Selpercatinib
Selpercatinib ist ein selektiver RET-Kinasehemmer, der zugelassen ist zur Behandlung von nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom (NSCLC), medullärem Schilddrüsenkarzinom oder anderen Formen von Schilddrüsenkrebs, wenn Mutationen oder Fusionen im RET-Gen nachgewiesen wurden.
Selpercatinib: Übersicht

Anwendung
Selpercatinib (Retsevmo) ist ein selektiver RET-Kinasehemmer und ist als Monotherapie indiziert zur Behandlung von Erwachsenen mit:
- fortgeschrittenem RET-Fusions-positivem nicht-kleinzelligen Lungenkarzinom (NSCLC), die eine systemische Therapie nach Platin-basierter Chemotherapie und/oder einer Behandlung mit Immuntherapie benötigen
- fortgeschrittenem RET-Fusions-positivem Schilddrüsenkarzinom, die eine systemische Therapie nach einer Behandlung mit Sorafenib und/oder Lenvatinib benötigen
Darüber hinaus wird Selpercatinib als Monotherapie angewendet zur Behandlung von Erwachsenen und Jugendlichen ab 12 Jahren mit fortgeschrittenem RET-mutierten medullären Schilddrüsenkarzinom (MTC), die eine systemische Therapie nach einer Behandlung mit Cabozantinib und/oder Vandetanib benötigen.
Anwendungsart
Selpercatinib ist zum Einnehmen bestimmt. Vor Beginn der Behandlung mit Retsevmo sollte das Vorhandensein einer RET-Gen Fusion (NSCLC und nicht-medulläres Schilddrüsenkarzinom) oder Mutation (MTC) durch einen validierten Test bestätigt werden.
- Bei gleichzeitiger Therapie mit einem Protonenpumpen-Inhibitor muss Retsevmo zusammen mit Nahrung eingenommen werden.
- Wird zusätzlich mit einem H2-Rezeptor-Antagonisten therapiert, sollte Retsevmo zwei Stunden vor oder zehn Stunden nach dessen Einnahme verabreicht werden.
Wirkmechanismus
Selpercatinib ist ein Inhibitor der RET-Rezeptor-Tyrosin-Kinase. Bestimmte Punktmutationen in RET oder chromosomale Rearrangements, wie z. B. in-frame RET-Fusionen mit verschiedenen Partnern, können zur Bildung von konstitutiv aktivierten, chimären RET-Fusionsproteinen führen, die als onkogene Treiber durch Förderung der Zellproliferation von Tumorzelllinien wirken können. Selpercatinib zeigte in vitro und in Tumormodellen Antitumor-Aktivität in Zellen, die eine konstitutive Aktivierung des RET-Proteins infolge von Genfusionen und Mutationen aufweisen, wie z. B. CCDC6-RET, KIF5B-RET, RET V804M, und RET M918T. Außerdem zeigte Selpercatinib bei Mäusen, denen intrakraniell ein vom Patienten stammender RET-Fusions-positiver Tumor implantiert wurde, eine Antitumor-Aktivität.
RET
RET steht für rearranged during transfection. Es handelt sich um eine transmembranäre Rezeptor-Protein-Tyrosinkinase, die auf der Oberfläche einer Reihe von Gewebetypen vorhanden ist, darunter das Nervensystem, das Nebennierenmark und die Schilddrüse. Änderungen des RET können zu Funktionsgewinn oder -verlust führen, wobei der RET-Funktionsverlust zu Erkrankungen wie der Hirschsprung-Krankheit führt. Eine abnormale RET-Aktivierung erfolgt durch zwei Mechanismen, die mit Malignität, Mutationen und Fusionen verbunden sind: Sowohl somatische als auch Keimbahn-RET-Mutationen wurden beschrieben und treten am häufigsten beim medullären Schilddrüsenkarzinom und bei Patienten mit multiplem endokrinen Neoplasie-Syndrom auf. Die Aktivierung von RET Punktmutationen tritt bei etwa 60 Prozent der Fälle von medullärem Schilddrüsenkarzinom auf. RET-Fusionen sind im Vergleich zu den Mutationen typischerweise bei nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC) vorhanden. RET-Fusionen treten bei ein bis zwei Prozent der NSCLC auf und bei 10 Prozent bis 20 Prozent der papillären und anderer Schilddrüsenkarzinome. Wie andere onkogene Treibermutationen bei Lungenkrebs sind Patienten mit RET-Fusionen typischerweise mit jüngerem Alter, weiblichem Geschlecht, Nichtrauchern und asiatischer Ethnizität assoziiert.
Dosierung
Die Dosierung von Selpercatinib richtet sich nach dem Gewicht des Patienten. Bei weniger als 50 kg beträgt die Dosierungsempfehlung 120 mg zweimal täglich. Ab 50 kg werden 160 mg zweimal täglich empfohlen. Wenn der Patient sich erbricht oder eine Dosis auslässt, sollte er angewiesen werden, die nächste Dosis wie ursprünglich geplant einzunehmen; eine zusätzliche Dosis sollte nicht eingenommen werden. Wird parallel ein starker CYP3A-Inhibitor angewendet sollte die jeweils vorgesehene Selpercatinib-Dosis um 50 Prozent reduziert werden.
Empfehlungen zur gewichtsabhängigen Dosisanpassung bei Nebenwirkungen von Retsevmo können der Fachinformation entnommen werden.
Nebenwirkungen
Unter der Anwendung von Selpercatinib kam es in der Zulassungsstudien sehr häufig (≥ 1/10) zu:
- Vermindertem Appetitt
- Kopfschmerzen, Schwindel
- QT-Intervall-Verlängerung
- Hypertonie
- Bauchschmerzen, Diarrhö,
- Übelkeit, Erbrechen
- Obstipation
- Mundtrockenheit
- Ausschlag
- Fieber, Fatigue, Ödeme
- Alaninaminotransferase (ALT), Aspartataminotransferase (AST) und Kreatinin erhöht
- Thrombozyten, Lymphozyten, Magnesium erniedrigt
- Hämorrhagie
Die häufigsten schwerwiegenden Nebenwirkungen (ADRs) sind Hypertonie (0.9%), erhöhte AST (1,6%) und erhöhte ALT (1,6%). 6,0% der Patienten brachen die Retsevmo-Behandlung wegen unerwünschter Ereignisse (unabhängig vom kausalen Zusammenhang) während der Studie dauerhaft ab. Zu den Nebenwirkungen, die zu einem dauerhaften Absetzen führten (2 oder mehr Patienten), gehörten erhöhte ALT-Werte (0,4%), erhöhte AST-Werte (0,3%), Überempfindlichkeit (0,4%) und Thrombozytopenie (0,3%).
Wechselwirkungen
Folgende Wechselwirkungen sind bei der Therapie mit Selpercatinib zu beachten
- Selpercatinib wird über CYP3A4 metabolisiert, weshalb Modulatoren von CYP3A4 die Pharmakokinetik von Selpercatinib verändern können.
- Wenn starke CYP3A- und/oder P-gp-Inhibitoren gleichzeitig verabreicht werden, sollte die Selpercatinib-Dosis reduziert werden.
- Der gleichzeitige Einsatz von starken CYP3A4-Induktoren, empfindlichen CYP2C8-Substraten oder empfindlichen CYP3A4-Substraten sollte vermieden werden.
- Selpercatinib ist ein in vitro Inhibitor von P-gp und BCRP. Bei Einnahme eines P-gp-Substrates sollte Vorsicht geboten sein
- Bei gleichzeitiger Therapie mit einem Protonenpumpen-Inhibitor muss Retsevmo zusammen mit Nahrung eingenommen werden.
- Wird zusätzlich mit einem H2-Rezeptor-Antagonisten therapiert, sollte Retsevmo zwei Stunden vor oder zehn Stunden nach dessen Einnahme verabreicht werden.
Kontraindikation
Selpercatinib darf nicht angewendet werden bei Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff oder einen der genannten sonstigen Bestandteile.
Schwangerschaft/Stillzeit
Schwangerschaft
Es liegen keine Daten zur Anwendung von Selpercatinib bei Schwangeren vor. Tierstudien haben eine Reproduktionstoxizität gezeigt. Der Einsatz in der Schwangerschaft und bei gebärfähigen Frauen ohne Anwendung eines Verhütungsmittels wird daher nicht empfohlen. Selpercatinib darf während der Schwangerschaft nur angewendet werden, wenn der potentielle Nutzen das potentielle Risiko für den Fötus rechtfertigt.
Stillzeit
Es ist nicht bekannt, ob Selpercatinib in die Muttermilch übergeht. Ein Risiko für gestillte Neugeborene/Kleinkinder kann nicht ausgeschlossen werden. Das Stillen sollte während der Behandlung mit Selpercatinib und für mindestens eine Woche nach der letzten Dosis eingestellt werden.
Verkehrstüchtigkeit
Selpercatinib kann geringen Einfluss auf die Verkehrstüchtigkeit und die Fähigkeit zum Bedienen von Maschinen haben, da während der Behandlung Müdigkeit oder Schwindel auftreten können.
Anwendungshinweise
Erhöhte Alaninaminotransferasen (ALT)/ Aspartataminotransferasen (AST)
Bei Selpercatinib-Patienten wurden Anstiege der ALT- und/oder AST-Werte auf Grad ≥ 3 beobachtet, weshalb diese wie folgt überprüft werden sollten:
- vor Beginn der Selpercatinib-Therapie
- alle 2 Wochen während der ersten 3 Monate der Behandlung,
- monatlich für die nächsten 3 Monate der Behandlung
- wenn klinisch indiziert.
Basierend auf der Höhe des ALT- oder AST-Anstiegs kann eine Selpercatinib Dosisanpassung erforderlich werden.
Hypertonie
Da es während der Behandlung mit Selpercatinib zu Hypertonie kommen kann, sollte der Blutdruck vor und während der Selpercatinib-Behandlung überwacht und je nach Notwendigkeit mit einer antihypertensiven Standardtherapie behandelt werden. Basierend auf der Erhöhung des Blutdrucks kann eine Selpercatinib-Dosisanpassung erforderlich sein. Wenn eine klinisch relevante Hypertonie nicht mit einer antihypertensiven Therapie kontrolliert werden kann, sollte Selpercatinib dauerhaft abgesetzt werden.
QT-Intervall-Verlängerung
Selpercatinib sollte bei Patienten mit angeborenem oder erworbenem Long-QT-Syndrom oder anderen klinischen Erkrankungen, die Arrhythmien prädisponieren, vorsichtig eingesetzt werden, da unter der Selpercatinib-Behandlung Fälle von QT-Intervall-Verlängerung beschrieben wurden. Bevor eine Selpercatinib-Therapie begonnen wird, sollten Patienten ein QTcF-Intervall von ≤ 470 ms und Serum-Elektrolyte im Normbereich aufweisen. Elektrokardiogramme und Serum-Elektrolyte sollten bei allen Patienten wie folgt überwacht werden:
- nach einer Woche Selpercatinib-Therapie
- mindestens monatlich für die ersten 6 Monate
- anderenfalls, wie klinisch indiziert
- angepasst an die Häufigkeit von Risikofaktoren wie Durchfall, Erbrechen und/oder Übelkeit
Vor Beginn und während der Behandlung von Selpercatinib sollte eine Hypokaliämie, Hypomagnesiämie und Hypokalzämie korrigiert werden. Möglicherweise sind Dosisunterbrechungen oder Anpassungen von Selpercatinib erforderlich.
Starke CYP3A4-Induktoren
Aufgrund des Risikos einer verminderten Wirksamkeit von Selpercatinib sollte eine gleichzeitige Anwendung von starken CYP3A4-Induktoren vermieden werden.
Frauen im gebärfähigen Alter/Kontrazeption bei Frauen und Männern
Frauen im gebärfähigen Alter müssen während der Behandung und für mindestens eine Woche nach der letzten Gabe von Selpercatinib eine sehr zuverlässige Methode zur Empfängnisverhütung anwenden. Männer mit Partnerinnen im gebärfähigen Alter sollten eine zuverlässige Methode zur Empfängnisverhütung während und für mindestens eine Woche nach der letzten Gabe von Selpercatinib anwenden.
Fertilität
Präklinische Sicherheitserkenntnisse weisen darauf hin, dass die männliche und weibliche Fertilität durch die Behandlung mit Selpercatinib beeinträchtigt werden kann. Sowohl Männer als auch Frauen sollten sich vor der Behandlung Rat bezüglich des Erhalts der Fertilität einholen.
Überempfindlichkeit
Unter der Anwendung von Selpercatinib kann es zu Überempfindlichkeitsreaktionen kommen. Diese wurden hauptsächlich bei NSCLC-Patienten mit einer vorangegangenen Anti-PD-1/PD-L1-Immuntherapie beobachtet. Anzeichen und Symptome einer Überempfindlichkeit beinhalteten Fieber, Hautausschlag und Gelenk- oder Muskelschmerzen mit gleichzeitig verminderten Blutplättchen oder erhöhten Aminotransferasen. Wenn eine Überempfindlichkeit auftritt, soll die Selpercatinib-Gabe unterbrochen und eine Behandlung mit Glukokortikoiden begonnen werden. Basierend auf der Schwere der Überempfindlichkeitsreaktion kann eine Dosisanpassung von Selpercatinib erforderlich sein.
Hämorrhagien
Es wurde über schwere einschließlich tödlicher hämorrhagischer Ereignisse bei Selpercatinib-Patienten berichtet. In diesem Fall muss Selpercatinib dauerhaft abgesetzt werden.
Alternativen
Neben Selpercatinib, gibt es noch einen weiteren selektiven RET-Kinasehemmer, Pralsetinib (Gavreto), der allerdings bisher nur durch die FDA zugelassen wurde.
Multi-Target-Kinasen, die auch eine hemmende Wirkung auf die RET-Kinase besitzen, sind:
Wirkstoff-Informationen
- Fachinformation Retsevmo
- Cancers: Rearranged During Transfection Fusions in Non-Small Cell Lung Cancer