
Prävention spielt im deutschen Gesundheitswesen oft eine untergeordnete Rolle. Einzig Sekundär- und Tertiärprävention sind wichtige Bestandteile der deutschen Gesundheitsversorgung. Sie sollen helfen, Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und Folgeschäden zu vermeiden. Das ist vor allem im Kindes- und Jugendalter wichtig, denn unerkannte Erkrankungen können zu lebenslangen Folgeschäden führen.
Eine Erkrankung, die bei jedem vierten bis fünften Fall erst sehr spät erkannt wird, ist der Diabetes mellitus Typ 1. Obwohl schon früh erste Anzeichen auftreten, wird die Diagnose teilweise erst gestellt, wenn die Betroffenen mit einer lebensbedrohlichen diabetischen Ketoazidose ins Krankenhaus kommen. Das kann schwere Gesundheitsschäden wie eine schlechtere metabolische Kontrolle oder gestörte neurokognitive Funktionen nach sich ziehen. Die Prävalenz der Diabetes mellitus Typ 1-Fälle, die erst bei lebensbedrohlichen Komplikationen erkannt werden, steigt. Weltweit liegt sie – je nach geographischer Region – zwischen 13% und 80%. In Ländern mit einem umfassenden und für alle zugänglichen Gesundheitssystem werden ebenfalls steigende Prävalenzen verzeichnet. Das betrifft auch Deutschland. Vor allem in der Anfangszeit der COVID-19 Pandemie fiel das in den Statistiken deutlich auf.
Ursachen für späte Diagnosen
Die Gründe, warum mehr und mehr pädiatrische Diabetesfälle erst bei einer diabetischen Ketoazidose diagnostiziert werden, sind vielfältig. Eine mögliche Ursache für den verspäteten Therapiebeginn könnte darin liegen, dass Symptome des Typ-1-Diabetes häufiger übersehen oder fehldiagnostiziert werden. Oder es wird weder von den Familien noch den Gesundheitsschaffenden oder Betreuungspersonen erkannt, wie ernst die Situation ist.
Ein jüngeres Alter bei Diagnosestellung, geringerer elterlicher Bildungsstand, Zugehörigkeit zu ethnischen Minderheiten oder ein schlechter Zugang zum medizinischen System sind ebenfalls mit einem höheren Risiko für diabetische Ketoazidosen assoziiert. Ein wichtiger Faktor dabei könnte sozioökonomisch begründet sein: Wer in strukturell schwachen Regionen lebt, könnte gefährdeter sein, verspätet oder zu spät diagnostiziert zu werden.
Welchen Effekt sozioökonomische Verteilungen auf die Diagnose eines Diabetes mellitus Typ 1 haben, ist jedoch nur wenig bekannt. Deshalb hat sich eine deutsche Studie näher mit dem Thema befasst und die Ergebnisse im Journal »Diabetes Care« veröffentlicht.
Zielsetzung
Sozioökonomische Unterschiede können Auswirkungen auf die Gesundheit haben. Vor allem sozioökonomische Deprivation und Urbanisierung könnten beeinflussen, wie oft ein pädiatrischer Typ-1-Diabetes erst erkannt wird, wenn eine diabetische Ketoazidose auftritt. Deshalb wurde die Studie mit dem Ziel durchgeführt, zu untersuchen, ob sozioökonomische Deprivation und Urbanisierung mit der Frequenz diabetischer Ketoazidosen bei Erstdiagnose im Kindesalter assoziiert sind. Zusätzlich sollte überprüft werden, ob das Alter der Betroffenen, das Geschlecht oder der Migrationsstatus einen Einfluss auf die Frequenz haben.
Methodik
Die retrospektive Studie basierte auf Daten aus der Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation (DPV). Eingeschlossen wurden die Daten von Kindern und Jugendlichen bis 18 Jahre, die zwischen 2016 und 2019 neu mit Diabetes mellitus Typ 1 diagnostiziert worden sind. Als weitere Einschlusskriterien galten unter anderem, dass sie zum Diagnosezeitpunkt in Deutschland wohnhaft sein mussten und innerhalb von sieben Tagen vor oder nach der Diagnose ein Diabeteszentrum besucht haben mussten. Ebenso mussten Daten zum pH-Wert (<7,3) oder den Bicarbonaten (<15 mmol/L) als ISPAD-Kriterien (International Society of Pediatric and Adolescent Diabetes) einer diabetischen Ketoazidose vorhanden sein oder eine diabetische Ketoazidose als Grund für einen Krankenhausaufenthalt angegeben worden sein.
Alle Patientinnen und Patienten wurden in eine von fünf Alterskategorien eingeordnet. Als Migrationshintergrund galt, wenn der Geburtsort außerhalb Deutschlands lag oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren ist. Die sozioökonomische Deprivation wurde in Quintilen eingeteilt. Dem zugrunde wurde der German Index of Socioeconomic Deprivation gelegt. Die Region mit der niedrigsten sozioökonomischen Deprivation erhielt die Quintile Q1, die mit der höchsten die Quintile Q5. Der Grad der Urbanisierung wurde gemäß der Postzahl und den Eurostat-Kriterien ermittelt. Als „Städte“ galten dicht besiedelte Regionen mit mindestens 50% der Bevölkerung in urbanen Zentren mit mindestens 1.500 Bewohnenden/km² und mindestens 50.000 Einwohnenden. „Ländliche Regionen“ wurden definiert als dünn besiedelt mit mindestens 50% der Bevölkerung in Regionen mit <300 Einwohnenden/km² und insgesamt weniger als 5.000 Menschen. Alle anderen Regionen wurden in „Kleinstädte und Vororte“ eingeteilt.
Die statistische Analyse erfolgte mittels multipler logistischer Regressionsmodelle.
Ergebnisse
Die Ergebnisse der Studie bestätigten die Theorie: Die Frequenz von diabetischen Ketoazidosen stieg mit der sozioökonomischen Deprivation. In Regionen der Deprivationsquintile Q1 lag die Prävalenz von diabetischen Ketoazidosen bei 20,6% (95%-Konfidenzintervall [KI]: 19,0 bis 22,4). In am stärksten benachteiligten Regionen (Q5) hingegen lag sie bei 26,9% (95%-KI: 25,0 bis 28,8). Mit einem p-Wert <0,001 war dieser Trend statistisch signifikant. Auch in ländliche Regionen waren Kinder und Jugendliche deutlich häufiger von diabetischen Ketoazidosen bei Diagnosestellung betroffen: 27,6% (95%-KI: 26,0 bis 29,3) waren in ländlichen Regionen bei Diagnosestellung ketoazidotisch, während es in Kleinstädten und Vororten gerade einmal 22,7% (95%-KI: 21,4 bis 24,0) waren (p<0,001). Ähnliches wurde im Vergleich zu Städten beobachtet (27,6%; 95%-KI: 26,0 bis 29,3 vs. 24,3%; 95%-KI: 22,9 bis 25,7; p=0,007).
Während sozioökonomische Deprivation signifikant mit der Prävalenz von diabetischen Ketoazidosen assoziiert war, hatten das Alter bei Diagnosestellung, das Geschlecht und der Migrationshintergrund keinen statistisch signifikanten Effekt auf die Frequenz der diabetischen Ketoazidosen (p=0,216; p=0,168; p=0,772).
Studiendemographie
In die Studie wurden insgesamt 10.598 Kinder und Jugendliche eingeschlossen, bei denen ein Diabetes mellitus Typ 1 neu diagnostiziert worden war. Sie stammten aus 387 der insgesamt 402 Distrikten und wurden in 199 Diabeteszentren behandelt. Das mediane Alter lag bei 9,7 Jahren (Interquartilenabstand 6,0-13,0) und 45% war weiblich. Die Verteilung war über alle sozioökonomischen Deprivationsquintilen ähnlich. In den am wenigstens deprivierten Regionen wohnten signifikant mehr Kinder mit Migrationshintergrund (27-29% in Q1-Q3 im Vergleich zu 21-22% in Q4-Q5; p<0,001). Eltern in ländlichen Regionen lebten statistisch signifikant häufiger in Regionen mit der stärksten Deprivation (36% in Q5 vs. 15% in Q1; p<0,001). In Kleinstädten und Vororten hingegen lebten deutlich weniger Menschen in benachteiligten Regionen (38-51% in Q1-Q3 vs. 21-32% in Q4-Q5: p<0,001). Die unbereinigte Prävalenz von diabetischen Ketoazidosen lag bei 24,9%.
Fazit
Sozioökonomische Deprivation kann sich nachteilig auf die Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen auswirken. Bei Diabetes mellitus Typ 1 haben Betroffene in sozioökonomisch deprivierten Regionen signifikant häufiger bereits eine diabetische Ketoazidose, wenn sie erstdiagnostiziert werden. Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund spielen dabei keine Rolle. Deshalb sollten sich Präventionsstrategien vor allem an die richten, die in sozioökonomisch benachteiligten Regionen und ländlich leben.