Darüber hinaus sind GABA und Acetylcholin im Verschaltungssystem beteiligt.

Acetylcholin hat dabei funktionell eine dopaminantagonisierende Wirkung. Kommt es durch neurodegenerative Prozesse zu einem Verlust dopaminerger Neurone in der Substantia nigra, resultiert daraus eine verminderte Dopaminausschüttung im Striatum. Folglich überwiegt der cholinerge Tonus im Striatum und löst direkt oder indirekt Änderungen im extrapyramidal-motorischen System und somit motorische Funktionsstörungen (Akinese, Rigor, posturale Instabilität) aus. Dieses Ungleichgewicht kann durch den anticholinergen Wirkstoff Biperiden ausgeglichen werden.

Pharmakokinetik

Resorption

  • Biperidenhydrochlorid wird nach oraler Einnahme von 4 mg mit einer Verzögerung von 27 Minuten schnell resorbiert.
  • Die maximale Plasmakonzentration (cmax) von 4-7 ng/mL wird nach 1-2 Stunden (tmax) erreicht.
  • Die orale Bioverfügbarkeit von Biperidenhydrochlorid liegt bei etwa 30%.

Verteilung

  • Biperiden liegt zu ca. 95% an Plasmaproteine gebunden vor.
  • Das scheinbare Verteilungsvolumen von Biperiden beträgt etwa 24 ± 4,1 L/k.
  • Biperiden ist gut gewebegängig mit einer Halbwertszeit der Gewebeverteilung von 0,6 Stunden und einem Verhältnis von Gesamtverteilungsvolumen zu zentralem Verteilungsvolumen von 9,6.

Metabolismus

  • Biperiden wird nahezu vollständig metabolisiert (unverändertes Biperiden wurde im Urin nicht nachgewiesen).
  • Der Hauptmetabolit entsteht durch Hydroxylierung am Bicycloheptanring (60%), daneben findet z. T. zusätzlich eine Hydroxylierung am Piperidinring (40%) statt.
  • Da Lebergewicht, Blutfluss und Leberenzymaktivität im Alter abnehmen können, ist bei älteren Patienten von einer geringeren Metabolisierungsrate von Biperiden in der Leber und damit von einer im Vergleich zu jüngeren Patienten erhöhten Bioverfügbarkeit auszugehen (in einer vergleichenden Studie wiesen ältere Patienten 3-5-fach höhere AUC-Werte und 2-fach längere Eliminationshalbwertszeiten auf als jüngere Probanden).

Elimination

  • Die zahlreichen Metaboliten (als Hydroxylierungsprodukte und deren Konjugate) werden ungefähr jeweils zur Hälfte über Harn und Fäzes ausgeschieden.
  • Die terminale Plasmaeliminationshalbwertszeit nach einmaliger oraler Gabe von Biperidenhydrochlorid an junge, gesunde Probanden liegt bei 11-24 Stunden, die Plasmaclearance bei 146 L/kg.
  • Im Steady State wurde eine Plasmaeliminationshalbwertszeit von 25 ± 9 Stunden gemessen.
  • Für ältere Patienten wurde nach einmaliger oraler Gabe eine terminale Eliminationshalbwertszeit von 30 ± 6 Stunden bestimmt, wobei die Eliminationshalbwertszeit im Steady State bei 39 ± 12 Stunden liegt.

Dosierung

Biperiden muss patientenindividuell dosiert werden. Dabei soll die Behandlung mit der niedrigsten Dosis begonnen und dann bis zu der für den Patienten günstigsten Dosis gesteigert werden.

Vor einer Umstellung auf Retardtabletten muss zunächst die im Einzelfall günstigste Dosis mit schnell freisetzenden Tabletten ermittelt werden, abhängig vom therapeutischen Effekt und den Nebenwirkungen. Hierbei ist zu beachten, dass die Umstellung auf die benötigte Wirkstoffmenge bei Anwendung der Retardtabletten nicht abrupt, sondern über einen Zeitraum von 10-20 Tagen erfolgen sollte.

Die nachfolgenden Dosierungen beziehen sich auf die Darreichungsform Tablette, sofern nicht explizit eine andere Darreichungsform erwähnt wird (z.B. Injektionslösung bei Vergiftungen).

Erwachsene

Parkinson-Syndrom:

  • Initial 2x 1 mg Biperidenhydrochlorid (entsprechend 2 mg Biperidenhydrochlorid/Tag) über den Tag verteilt.
  • Die Dosis kann täglich um 2 mg erhöht werden.
  • Als Erhaltungsdosis werden 3-4x täglich 1-4 mg Biperidenhydrochlorid (entsprechend 3-16 mg/Tag) eingenommen.
  • Die maximale Tagesdosis beträgt 16 mg Biperidenhydrochlorid.

Medikamentös bedingte extrapyramidale Symptome:

  • Zur Behandlung medikamentös bedingter extrapyramidaler Symptome wird begleitend zum Neuroleptikum 1-2 mg Biperidenhydrochlorid 2-3x täglich (entsprechend 2-6 mg Biperidenhydrochlorid/Tag), je nach Stärke der Symptome, eingenommen.
  • Nur für Biperiden 4 mg: Die Einstellung auf die anticholinerge Therapie anderer extrapyramidaler Bewegungsstörungen wie generalisierte und segmentale Dystonien, Meige-Syndrom, Blepharospasmus, Torticollis spasmodicus erfolgt langsam, durch wöchentliche Steigerung der Ausgangsdosis von 2 mg bis zur tolerierten Erhaltungsdosis, die auch die bei anderen Indikationen üblichen Höchstmengen um ein Mehrfaches übersteigen kann.

Nikotinvergiftung (Injektionslösung):

  • 5-10 mg Biperidenlactat (entsprechend 1-2 mL Injektionslösung) werden intramuskulär injiziert.
  • In Notfällen ist die intravenöse Injektion von 5 mg Biperidenlactat (entsprechend 1 mL Injektionslösung) zusätzlich zu den Standardmaßnahmen angebracht.

Vergiftung mit organischen Phosphorverbindungen (Injektionslösung):

  • Im Falle einer Vergiftung durch organische Phosphorverbindungen wird Biperiden individuell dosiert.
  • Je nach Vergiftungsbild können 5 mg Biperidenlactat intravenös mehrmals bis zum Abklingen der Vergiftungszeichen injiziert werden.
  • Verschwinden die Symptome während der Injektion, sollte diese abgebrochen werden.

Kinder und Jugendliche

Medikamentös bedingte extrapyramidale Symptome:

  • Zur Behandlung medikamentös bedingter extrapyramidaler Symptome erhalten Kinder und Jugendliche von 3 bis 15 Jahren 1-2 mg Biperidenhydrochlorid 1-3x täglich (entsprechend 1-6 mg Biperidenhydrochlorid/Tag).

Ältere Patienten

  • Bei älteren Patienten ist eine vorsichtige Dosierung erforderlich.
  • Es sollte mit der niedrigsten Dosis begonnen werden und dann, je nach Ansprechen des Patienten, die Dosis langsam gesteigert werden.

Nebenwirkungen

Nebenwirkungen unter Biperiden treten besonders zu Beginn der Behandlung und bei zu rascher Dosissteigerung auf. Eine zentral erregende Wirkung ist häufig bei Patienten mit Hirnleistungsstörungen und kann eine Dosisreduktion erfordern.

Die Nebenwirkungen, die unter Biperiden auftreten können, sind primär anhand anticholinerger Effekte zu erklären. Dazu zählen:

  • Obstipation
  • Mundtrockenheit
  • Tachykardie
  • Akkommodationsstörungen
  • Mydriasis
  • Miktionsstörungen
  • Benommenheit
  • Verwirrtheit
  • Unruhe
  • Vermindertes Schwitzen

Wechselwirkungen

Insbesondere bei anticholinergen Wirkstoffen wie Biperiden sind Wechselwirkungen hinsichtlich potenzierender anticholinerger Effekte zu berücksichtigen. Die potenziellen Wechselwirkungen von Biperiden umfassen:

  • Andere anticholinerg wirksame Arzneimittel wie Psychopharmaka, Antihistaminika, Antiparkinsonmittel und Spasmolytika: Verstärkung der zentralen und peripheren (anticholinergen) Nebenwirkungen möglich
  • Chinidin: Verstärkung der anticholinergen Herz-Kreislauf-Wirkungen (insbesondere AV-Überleitung)
  • Levodopa: Verstärkung von Dyskinesien (generalisierte choreiforme Bewegungsstörungen wurden bei gleichzeitiger Anwendung von Biperiden und Levodopa/Carbidopa bei Patienten mit Morbus Parkinson beobachtet)
  • Neuroleptika: Verstärkung der durch Neuroleptika ausgelösten tardiven Dyskinesien
  • Alkohol: Verstärkung der Alkoholwirkung
  • Metoclopramid: Antagonisierung der gastrointestinalen Wirkungen von Metoclopramid (und wirkungsähnlichen Verbindungen) durch Anticholinergika wie Biperiden
  • Pethidin: Verstärkung der zentralnervösen Nebenwirkungen von Pethidin durch Anticholinergika

Kontraindikationen

Die Anwendung von Biperiden ist kontraindiziert bei:

  • Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff oder sonstige Bestandteile des Arzneimittels
  • Unbehandeltem Engwinkelglaukom
  • Mechanischen Stenosen im Magen-Darm-Trakt
  • Megakolon
  • Ileus

Schwangerschaft

Biperiden soll während der Schwangerschaft nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abschätzung angewendet werden, weil keine Erfahrungen mit der Anwendung in der Schwangerschaft vorliegen.

Stillzeit

Anticholinergika können die Milchbildung hemmen. Aufgrund der chemischen Struktur ist anzunehmen, dass Biperiden in die Muttermilch übergeht (daher wird Abstillen empfohlen).

Verkehrstüchtigkeit

Biperiden kann aufgrund der zentralnervösen und peripheren Nebenwirkungen auch bei bestimungsgemäßem Gebrauch das Reaktionsvermögen so weit verändern, dass die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme am Straßenverkehr oder zum Bedienen von Maschinen beeinträchtigt wird. Dies gilt in verstärktem Maße bei gleichzeitiger Anwendung zusammen mit anderen zentral wirksamen Arzneimitteln, Anticholinergika und insbesondere im Zusammenwirken mit Alkohol.

Anwendungshinweise

Anticholinerge Wirkungen

  • Zentralwirksame Anticholinergika wie Biperiden können zu einer erhöhten zerebralen Anfallsbereitschaft führen (bei Patienten mit erhöhter Krampfbereitschaft ist Biperiden vorsichtig zu dosieren).
  • Beim Auftreten von Harnverhalten sollte der Patient jeweils vor der Anwendung von Biperiden die Blase entleeren.
  • Vereinzelt kann Biperiden, insbesondere bei Patienten mit Prostatahypertrophie, zu Miktionsbeschwerden, seltener zu Harnverhaltung führen.
  • Der Augeninnendruck sollte regelmäßig kontrolliert werden (Vorsicht ist auch bei bestehenden Glaukomen geboten).
  • Biperiden darf bei Patienten mit Myasthenia gravis nur unter besonderer Vorsicht angewendet werden.
  • Bei Patienten, die unter Erkrankungen leiden, die zu Tachykardien führen können, ist Biperiden mit Vorsicht anzuwenden.
  • Tritt eine ausgeprägte Mundtrockenheit auf, lässt sich diese durch häufiges Trinken kleiner Flüssigkeitsmengen oder durch Kauen von zuckerfreiem Kaugummi bessern.

Vorsichtsmaßnahmen bei individuellen Patientengruppen

  • Bei älteren Patienten, insbesondere solchen mit hirnorganischer Symptomatik, ist eine vorsichtige Dosierung erforderlich.
  • Ältere Patienten, insbesondere solche mit hirnorganischen Veränderungen vaskulärer oder degenerativer Art, weisen häufig schon gegenüber therapeutischen Dosen des Wirkstoffes eine erhöhte Empfindlichkeit auf.
  • Die Erfahrungen mit Biperiden bei Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahren sind begrenzt und erstrecken sich in erster Linie auf die zeitlich befristete Anwendung bei medikamentös ausgelösten Dystonien (z.B. durch Neuroleptika oder Metoclopramid und analoge Verbindungen), die als Nebenwirkungen oder Intoxikationssymptome auftreten können.
  • Durch die Einnahme von Biperiden können Gedächtnisstörungen hervorgerufen werden.

Alternativen

Die Pharmakotherapie des Parkinson-Syndroms orientiert sich primär an patientenindividuellen Faktoren (Kardinalsymptome, Begleitsymptome, Begleitmedikation).

Die alternativen Wirkstoffe umfassen:

Weitere Informationen sind der jeweiligen Fachinformation zu entnehmen.

Wirkstoff-Informationen

Molare Masse:
311.46 g·mol-1
Mittlere Halbwertszeit:
ca. 24.0 H
Q0-Wert:
1.0
Autor:
Stand:
11.08.2022
Quelle:
  1. Gelbe Liste: Fachinformation
  2. Neuraxpharm: Fachinformation Injektionslösung
  3. Desma Pharma: Akineton Retardtablette
  4. Freissmuth et al., Pharmakologie und Toxikologie, 2020, Springer
  5. Mutschler et al., Mutschler Arzneimittelwirkungen, 2019, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart
  6. AWMF: Kurzversion S3 Leitlinie Idiopathisches Parkinson-Syndrom
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