Digitoxin
Digitoxin ist wie Digoxin ein Wirkstoff aus der Gruppe der Herzglykoside und wird aus den Blättern des Fingerhuts (Digitalis) gewonnen. Medikamente mit Digitoxin werden vor allem angewendet zur Behandlung von Patienten mit Herzinsuffizienz, die unter Vorhofflimmern mit hoher Herzfrequenz leiden.
Digitoxin: Übersicht

Anwendung
Das Herzglykosid Digitoxin kann aus den Blättern des Fingerhuts (Digitalis) gewonnen oder chemisch synthetisiert werden. Digitoxin wird angewendet, um den Herzschlag bei Herzrhythmusstörungen zu normalisieren und den Herzmuskel bei Herzinsuffizienz zu stärken. Digitoxin wird außerdem zur symptomatischen Behandlung aller Formen der Asthenopie, muskulärer, akkomodativer oder nervöser Art am Auge angewendet.
Herzglykoside werden hauptsächlich bei fortgeschrittenen Herzinsuffizienz-Stadien (NYHA-Stadien 3 und 4) angewendet, wenn andere Herzinsuffizienz-Medikamente die Beschwerden nicht ausreichend lindern. NYHA-Stadien 1 und 2 können mit Digoxin oder Digitoxin behandelt werden, wenn zusätzlich starke Herzrhythmusstörungen auftreten, die durch Vorhofflimmern ausgelöst werden.
Wirkmechanismus
Digitoxin ist ein langwirkendes Glykosid (Cardenolid). Der kardiale Effekt des Digitoxins ist gekennzeichnet durch:
1. eine positiv inotrope Wirkung (gesteigerte Kontraktionskraft und -geschwindigkeit bei verzögerter Relaxationszeit)
2. eine negativ chronotrope Wirkung (Abnahme der Schlagfrequenz)
3. eine negativ dromotrope Wirkung (Verzögerung der Erregungsleitung) und
4. eine positiv bathmotrope Wirkung (gesteigerte Erregbarkeit, besonders im Bereich der Kammermuskulatur)
Die pharmakodynamischen Effekte von Digitoxin können bis zu 21 Tagen anhalten. Die primäre Digitoxin-Wirkung beruht auf der spezifischen Hemmung der Adenosintriphosphatase und damit des aktiven Transports von Natrium/Kalium-Ionen (Na+/K+). Durch die resultierende veränderte Ionenverteilung an der Membran kommt es zu einem vermehrten Einstrom von Calcium-Ionen und damit einer Zunahme an verfügbarem Calcium zum Zeitpunkt der elektromechanischen Kopplung. Die Wirksamkeit von Digitoxin kann daher verstärkt sein, wenn die extrazelluläre Kalium-Konzentration niedrig ist; demgegenüber hat eine Hypokalziämie den umgekehrten Effekt.
Die Hemmung des Na+/K+-Austausches führt zu einer Reduktion der Impulsüberleitungsrate im Vorhof und dem AV-Knoten und einer Sensibilisierung der Karotissinusnerven. Indirekt resultieren Veränderungen der kardialen Kontraktilität auch aus der veränderten venösen Dehnbarkeit, die durch den veränderten vegetativen Tonus und die direkte venöse Wirkung hervorgerufen wird.
Pharmakokinetik
Resorption
Die Bioverfügbarkeit von Digitoxin nach oraler Applikation liegt bei 98-100%.
Verteilung
Die Plasmaproteinbindung von Digitoxin liegt bei etwa 90-97%. Der Anteil der freien Digitoxinfraktion im Plasma beträgt bei Dauerbehandlung Nierengesunder etwa 0,8 ng/ml. Das Verteilungsvolumen variiert interindividuell zwischen 0,4 und 1 l/kg. Digitoxin unterliegt einem enterohepatischen Kreislauf.
Metabolsimus
Etwa 2% des Gesamtdigitoxins werden in der Leber zu Digoxin hydroxyliert, der größte Teil wird zu Digitoxigenin nach schrittweiser Abspaltung der Digitoxosen epimerisiert und anschließend sulfatiert oder glukuronidiert.
Elimination
Bei leber- und nierengesunden Patienten werden ca. 60% über die Nieren, davon die Hälfte als konjugierte Metaboliten, und ca. 40% im Stuhl ausgeschieden. Die tägliche Abklingquote beträgt 7-10%. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt im Mittel 7-8 Tage. Alleinige Störungen der Nierenfunktion haben kaum einen Einfluss auf die Elimination von Digitoxin, da die reduzierte renale Elimination durch vermehrte Metabolisierung und fäkale Elimination kompensiert wird. Bei gleichzeitiger Leber- und Niereninsuffizienz muss mit erhöhten Digitoxin-Plasmaspiegeln gerechnet werden. Eine Dialyse eliminiert Digitoxin nur geringfügig, da der größte Teil des Digitoxins an Plasmaproteine gebunden ist.
Dosierung
Wegen der geringen therapeutischen Breite von Digitoxin ist eine sorgfältig überwachte Einstellung auf die individuelle therapeutische Dosis notwendig.
Die Höhe der individuellen Dosierung hängt vom Glykosidbedarf sowie von der Eliminationsgeschwindigkeit ab und sollte individuell - vor allem nach dem Behandlungserfolg - festgelegt werden. Eine tägliche Erhaltungsdosis von 1 μg (= 0,001 mg) Digitoxin/kg Körpergewicht ist in der Regel ausreichend, um therapeutische Serum-Digitoxin-Konzentrationen zu erreichen.
Nebenwirkungen
Sehr häufig (≥ 1/10) treten folgende unerwünschten Arzneimittelwirkungen bei der Digitoxin-Therapie auf:
- Jede Form von Herzrhythmusstörungen, insbesondere Extraschläge, die von den Herzkammern ausgehen (Extrasystolen), Kammertachykardien (Bigeminie/Trigeminie = Doppel-/Dreifachschläge)
- Schnelle Schlagfolge der Vorhöfe (Vorhoftachykardien) (bei sehr hoher Dosierung)
- Erregungsleitungsstörungen zwischen Herzvorhof und Herzkammer (AV-Block I.-III. Grades)
- Störungen der Herzschlagfolge (z. B. Bradykardie).
Bei der Anwendung von Digitoxin ist zu beachten, dass auftretende Nebenwirkungen auch Symptome einer Überdosierung sein können.
Wechselwirkungen
Mit folgenden Arzneimitteln kann eine Wirkungsverstärkung von Digitoxin auftreten:
- Calcium (darf nicht i.v. injiziert werden) ➔ Verstärkung der Glykosidtoxizität
- Arzneimittel, die die Elektrolyt-Homöostase beeinflussen, wie z. B. Diuretika (gerade im Hinblick auf Kaliuretika), Laxantien (Abusus), Benzylpenicillin, Amphotericin B, Carbenoxolon, Korticosteroide, ACTH (Adrenocortikotropes Hormon), Salicylate, Lithiumsalze ➔ Verstärkung der Glykosidtoxizität durch medikamentös bedingte Hypokaliämie bzw. Hypomagnesiämie
- CYP3A-Inhibitoren, wie bestimmte Antibiotika (z. B. Makrolide), bestimmte Antimykotika (z. B. Itraconazol), Steroidhormone (z. B. Prednison, Danazol), bestimmte Antidepressiva (z. B. Fluoxetin), Proteaseinhibitoren (z. B. Indinavir, Ritonavir), Calciumkanalantagonisten (z. B. Verapamil, Nifedipin, Diltiazem) oder bestimmte Antiarrhythmika (z. B. Amiodaron) ➔ Erhöhung der Digitoxinserumkonzentration
- P-Glykoprotein-Inhibitoren, wie bestimmte Antibiotika (z. B. Makrolide, Tetrazykline) oder Chinidin ➔ Erhöhung der Digitoxin-Serumkonzentration
- Antibiotika, die den Abbau von Digitoxin durch E. lentum hemmen (dies trifft nur für 10% der Bevölkerung zu), wie Makrolide, Carbapeneme und Beta-Lactamantibiotika ➔ Erhöhung der Digitoxinserumkonzentration
- Beta-Blocker ➔ Verstärkung der bradykardisierenden Wirkung
- Muskelrelaxantien (z. B. Suxamethoniumchlorid, Pancuronium), Reserpin, trizyklische Antidepressiva, Sympathomimetika, Phosphodiesterasehemmer (z. B. Theophyllin), Lithium (bei Patienten mit sinuatrialem Block) ➔ Begünstigung von Herzrhythmusstörungen
Mit folgenden Arzneimitteln kann eine Wirkungsabschwächung von Digitoxin ausgelöst werden:
- Kaliumspiegel erhöhende Arzneimittel (z. B. Spironolacton, Kaliumcanrenoat, Amilorid, Triamteren, Kaliumsalze) ➔ Verminderung der positiv inotropen Wirkung von Digitoxin und Begünstigung von Herzrhythmusstörungen
- Aktivkohle, Cholestyramin, Colestipol, Kaolin-Pektin, einige Füll- oder Quell-Laxantien ➔ Verminderung der Glykosidresorption durch Bindung bzw. Beschleunigung der Elimination durch Unterbrechung des enterohepatischen Kreislaufs. Die Einnahme von Digitoxin sollte deshalb 2 Stunden vorher erfolgen
- Induktoren von CYP3A oder P-Glycoprotein, wie z. B. Phenylbutazon, Phenytoin, Rifampicin, Rifabutin, Spironolacton, Barbiturate ➔ Erniedrigung der Digitoxinserumkonzentration
Kontraindikation
In folgenden Fällen ist die Anwendung von Digitoxin kontraindiziert:
- Überempfindlichkeit gegenüber Digitoxin und anderen herzwirksamen Glykosiden
- Verdacht auf Digitalisintoxikation
- Kammertachykardie oder Kammerflimmern
- AV-Block II. oder III. Grades, pathologischer Sinusknotenfunktion (ausgenommen bei Schrittmacher-Therapie)
- vorgesehener elektrischer Kardioversion
- akzessorischen, atrioventrikulären Leitungsbahnen (z. B. WPW-Syndrom) oder Verdacht auf solche
- Carotissinussyndrom
- Hypokaliämie
- Hyperkalzämie, Hypomagnesiämie
- hypertropher Kardiomyopathie mit Obstruktion (idiopathische hypertrophe Subaortenstenose)
- thorakalem Aortenaneurysma
- gleichzeitiger intravenöser Gabe von Calciumsalzen
Schwangerschaft
Während der Schwangerschaft ist die Patientin besonders sorgfältig zu überwachen und auf eine individuelle, bedarfsgerechte Dosierung zu achten. Bisherige Erfahrungen mit Digitalis-Glykosiden in therapeutischen Dosierungen während der Schwangerschaft haben keine Hinweise auf eine Schädigung des Embryos oder Föten ergeben. Während der letzten Wochen der Schwangerschaft kann der Glykosidbedarf ansteigen. Nach der Geburt ist dagegen häufig eine Dosisreduktion angezeigt. Nach Digitalis-Vergiftungen der Mutter wurde auch beim Föten über Intoxikationserscheinungen berichtet.
Stillzeit
Da Digitoxin in die Muttermilch übergeht, sollte unter Digitoxin-Therapie nicht gestillt werden.
Verkehrstüchtigkeit
Diigitoxin hat keinen Einfluss auf die Verkehrstüchtigkeit. Effekte etwaiger unerwünschter Arzneimittelwirkungen sind im Bezug auf die Verkehrstüchtigkeit allerdings zu beachten.
Wirkstoff-Informationen
[1] Medizinische Chemie, Steinhilber, Schubert-Zsilavecz, Roth
[2] Fachinformation Digimerck