Tolperison
Tolperison ist ein Wirkstoff aus der Gruppe der zentral wirksamen Muskelrelaxanzien, der vorwiegend zur symptomatischen Behandlung von Spasmen nach einem Schlaganfall angewendet wird.
Tolperison: Übersicht

Anwendung
Der muskelrelaxierende Wirkstoff Tolperison ist indiziert zur symptomatischen Behandlung der Spastizität nach einem Schlaganfall bei Erwachsenen.
Anwendungsart
Tolperison ist als Filmtablette (50 mg und 150 mg) erhältlich.
Dabei sollte die Filmtablette direkt nach den Mahlzeiten mit einem Glas Wasser eingenommen werden, denn eine unzureichende Nahrungsaufnahme kann die Bioverfügbarkeit von Tolperison mindern.
Wirkmechanismus
Der Wirkmechanismus des zentral wirksamen Muskelrelaxans Tolperison ist nicht vollständig aufgeklärt. Der Wirkstoff besitzt eine hohe Affinität zu Nervengewebe, wobei der Hirnstamm, das Rückenmark und das periphere Nervensystem die höchste Akkumulation aufweisen. Tolperison ähnelt strukturell dem Wirkstoff Lidocain und wirkt analog dem Lidocain über seine membranstabilisierende Aktivität. Tolperison reduziert dosisanhängig den Einstrom von Natriumionen durch isolierte Nervenmembranen, wobei sowohl die Amplitude, als auch die Frequenz von Aktionspotenzialen reduziert wird.
Darüber hinaus wird eine inhibitorische Wirkung auf spannungsabhängige Calciumkanäle angenommen, sodass Tolperison zusätzlich zu einem membranstabilisierenden Effekt möglicherweise auch die Freisetzung von Neurotransmittern reduziert.
Die Wirkung von Tolperison wird auf drei Ebenen entfaltet:
- Peripher: Tolperison stabilisiert die Zellmembran von Neuronen und unterdrückt in der Folge die Amplitude und Frequenz von Aktionspotenzialen. Damit werden pathologische periphere Schmerzimpulse, die von verschiedenen motorischen oder vegetativen Reflexen stammen und zu einem erhöhten Muskeltonus führen, unterdrückt.
- Zentral-spinal: Tolperison reduziert dosisabhängig mono- und polysynaptische Reflexe auf ein physiologisches Niveau (in verschiedenen Tiermodellen nachgewiesen).
- Zentral-retikulär: Ein Missverhältnis zwischen supraspinal bahnenden und inhibitorischen Neuronenaktivitäten kann ebenfalls zu einer gesteigerten Reflexaktivität und einem erhöhten Muskeltonus führen. Tolperison reduziert die retikulo-spinale Bahnung im Hirnstamm, wobei auch eine Wirksamkeit bei experimentell induziertem Gamma-Rigor retikulären Ursprungs nachgewiesen werden konnte.
Pharmakokinetik
Resorption
- Tolperison wird nach oraler Einnahme gut resorbiert.
- Die maximale Plasmakonzentration (cmax) wird 0,5-1 Stunde (tmax) nach Einnahme erreicht.
- Die Bioverfügbarkeit beträgt aufgrund des hohen First-Pass-Effektes etwa 20%.
- Nahrung steigert die Bioverfügbarkeit, weshalb eine Einnahme nach den Mahlzeiten empfohlen wird.
- Fettreiche Mahlzeiten steigern die Bioverfügbarkeit von oral angewendetem Tolperison um etwa 100% und die Spitzenkonzentration im Plasma um etwa 45% im Vergleich zur Nüchterneinnahme.
- Die Zeit bis zum Erreichen der Spitzenkonzentration verschiebt sich um etwa 30 Minuten.
Verteilung
- Tolperison hat ein relativ großes Verteilungsvolumen (5 L/kg KG).
- Die Gesamtbindungsrate des Tolperisonracemats an menschliche Plasmaproteine beträgt 95%.
- In tierexperimentellen Studien zur Verteilung war eine relative Akkumulation von Tolperison im Diencephalon, im Pons und der Medulla oblongata sowie in den Haupt-Eliminationsorganen wie Leber und Nieren zu beobachten.
Metabolismus
- Tolperison wird in erheblichem Ausmaß in der Leber (insbesondere CYP2D6) und den Nieren metabolisiert.
- Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Metaboliten pharmakologisch aktiv sind.
- Der Metabolismus ist NADPH-abhängig, da das Ausschalten dieses Coenzyms den Abbau von Tolperison vollständig verhindert.
- Es wurde gezeigt, dass in vitro sowohl P450-abhängige als auch P450-unabhängige mikrosomale Biotranformationsprozesse an der Verstoffwechselung von Tolperison beteiligt sind.
- Die Bildung des Hydroxymethyl-Metaboliten erwies sich als der durch P450 vermittelte Hauptabbauweg.
- CYP2D6 wurde im Stoffwechsel als Schlüsselenzym identifiziert, jedoch wurde auch eine Beteiligung von CYP2C19 und CYP1A2 festgestellt (allerdings zu einem geringeren Grad).
- Es wurde gezeigt, dass der P450-unabhängige Stoffwechselweg zu einem geringen Grad durch FMO3 vermittelt wird.
- Die ermittelten Metaboliten und Hinweise aus Inhibitionsstudien deuten auf eine umfangreiche Beteiligung der vermutlich mikrosomalen Carbonyl-Reduktase beim Metabolismus von Tolperison hin.
Elimination
- Tolperison und seine Metaboliten werden fast ausschließlich renal eliminiert.
- 98% der verabreichten Dosis werden innerhalb von 24 Stunden über den Urin ausgeschieden.
- Weniger als 0,1% der Dosis werden in unveränderter Form eliminiert.
- Nach Einnahme wurde die Eliminationshalbwertszeit von Tolperison beim Menschen mit etwa 2-4 Stunden berechnet (es besteht eine große interindividuelle Variabilität).
- Die Gesamtplasmaclearance beträgt 1,9±0,4 L/h/kg.
Dosierung
- Tagesdosis: 150-450 mg aufgeteilt auf 3 Einzeldosen (abhängig vom individuellen Bedarf und der Verträglichkeit)
- Eine Langzeittherapie über mehrere Monate oder Jahre ist auch ohne Dosisreduktion möglich.
- Patienten mit Niereninsuffizienz: Individuelle Dosistitration unter engmaschiger Überwachung des Patienten und dessen Nierenfunktion (die Anwendung von Tolperison wird bei starker Einschränkung der Nierenfunktion nicht empfohlen)
- Patienten mit Leberinsuffizienz: Individuelle Dosistitration unter engmaschiger Überwachung des Patienten und dessen Leberfunktion (die Anwendung von Tolperison wird bei starker Einschränkung der Leberfunktion nicht empfohlen)
Nebenwirkungen
Die am häufigsten von Nebenwirkungen betroffenen Systemorganklassen sind Haut und Unterhautzellgewebe, allgemeine Erkrankungen sowie neurologische und gastrointestinale Erkrankungen. Auch Überempfindlichkeitsreaktionen sind häufig, wobei diese in den meisten Fällen nicht schwerwiegend sind.
Darüber hinaus treten gelegentlich folgende Nebenwirkungen auf:
- Schwindel
- Müdigkeit und Abgeschlagenheit
- Übelkeit und Erbrechen
- Mundtrockenheit
- Bauchschmerzen
Wechselwirkungen
Tolperison wird insbesondere über CYP2D6 metabolisiert, wodurch sich einige potenzielle Wechselwirkungen ergeben.
Dies betrifft Wirkstoffe, die ebenfalls Substrate von CYP2D6 sind:
- Thioridazin
- Tolterodin
- Venlafaxin
- Atomoxetin
- Desipramin
- Dextromethorphan
- Metoprolol
- Nebivolol
- Perphenazin
In diesem Zusammenhang ist allerdings aufgrund der vielfältigen Abbauwege nicht mit einer erhöhten Verfügbarkeit von Tolperison zu rechnen.
Die Bioverfügbarkeit von Tolperison ist verringert, wenn die Einnahme nicht in Verbindung mit einer Mahlzeit erfolgt. Daher wird die regelmäßige Einnahme in Verbindung mit einer Mahlzeit empfohlen.
Basierend auf klinischen Studien kann geschlussfolgert werden, dass Tolperison die Wirkung von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) verstärkt.
Obwohl Tolpersion zentral wirksam ist, besitzt es ein nur geringes Sedierungspotenzial. Bei gleichzeitiger Anwendung anderer zentral wirksamer Muskelrelaxanzien ist eine Dosisreduktion von Tolperison in Erwägung zu ziehen.
Kontraindikationen
Die Anwendung von Tolperison ist kontraindiziert bei:
- Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff oder sonstige Bestandteile des Arzneimittels
- Myasthenia gravis
- Stillzeit
Schwangerschaft
In tierexperimentellen Studien zeigte Tolperison keine teratogenen Effekte. Da keine Studien zur Anwendung beim Menschen verfügbar sind, darf Tolperison während der Schwangerschaft (insbesondere im ersten Trimenon) nur angewendet werden, wenn der zu erwartende therapeutische Nutzen eindeutig gegenüber dem Risiko für den Fetus überwiegt.
Stillzeit
Es ist nicht bekannt, ob Tolperison in die Muttermilch übergeht. Aus diesem Grund darf der Wirkstoff nicht während der Stillzeit angewendet werden.
Verkehrstüchtigkeit
Patienten, bei denen es unter Behandlung mit Tolperison zu Nebenwirkungen wie Schwindel, Schläfrigkeit, Aufmerksamkeitsstörungen, Krampfanfällen, Verschwommensehen oder Muskelschwäche kommt, sollten ihren Arzt aufsuchen und das Bedienen von Maschinen sowie das Führen von Fahrzeugen vermeiden.
Anwendungshinweise
Überempfindlichkeitsreaktionen
- Die nach Markteinführung am häufigsten unter Behandlung mit Tolperison berichteten unerwünschten Arzneimittelreaktionen waren Überempfindlichkeitsreaktionen (leichte Hautreaktionen bis hin zu schweren systemischen Reaktionen, einschließlich anaphylaktischem Schock).
- Die Symptome einer solchen Reaktion können Erythem, Exanthem, Urtikaria, Pruritus, Angioödem, Tachykardie, Hypotonie oder Dyspnoe umfassen.
- Bei Frauen und bei Patienten mit Überempfindlichkeit gegen andere Arzneimittel oder mit bekannten Allergien kann das Risiko für Überempfindlichkeitsreaktionen erhöht sein.
- Bei bekannter Überempfindlichkeit gegen Lidocain ist bei Anwendung von Tolperison aufgrund möglicher Kreuzreaktionen erhöhte Vorsicht geboten.
- Patienten sind anzuweisen, auf mögliche Symptome einer Überempfindlichkeit zu achten und bei Auftreten solcher Symptome die Einnahme von Tolperison zu beenden und unverzüglich einen Arzt aufzusuchen.
- Tolperison darf nach einer Überempfindlichkeitsreaktion auf diesen Wirkstoff nicht erneut angewendet werden.
- Bei Patienten, die bereits eine antihypertensive Therapie erhalten, muss die Behandlung sehr sorgfältig überwacht werden, da Tolperison gemäß klinischer Voruntersuchungen nach Einnahme einer Einzeldosis sowie auch bei einer Langzeittherapie zu einem vorübergehenden Blutdruckabfall von 10-30 mmHg führen kann.
- Bei speziellen Patientengruppen, wie z.B. ältere Patienten, ist keine Verringerung oder Änderung der Dosierung erforderlich.
- Es können jedoch interindividuelle Unterschiede auftreten, die gegebenenfalls beachtet werden müssen und eine Individualisierung der Einnahme von Tolperison notwendig machen können.
- Interindividuelle Unterschiede, die auf einer unterschiedlichen Metabolisierung beruhen, die vorwiegend in der Leber stattfindet, können bei allen Patientengruppen auftreten.
Alternativen
Alternative zentral wirksame Muskelrelaxanzien umfassen:
Weitere Informationen sind der jeweiligen Fachinformation zu entnehmen.
Wirkstoff-Informationen
- STADA: Fachinformation
- Freissmuth et al., Pharmakologie und Toxikologie, 2020, Springer
- Mutschler et al., Mutschler Arzneimittelwirkungen, 2019, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart
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Mydocalm® 50 mg, Filmtabletten
Strathmann GmbH & Co. KG
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Mydocalm ACA Filmtabletten
A.C.A. Müller ADAG Pharma AG
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Mydocalm Emra Filmtabletten
Emra-Med Arzneimittel GmbH
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Mydocalm Eurim Filmtabletten
Eurim-Pharm Arzneimittel GmbH
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Mydocalm kohlpharma Filmtabletten
kohlpharma GmbH
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Tolperison-HCl dura 50 mg Filmtabletten
Viatris Healthcare GmbH
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Tolperison-HCl dura 150 mg Filmtabletten
Viatris Healthcare GmbH
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Tolperison-HCl neuraxpharm 50 mg Filmtabletten
neuraxpharm Arzneimittel GmbH
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Tolperison-HCl neuraxpharm 150 mg Filmtabletten
neuraxpharm Arzneimittel GmbH
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Tolperison-HCl STADA® 50 mg Filmtabletten
STADAPHARM GmbH
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Tolperison-HCl STADA® 150 mg Filmtabletten
STADAPHARM GmbH
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Tolperisonhydrochlorid AL 50 mg Filmtabletten
ALIUD PHARMA® GmbH
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Tolperisonhydrochlorid AL 150 mg Filmtabletten
ALIUD PHARMA® GmbH