
Während die COVID-19-Pandemie unseren Alltag bestimmt, verschwinden andere Gesundheitsthemen immer wieder aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Ein solches Thema ist der Diabetes mellitus. Laut Hochrechnungen wurde in Deutschland 2021 die Marke von 8,5 Millionen Menschen mit einem diagnostizierten Typ 2 Diabetes mellitus überschritten. Dazu dürften etwa 1,6 Millionen weitere Fälle kommen, die bisher nicht diagnostiziert wurden, die sogenannte Dunkelziffer. Jährlich erkranken 1,0% der erwachsenen Menschen mit gesetzlicher Krankenversicherung hierzulande neu an Diabetes. Das sind 565.000 Neuerkrankungen allein in 2021. Fast ein Drittel der Erkrankten sind zwischen 75 und 79 Jahren alt. Das geht aus dem neuen Gesundheitsbericht der Deutschen Diabetes Gesellschaft e.V. (DDG) hervor. Auch in diesem Jahr befasst sich der Bericht wieder in weiten Teilen mit den Auswirkungen der Pandemie.
Lockdown = Bewegungs-Knockdown?
Mit der COVID-19-Pandemie könnten die Diabetesinzidenzen einen neuen Aufwärtsschub bekommen haben, denn die Pandemie bringt einige Dinge mit sich, die sich negativ auf die Stoffwechselgesundheit auswirken können.Weltweit ist die körperliche Aktivität seit Beginn der Pandemie um etwa 20% gesunken. Gleichzeitig sitzen die Menschen tagtäglich etwa 28% mehr als vor der Pandemie. Auch die tägliche Schrittzahl ist um 27,3% gesunken.
Bewegungsmangel schwächt Immunsystem
Körperliche Aktivität und Bewegung sind wichtig für das Immunsystem und den Glukosestoffwechsel. So ist mittlerweile bekannt, dass Menschen, die weniger körperlich aktiv sind, ein höheres Risiko haben, bei einer COVID-19 Erkrankung ins Krankenhaus zu müssen, intensivpflichtig zu werden oder zu versterben. Es kommt dabei jedoch nicht nur auf die Sportdauer pro Woche an, sondern auch auf die Intensität. „(Zu) hohe Intensitäten schwächen das Immunsystem, setzen es unter Stress“, schreiben Meinolf Behrensen, Peter Borchert und Stephan Kress von der Arbeitsgemeinschaft Diabetes, Sport und Bewegung der DDG im Gesundheitsbericht 2022. Besonders betroffen sind davon die Atemwege, denn sie zeigen mehr Infektionen, wenn die Trainingsintensität zu hoch angesetzt wird. Sinnvoller ist es, die Bewegung auf mehrere Einheiten in der Woche aufzuteilen und so auf mindestens 150 Minuten pro Woche zu kommen.
Weniger körperliche Aktivität im Lockdown
Dass besonders die Pandemie das Problem für Menschen mit Diabetes mellitus verschärft hat, lässt sich erklären: Während der Lockdowns fielen viele Bewegungsangebote weg; gleichzeitig führten die Maßnahmen zu mehr Stress, Angstzuständen und Gewichtszunahme. Fitnessstudios waren geschlossen, Sportgruppen und Vereinssport fanden nur eingeschränkt oder gar nicht statt. Zusätzlich fielen bei vielen Menschen weniger Alltagsaktivitäten an, sie hatten weniger soziale Begegnungen und saßen viel im Home Office. Auch das reduzierte die tägliche körperliche Aktivität, weil die Arbeitswege wegfielen. Dabei können sich schon kurzfristige Sitzunterbrechungen positiv auf den 24h-Glukosespiegel und die Insulinsensitivität bei Diabetes mellitus Typ 2 auswirken - kurzes Stehen oder leichtes Gehen beeinflussen dabei sogar in größerem Maße als ein strukturiertes Training, wie die Autoren schreiben.
Bewegungstherapie für Diabetespatienten
Dagegen helfen könnten individualisierte Bewegungstherapiepläne für Diabetikerinnen und Diabetiker. Sie müssten aus 40- bis 60-minütigen Einheiten für drei bis fünf Tage pro Woche oder insgesamt 150 Minuten Training pro Woche bestehen. Bisher ist das in Praxen, die Diabetespatientinnen und -patienten betreuen jedoch kein Standard. Deshalb gibt es von der AG Diabetes, Sport&Bewegung der DDG nun speziell entwickelte Bewegungspläne. Sie sollen helfen, mehr Bewegung in den Alltag zu integrieren und Ausdauer und Muskeln zu trainieren. Ebenfalls helfen kann ein Hund: Menschen, die sich während der Pandemie einen Hund angeschafft haben, bewegten sich mindestens 30 Minuten pro Woche mehr als Nicht-Hundespaziergänger.
Ein weiteres hilfreiches Tool können „Mut- und Sorgenkarten" sein. Sie sind angelehnt an Gesprächstechniken wie Motivational Interviewing und sollen helfen, sich ambivalente Gefühle und Situationen besser zu verdeutlichen und zu verbalisieren. Als Richtwert kann auch die FIT-Formel dienen, ähnlich der AHA-Formel für die COVID19-Pandemie. Sie besagt, dass mit einer Frequenz (Frequency) von fünf Mal pro Woche trainiert werden soll, bei moderater Intensität (Intensity) und einer Zeit (Time) von 150 Minuten pro Woche.
Bewegungsmangel auch bei Kindern
Wie dringend notwendig Maßnahmen gebraucht werden, zeigen Ergebnisse der COPSY-Studie: Etwa 40% der Kinder und Jugendlichen waren nach ihren Angaben bzw. den Angaben ihrer Eltern nach nicht mehr sportlich aktiv. Bereits vor Beginn der Pandemie erreichten 80% der Kinder und Jugendlichen zwischen 6 und 14 Jahren die Mindestbewegungszeit von 60 Minuten nicht mehr. Das erhöht auf das ganze Leben gesehen das Risiko für viele Erkrankungen.
Mehr Diabetes bei Kindern und Jugendlichen
Neben dem Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen häufen sich auch die Fallberichte, bei denen kurz nach einer SARS-CoV-2-Infektion ein insulinabhängiger Diabetes mellitus auftrat. Bei nicht allen dieser Fallberichte konnten diabetesspezifische Autoantikörper nachgewiesen werden. Ein kausaler Zusammenhang zwischen einer Infektion und einem neu aufgetretenen Diabetes konnte bisher nicht bewiesen werden, wäre aber möglich.
Direkte Effekte auf beta-Zellen möglich
Eine Erklärung wären direkte Effekte der Infektion: Der ACE2-Rezeptor gilt als eine Eintrittspforte für das Virus. Er wird auch auf den insulinproduzierenden beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse exprimiert. Das lässt viele vermuten, dass das Virus so auch in die beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse eindringen und diese zerstören könnte. Eine andere Theorie für einen direkten Effekt besagt, dass der Zytokinsturm im Rahmen der Infektion die beta-Zellen selbst oder ihre mikrovaskuläre Versorgung schädigen könnte. Als Resultat würden auch hier die Zellen zugrunde gehen.
Die Pandemie als indirekter Auslöser für Diabetes
Ein anderer Erklärungsansatz wäre, dass indirekte Effekte der Pandemie zu höheren Diabetesinzidenzen führen. Die fehlenden sozialen Kontakte könnten psychisch belastend sein, Ängste das Stresslevel erhöhen. Erhöhter Stress kann zu einem höheren Risiko für eine Inselzell-Autoimmunität führen und dadurch zu einem Typ 2 Diabetes mellitus.
Korrelationen zwischen einer Sars-CoV-2-Infektion und einem Typ 1 Diabetes mellitus werden kontrovers diskutiert. In manchen Ländern stiegen während der ersten COVID-19-Welle die Neumanifestationen bei Kindern und Jugendlichen, in anderen fielen sie oder blieben etwa gleich. In Deutschland etwa gab es keinen signifikanten Unterschied in der Diabetesinzidenz bei Kindern und Jugendlichen. In den Jahren 2011 bis 2019 lag sie bei etwa 22,1 pro 100.000 Personenjahren, während der ersten Welle bei 23,4 pro 100.000 Personenjahren.
Auffällig war jedoch, dass in einer Studie im Distrikt des Universitätsklinikums von Helsinki die Inzidenz etwa drei Monate nach dem Höhepunkt der ersten Welle anstieg. Im Juni und Juli war sie um 45% höher als in den vorherigen Jahren. Bei keinem der Fälle konnten jedoch SARS-CoV-2-Antikörper nachgewiesen werden. Deshalb wird vermutet, dass eher indirekte Effekte verantwortlich sind für die steigenden Zahlen. Ähnliches lässt sich auch für Deutschland beobachten: Laut dem DPV-Register lag die Inzidenz für das gesamte Jahr 2020 um 11% höher als sonst. Das Muster war das Gleiche, etwa drei Monate nach der ersten Pandemiewelle stiegen die Zahlen an. So lässt sich zwar kein direkter Effekt einer Infektion nachweisen, indirekte Effekte der Pandemie sind jedoch bei der Schwere der Erkrankung und ihren langfristigen Folgen ebenfalls relevant.
Mehr Ketoazidosen
Ähnlich wie im Vorjahr wurde auch im diesjährigen Gesundheitsbericht wieder beschrieben, dass die Anzahl der diabetischen Ketoazidosen bei Kindern und Jugendlichen vor allem in der ersten Welle deutlich angestiegen ist. Während die Inzidenz in den Jahren 2018/2019 noch bei 24,1 % (95%-Konfidenzintervall [KI] 21,5-27,0) lag, war sie im Zeitraum vom 15. März bis zum 15. Mai 2020 auf 44,6% (95%-KI 40,6-48,9) gestiegen. Die Zahl der Neuerkrankungen reflektierte diesen Effekt jedoch nicht.
Pandemie beeinflusst Arztbesuche
Auf dem Höhepunkt der ersten Coronawelle im April war das Ketoazidoserisiko sogar doppelt so hoch wie in den Jahren davor (adjustiertes relatives Risiko 1,96; 95%-KI 1,49-2,59). Dieser rapide Anstieg wird direkt mit der Pandemie in Verbindung gebracht. Wütete die Pandemie lokal zu einem Zeitpunkt besonders stark, war auch die Keotazidoserate erhöht. Vermutet wird, dass die Familien Sorge hatten, sich anzustecken und sich deshalb erst verspätet medizinische Hilfe suchten.
Das höchste Risiko für diabetische Ketoazidosen hatten dabei Kinder unter sechs Jahren. Auch Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund waren besonders gefährdet. Sie sollten bei Vorsorgeuntersuchungen besonders genau beobachtet werden, um im Fall der Fälle frühzeitig einschreiten zu können.
Gesundheit der Patienten unterstützen
Der diesjährige Diabetesbericht enthält, wie die Zahlen zeigen, keine Überraschungen. Besorgniserregend ist aber, dass während der Pandemie viele Menschen inaktiver geworden sind. Die Gesamtfolgen davon dürften sich erst in einigen Jahren zeigen. Deshalb ist es umso wichtiger, Patientinnen und Patienten darin zu unterstützen, für ihre eigene Gesundheit Verantwortung zu übernehmen und sich trotz Pandemie und Lockdowns ausreichend körperlich zu betätigen und auf ihre Gesundheit zu achten.