
Noch immer wird vieles im medizinischen Alltag durch die COVID-19-Pandemie bestimmt. Die erste Welle erreichte Deutschland im März 2020. Ihren Höhepunkt hatte sie Anfang April desselben Jahres. Um die Pandemie einzugrenzen und zu verhindern, dass Kliniken und Praxen überlastet werden, wurden damals in Deutschland umfangreiche Kontaktbeschränkungen eingeführt, Schulen wurden geschlossen und die Bevölkerung aufgefordert, möglichst viel zuhause zu bleiben. Das hatte nicht nur Auswirkungen auf die Umwelt, sondern auch auf die Menschen. Viele Kinder und Jugendliche blieben aufgrund der geschlossenen Schulen und der allgemeinen Empfehlungen mit ihren Familien unter sich. Gängige Infektionswellen fielen weg und auch häufigen Atemwegsinfekten in der frühen Kindheit entgingen viele Kinder.
Bereits früh gab es die Vermutung, dass COVID-19, wie auch andere Infektionen, einen Typ 1 Diabetes mellitus (T1DM) begünstigen oder eine tragende Rolle in der Pathogenese spielen könnte, denn Atemwegsinfekte in der frühen Kindheit gelten als ein Risikofaktor für T1DM. Deshalb wäre zu erwarten, dass während oder nach den verschiedenen COVID-19-Wellen die Inzidenzen für T1DM unter Kindern und Jugendlichen anstiegen. Eine erste Studie über den Zeitraum Mitte März bis Mitte Mai 2020 konnte das nicht bestätigen. Längere Studien aus dem europäischen Ausland legen jedoch nahe, dass der Effekt mit etwas Verspätung eintreten könnte. Ein deutsches Forscherteam um Clemens Kamrath hat sich nun ein zweites Mal mit dem Thema befasst. Die Daten wurden im Journal »Diabetes Care« veröffentlicht.
Zielsetzung
Bereits im vergangen Jahr untersuchte das Team, ob ein direkter Zusammenhang zwischen COVID-19 und der T1DM-Inzidenz bestehen könnte. Mit der aktuellen Studie wollten sie noch einmal, dieses Mal aber über einen längeren Zeitraum, untersuchen, wie sich die Inzidenz von T1DM bei Kindern und Jugendlichen während der COVID-19 Pandemie entwickelt hat und ob sie anders verläuft als in den Vorjahren.
Methodik
Die Studie wurde mit Daten aus den multizentrischen Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentationen, kurz DPV, durchgeführt. Dieses Register enthält Daten von Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 Monaten bis unter 18 Jahren bei Erstdiagnose eines Typ 1 Diabetes mellitus.
Analysiert wurden die Inzidenzen von T1DM pro 100.000 Personenjahren im Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 30. Juni 2021. Als Kontrollgruppe dienten Kinder und Jugendliche mit neu diagnostiziertem T1DM der gleichen Altersgruppen in den Jahren 2011 bis 2019.
Die Schwere der Pandemie wurde mittels wöchentlicher Inzidenzraten der neuen COVID-19-Fälle pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern vom Robert-Koch-Institut ermittelt.
Die Daten wurden mittels Poisson-Regressionsmodellen analysiert. Dafür wurden die zu erwartenden Inzidenzen für 2020/2021 basierend auf den Vorjahren 2011 bis 2019 mit den tatsächlich beobachteten Inzidenzen von 01/2020 bis 06/2021 verglichen und das Inzidenzratenverhältnis jeweils mit einem 95%-Konfidenzintervall (95%-KI) ermittelt. Neben einer Gesamtanalyse wurden individuelle Analysen für die einzelnen Phasen der COVID-19 Pandemie sowie monatsweise für den Studienzeitraum erstellt.
Ergebnisse
Im Studienzeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 30. Juni 2021 erkrankten 5.162 Kinder und Jugendliche in Deutschland laut DPV neu an einem Typ 1 Diabetes mellitus. Davon waren 55,8% männlich. Auf das Jahr 2020 fielen 3.338 Fälle, auf die erste Hälfte 2021 1.824 Fälle. Das mediane Alter bei Erstdiagnose lag bei 9,7 Jahren (Interquartilenabstand [IQR] 5,9-12,8), der mediane HbA1c bei 11,4% (IQR 9,9-13,1; entspricht 101,3 mmol/mol, IQR 84,8-119,6).
Im Vergleich war die beobachtete Inzidenz im Zeitraum 01/2020 bis 06/2021 mit p<0,001 signifikant höher als die auf den Vorjahren basierend zu erwartende Inzidenz (24,4 [95%-KI 23,6-25,2] vs. 21,1 [95%-KI 20,5-21,9]; IRR 1,15 [95%-KI 1,10-1,20]). Dieser Effekt wurde für beide Geschlechter ähnlich beobachtet.
Der Anstieg der Inzidenzen verteilte sich unterschiedlich über die verschiedenen Altersgruppen. Während die Altersgruppe der unter 6-Jährigen und der 6- bis 11-Jährigen signifikant häufiger neu mit einem T1DM diagnostiziert wurde, war der Unterschied bei den 12- bis 17-Jährigen nicht signifikant (<6-Jährige: (IRR 1,23 [95%-KI 1,13–1,33]; p<0,001); 6- bis 11-Jährige: RR 1,18 [95%-KI 1,11–1,26]; p<0,001; 12- bis 17-Jährige: p=0,13).
Wurden die Inzidenzen nach Monaten aufgesplittet, trat der Anstieg etwa drei Monate nach dem Höhepunkt einer Welle auf. Auch die Inzidenzratenverhältnisse spiegelten Ähnliches wider, wie die folgenden Werte beispielhaft verdeutlichen.
- Juni 2020: IRR 1,43 [95%-KI 1,07–1,90]; p<0,003
- Juli 2020: IRR 1,48 [95%-KI 1,12–1,96]; p<0,001
- März 2021: IRR 1,29 [95%-KI 1,01–1,65]; p<0,028
- Juni 2021: IRR 1,39 [95%-KI 1,04–1,85]; p<0,010
Analyse der Autoantikörper
Ein Indikator für eine mögliche direkte Ursache der gestiegenen Inzidenzen während der COVID-19 Pandemie könnten Autoantikörper im Blut der betroffenen Kinder und Jugendlichen sein. Bei 3.851 (74,6%) der Fälle aus den Jahren 2020 und der ersten Hälfte von 2021 lagen dazu Daten vor. Für die Jahre 2018 und 2019 waren es ebenfalls 74,5% (4.205). Für den Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 30. Juni 2021 konnten im Vergleich zu den beiden Vorjahren 2018 und 2019 keine Unterschiede in den adjustierten Raten von Autoantikörpernegativität gefunden werden. Für den Studienzeitraum 01/2020 bis 06/2021 waren es 6,1% [95%-KI 5,3-7,0], für die Jahre 2018 und 2019 6,4% [95%-KI 5,7-7,3]. Die absolute Differenz betrug 0,3% [95%-KI 1,1-0,6] und war mit einem p-Wert von 0,47 nicht statistisch signifikant.
Fazit
Während der COVID-19-Pandemie stieg die Inzidenz von Typ 1 Diabetes mellitus bei Kindern und Jugendlichen signifikant an. Im Vergleich zu den einzelnen Infektionswellen der Pandemie war der Höhepunkt der T1DM-Inzidenzen jedoch immer um ca. drei Monate verschoben zum Höhepunkt der Welle und den Eindämmungsmaßnahmen.
Der Grund für den Anstieg der Inzidenz im Vergleich zu den Jahren vor der COVID-19-Pandemie ist bisher unbekannt. Es werden sowohl direkte als auch indirekte Effekte diskutiert. Das deutsche Studienteam vermutet, wie auch internationale Kollegen, dass es sich vermutlich eher um indirekte Effekte der Pandemie handelt als um direkte. Darauf könnten auch die fehlenden Unterschiede in der Autoantikörpernegativität hindeuten.