Crizanlizumab
Crizanlizumab ist ein monoklonaler Antikörper, der sich gegen das Adhäsionsmolekül P-Selektin richtet und zur Prävention wiederkehrender vasookklusiver Krisen bei Patienten mit Sichelzellkrankheit eingesetzt wird.
Crizanlizumab: Übersicht
Anwendung
Der monoklonale Antikörper Crizanlizumab (Adakveo) ist indiziert zur Prävention wiederkehrender vasookklusiver Krisen (VOCs) bei Patienten ab 16 Jahren mit Sichelzellkrankheit (SCD).
Crizanlizumab kann dabei als Zusatztherapie zu Hydroxyurea/Hydroxycarbamid (HU/HC) appliziert werden oder als Monotherapie bei Patienten, bei denen die Anwendung von HU/HC nicht geeignet oder unzureichend ist.
Anwendungsart
Im Allgemeinen sollte die Behandlung von Ärzten eingeleitet werden, die Erfahrung im Umgang mit der Sichelzellkrankheit haben.
Crizanlizumab ist als Konzentrat zur Herstellung einer Infusionslösung erhältlich (10 mg/mL, farblos bis leicht bräunlich-gelb) und sollte vor der Anwendung mit Natriumchlorid-9-mg/mL-(0,9 %)-Injektionslösung oder Glucose 5% verdünnt werden.
Die verdünnte Lösung muss als intravenöse Infusion über einen Zeitraum von 30 Minuten appliziert werden, wobei ein steriler, pyrogenfreier Inline-Filter mit 0,2 Mikrometer Porengröße anzuwenden ist. Sie darf weder als intravenöse Druck- noch als Bolusinjektion verabreicht werden.
Wirkmechanismus
Crizanlizumab ist ein humanisierter monoklonaler IgG2κ-Antikörper, was durch die Endung „zumab“ gekennzeichnet wird. Der Antikörper bindet spezifisch und mit hoher Affinität an das Adhäsionsmolekül P-Selektin, wodurch die Interaktion mit dessen Liganden einschließlich P-Selektin-Glykoprotein-Ligand-1 (PSGL-1) verhindert wird. Darüber hinaus kann Crizanlizumab die Dissoziation bereits geformter P-Selektin/PSGL-1-Komplexe induzieren.
Das Adhäsionsmolekül P-Selektin wird beispielsweise auf aktivierten Endothelzellen und Thrombozyten exprimiert, wo es eine elementare Rolle bei der initialen Rekrutierung von Leukozyten und der Thrombozytenaggregation am Ort einer Gefäßverletzung während einer Entzündung einnimmt.
P-Selektin wird im chronisch entzündungsfördernden Zustand, der mit der Sichelzellkrankheit einhergeht, überexprimiert (bei Patienten mit Sichelzellkrankheit werden erhöhte Spiegel von P-Selektin nachgewiesen). Folglich werden zirkulierende Blutzellen sowie das Endothelium aktiviert und hyperadhäsiv. Die durch P-Selektin vermittelte multizelluläre Adhäsion ist ein Schlüsselfaktor in der Pathogenese der Vasookklusion und der vasookklusiven Krisen (VOC).
Durch selektive Bindung an P-Selektin auf der Oberfläche des aktivierten Endothels und der Thrombozyten kann Crizanlizumab die Interaktionen zwischen Endothelzellen, Thrombozyten, Erythrozyten und Leukozyten wirksam blockieren und so eine Vasookklusion verhindern.
Pharmakokinetik
Resorption
- Die mediane Zeit bis zum Erreichen der maximalen Serumkonzentration (tmax) von Crizanlizumab beträgt im Steady State nach 30-minütiger intravenöser Infusion von 5 mg/kg bei Patienten mit Sichelzellkrankheit 1,92 Stunden.
Verteilung
- Die Verteilung von Crizanlizumab im Gefäßsystem und Extrazellularraum ist typisch für endogene humane Antikörper.
- Das Verteilungsvolumen (Vz) nach einer einzelnen 5 mg/kg intravenösen Infusion von Crizanlizumab bei gesunden Freiwilligen beträgt 4,26 Liter.
Metabolismus
- Antikörper werden primär über Proteolyse durch lysosomale Enzyme in der Leber zu kleinen Peptiden und Aminosäuren abgebaut.
Elimination
- Bei gesunden Freiwilligen liegt bei Crizanlizumab-Dosen von 5 mg/kg die mittlere terminale Eliminationshalbwertszeit (t1/2) bei 10,6 Tagen und die mittlere Clearance bei 11,7 mL/h.
- Bei Patienten mit Sichelzellkrankheit liegt während des Dosierungsintervalls die mittlere Eliminationshalbwertszeit bei 11,2 Tagen.
Linearität/Nicht-Linearität
- Die Exposition mit Crizanlizumab (mittlere cmax, AUClast oder AUCinf) steigt bei gesunden Freiwilligen über den Dosisbereich von 0,2 bis 8 mg/kg in nichtlinearer Weise an.
Dosierung
Empfohlene Dosis
- 5 mg/kg appliziert über einen Zeitraum von 30 Minuten als intravenöse Infusion in Woche 0, Woche 2 und danach alle 4 Wochen
- Monotherapie oder gemeinsam mit HU/HC
Verspätete oder versäumte Dosen
- Wenn eine Dosis versäumt wurde, sollte die Behandlung so bald wie möglich durchgeführt werden.
- Wird Crizanlizumab innerhalb von 2 Wochen nach der ausgelassenen Dosis appliziert, sollte die Dosisgabe entsprechend des ursprünglichen Dosierungsschemas des Patienten fortgesetzt werden.
- Wird Crizanlizumab mehr als 2 Wochen nach der ausgelassenen Dosis appliziert, sollte die Dosisgabe danach alle 4 Wochen fortgesetzt werden.
Umgang mit infusionsbedingten Reaktionen
- Leichte (Grad 1) bis mäßige (Grad 2) infusionsbedingte Reaktionen: Vorübergehende Unterbrechung oder Reduzierung der Infusionsgeschwindigkeit, Einleitung einer symptomatischen Behandlung (z.B. NSARs und/oder Antihistaminika) sowie bei nachfolgenden Infusionen Prämedikation und/oder langsamere Infusionsgeschwindigkeit in Betracht ziehen
- Schwere (≥ Grad 3) infusionsbedingte Reaktionen: Abbruch der Behandlung mit Crizanlizumab und Einleitung einer symptomatischen Behandlung (z.B. NSARs und/oder Antihistaminika)
Patientenindividuelle Dosierung
- Ältere Patienten: Crizanlizumab wurde nicht bei älteren Patienten untersucht, wobei eine Dosisanpassung nicht erforderlich ist, da die Pharmakokinetik von Crizanlizumab bei Erwachsenen nicht durch das Alter beeinflusst wird.
-
Nierenfunktionsstörung: Auf der Basis der Ergebnisse der Populationspharmakokinetik (PK) ist bei Patienten mit leichter oder
moderater Nierenfunktionsstörung keine Dosisanpassung erforderlich, wohingegen die Daten von Patienten mit schwerer Nierenfunktionsstörung zu begrenzt sind, um Rückschlüsse für diese Population ableiten zu können. - Leberfunktionsstörung: Die Sicherheit und Wirksamkeit von Crizanlizumab bei Patienten mit Leberfunktionsstörung ist nicht erwiesen. Da Crizanlizumab ein monoklonaler Antikörper ist und katabolisch eliminiert wird (Abbau in Peptide und Aminosäuren), wird eine Dosisänderung bei Patienten mit Leberfunktionsstörung nicht als erforderlich angesehen.
- Kinder und Jugendliche: Die Sicherheit und Wirksamkeit von Crizanlizumab bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 Monaten bis 16 Jahren ist nicht erwiesen (keine Daten). Es gibt im Anwendungsgebiet der Prävention von wiederkehrenden vasookklusiven Krisen keinen relevanten Nutzen von Crizanlizumab bei Säuglingen jünger als 6 Monate.
Nebenwirkungen
Die am häufigsten berichteten unerwünschten Arzneimittelwirkungen (bei ≥ 10% der Patienten) in der Crizanlizumab 5-mg/kg-Gruppe waren:
- Arthralgie
- Übelkeit
- Rückenschmerzen
- Fieber
- Abdominalschmerz
Diese unerwünschten Arzneimittelwirkungen können zusammen mit Myalgien,
muskuloskelettalen Brustschmerzen und Diarrhö Anzeichen und Symptome einer infusionsbedingten Reaktion sein, wenn sie während der Infusion oder innerhalb von 24 Stunden nach einer Infusion beobachtet werden.
Schwere Ereignisse wurden bei Fieber und Arthralgie berichtet (jeweils 0,9%). Schwere Schmerzereignisse im Rahmen von infusionsbedingten Reaktionen wurden nach der Markteinführung berichtet.
Weitere häufige Nebenwirkungen umfassen:
- Schmerzen im Oropharynx
- Diarrhö
- Erbrechen
- Pruritus
- Myalgie
- Muskuloskelettalen Brustschmerzen
- Reaktionen an der Infusionsstelle
- Infusionsbedingte Reaktionen
Wechselwirkungen
Wechselwirkungen zwischen Crizanlizumab und anderen Arzneimitteln wurden nicht in entsprechenden Studien untersucht.
Da monoklonale Antikörper nicht durch Cytochrom-P450-Enzyme verstoffwechselt werden, ist nicht zu erwarten, dass Arzneimittel, die Substrate, Inhibitoren oder Induktoren dieser Enzyme sind, einen Einfluss auf die Pharmakokinetik von Crizanlizumab haben.
In klinischen Studien zeigten HU/HC bei Patienten keine Wirkung auf die Pharmakokinetik von Crizanlizumab.
Aufgrund der Stoffwechselwege von monoklonalen Antikörpern ist generell keine Wirkung auf die Exposition von gemeinsam angewendeten Arzneimitteln zu erwarten.
Kontraindikationen
Crizanlizumab ist kontraindiziert bei:
- Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff oder sonstige Bestandteile des Arzneimittels
- Überempfindlichkeit gegen Bestandteile der Ovarialzellen des chinesischen Hamsters (CHO-Zellen)
Schwangerschaft
Bisher liegen nur sehr begrenzte Erfahrungen mit der Anwendung von Crizanlizumab bei Schwangeren vor. Auf der Grundlage von Daten aus Tierversuchen hat Crizanlizumab das Potenzial, Fetusverluste zu verursachen, wenn es einer schwangeren Frau appliziert wird. Aus Vorsichtsgründen soll daher eine Anwendung während der Schwangerschaft und bei Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, vermieden werden.
Um die Auswirkungen bei schwangeren Frauen besser bestimmen zu können, wird das medizinische Fachpersonal aufgefordert, alle Schwangerschaften und Komplikationen während der Schwangerschaft (ab 105 Tage vor der letzten Menstruation) dem örtlichen Vertreter des pharmazeutischen Unternehmers zu melden (siehe Packungsbeilage), um eine Überwachung dieser Patientinnen durch das Pregnancy outcomes Intensive Monitoring Programm (PRIM) zu ermöglichen. Darüber hinaus sollten alle unerwünschten Schwangerschaftsereignisse über das nationale Meldesystem angezeigt werden.
Stillzeit
Es ist nicht bekannt, ob Crizanlizumab nach der Anwendung in die Muttermilch übergeht. Außerdem liegen keine Daten zu den Auswirkungen von Crizanlizumab auf das gestillte Neugeborene/Kind oder auf die Milchproduktion vor.
Da viele Arzneimittel, darunter auch Antikörper, mit der Muttermilch ausgeschieden werden können, ist ein Risiko für das Neugeborene/Kind nicht auszuschließen. Aus diesem Grund muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, ob das Stillen zu unterbrechen ist oder ob die Behandlung mit Crizanlizumab zu unterbrechen ist. Dabei ist sowohl der Nutzen des Stillens für das Kind als auch der Nutzen der Therapie für die Frau zu berücksichtigen.
Verkehrstüchtigkeit
Crizanlizumab kann einen geringen Einfluss auf die Verkehrstüchtigkeit und die Fähigkeit zum Bedienen von Maschinen haben, da Schwindel, Müdigkeit und Schläfrigkeit nach Applikation von Crizanlizumab auftreten können.
Anwendungshinweise
Rückverfolgbarkeit
- Um die Rückverfolgbarkeit biologischer Arzneimittel zu verbessern, müssen die Bezeichnung des Arzneimittels und die Chargenbezeichnung des angewendeten Arzneimittels eindeutig dokumentiert werden.
Infusionsbedingte Reaktionen
- In klinischen Studien wurden infusionsbedingte Reaktionen (definiert als Reaktionen, die während der Infusion oder innerhalb von 24 Stunden nach der Infusion auftraten) bei 3 Patienten (2,7%), die mit 5 mg/kg Crizanlizumab behandelt wurden, beobachtet.
- Nach der Markteinführung wurden Fälle von infusionsbedingten Reaktionen berichtet, einschließlich schwerer Schmerzereignisse, die sich in Ort, Schweregrad und/oder Art vom Ausgangszustand des Patienten unterschieden und in einigen Fällen einen Krankenhausaufenthalt erforderten.
- Die Mehrzahl dieser infusionsbedingten Reaktionen trat während der Infusion oder innerhalb weniger Stunden nach Abschluss der ersten oder zweiten Infusion auf (es wurde jedoch auch über später einsetzende schwere Schmerzereignisse berichtet, die nach vorhergehenden gut vertragenen Infusionen auftraten).
- Bei einigen Patienten traten auch Folgekomplikationen wie akutes Thoraxsyndrom und Fettembolie auf, insbesondere bei Patienten, die mit Steroiden behandelt wurden.
- Patienten sind auf Anzeichen und Symptome von infusionsbedingten Reaktionen zu überwachen und hinzuweisen (hierzu können Schmerzen an verschiedenen Stellen, Kopfschmerzen, Fieber, Schüttelfrost, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Ermüdung, Schwindelgefühl, Pruritus, Urtikaria, Schwitzen, Kurzatmigkeit oder Giemen gehören).
- Im Falle einer schweren infusionsbedingten Reaktion sollte Crizanlizumab abgesetzt und eine geeignete Therapie eingeleitet werden.
- Vorsicht ist geboten mit Kortikosteroiden bei Patienten mit Sichelzellkrankheit, es sei denn, es ist klinisch indiziert (z.B. Behandlung von Anaphylaxie).
Beeinträchtigung von Laboruntersuchungen (automatisierte Bestimmung der Thrombozytenzahl)
- In klinischen Studien wurden bei mit Crizanlizumab behandelten Patienten Beeinträchtigungen bei der automatisierten Bestimmung der Thrombozytenzahl (Verklumpung der Thrombozyten) beobachtet, insbesondere wenn EDTA(Ethylendiamintetraessigsäure)-Röhrchen verwendet wurden (dies kann zu nicht auswertbaren oder fälschlicherweise erniedrigten Thrombozytenzahlen führen).
- Es liegen keine Hinweise vor, dass Crizanlizumab in vivo eine Verringerung der zirkulierenden Thrombozyten verursacht oder eine fördernde Wirkung auf die Aggregation hat.
- Um eine mögliche Beeinträchtigung von Laboruntersuchungen abzuschwächen, wird empfohlen, die Untersuchung so schnell wie möglich durchzuführen (innerhalb von 4 Stunden nach Blutprobenentnahme) oder Citrat-Röhrchen zu verwenden.
- Bei Bedarf kann die Thrombozytenzahl mittels eines peripheren Blutausstrichs geschätzt werden.
Alternativen
Die medikamentösen Therapiealternativen richten sich nach dem Indikationsgebiet bzw. den krankheitsbedingten Symptomen und sind darüber hinaus abhängig von patientenindividuellen Faktoren wie dem Alter der Patienten, Komorbiditäten oder dem Schweregrad der Erkrankung.
Schmerzen (unter anderem durch VOCs) sind das mit Abstand häufigste Symptom der Sichelzellkrankheit. Sie dominieren in allen Altersklassen das klinische Bild, weshalb die Angabe von Schmerzen in diesem Zusammenhang niemals bagatellisiert und eine geeignete Schmerztherapie eingeleitet werden sollte.
Bisher stehen diese Alternativen als langfristige Therapiekonzepte bei SCD zur Verfügung:
- Hydroxyurea/Hydroxycarbamid (HU/HC)
- Transfusionen
- Stammzelltherapie
- Gentherapie
- Voxelotor
- EMA: Fachinformation Crizanlizumab
- Freissmuth et al., Pharmakologie und Toxikologie, 2020, Springer
- Mutschler et al., Mutschler Arzneimittelwirkungen, 2019, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart
- AWMF: S2k-Leitlinie Sichelzellkrankheit (2020)