
Hintergrund
Die COVID-19 Pandemie hat die Gesundheitsversorgung zum Teil dramatisch beeinflusst und tut es noch. In Zeiten hoher Infektionszahlen wurden und werden die Kapazitäten zur Versorgung chronischer Krankheiten heruntergefahren, um alle verfügbaren Kräfte auf die Behandlung der COVID-19 Patienten zu konzentrieren. Die Dienste zur Versorgung akuter Nicht-COVID-19 Fälle, darunter auch die Zentren zur Behandlung von Myokardinfarkten, insbesondere des ST-Strecken-Hebungsinfarkts (ST segment elevation myocardial infarction [STEMI]), blieben jedoch unangetastet.
Deutlich weniger PCIs
Obwohl die Versorgung des akuten STEMI durch die spezialisierten Zentren gewährleistet wurde, zeichnete sich früh ab, dass während der ersten Hochphase der Pandemie deutlich weniger perkutane Koronarinterventionen (PCI) durchgeführt wurden als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Dies wurde darauf zurückgeführt, dass symptomatische Patienten davor zurückschreckten medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als Gründe hierfür wurden Fehlinformationen über die Versorgungskapazitäten, Social distancing, Lockdownregeln und die Angst der Patienten vor Ansteckung genannt.
Multicenter-Registerstudie
Um den Rückgang der Behandlung des akuten STEMI während der Pandemie genauer einzuschätzen und um einen Überblick über die Folgen von verschleppten Behandlungen in dieser Zeit in Europa zu gewinnen, regte die Universität Ostpiemont in Novara, Italien eine internationale retrospektive Multicenter Registerstudie an. Die Studie wurde unter dem Namen ISACS-STEMI (International Study on Acute Coronary Syndromes–ST Elevation Myocardial Infarction) unter Beteiligung von 77 europäischen Zentren durchgeführt. Als Beobachtungszeitraum wurden zwei Monate vom 1. März-30. April 2020 gewählt. Die Ergebnisse der Studie wurden im Journal of the American College of Cardiology veröffentlicht. [1,2]
Zielsetzung
Die Studie sollte die Frage beantworten, welchen Einfluss die COVID-19-Pandemie auf die Behandlung von Patienten mit STEMI hatte. Im Focus standen dabei die Anzahl von primär PCIs (PPCI) sowie die Behandlungsergebnisse nach PPCI inklusive der Identifikation von Patientenkohorten, deren Behandlungsrisiko erhöht war, weil die Patienten verzögert oder gar nicht in Behandlung kamen.
Methoden
Die retrospektive Registerstudie wurde mit den Daten von europäischen PCI-Zentren mit hohem Fallaufkommen (>120 PPCI/Jahr) aus dem Zeitraum vom 1. März-30. April 2020 durchgeführt. Ausgewertet wurden anonymisierte demographische Daten der Patienten sowie klinische und prozedurale Daten inklusive der Gesamtzeit der Ischämie, der Tür-zu-Ballon-Zeit, der Überweisung zum PPCI-Zentrum, Positiv-Test auf COVID-19 und der Mortalität in der Klinik.
Ergebnisse
In die Analyse flossen die Daten von insgesamt 6609 Patienten ein, die sich in 77 Zentren in 18 Ländern einer PPCI unterzogen hatten. Während des Studienzeitraums 2020 kam es zu einer signifikanten Reduktion der durchgeführten PPCI um 19% gegenüber des gleichen Zeitraums 2019 (Inzidenzraten Verhältnis: 0,81; 95% Konfidenzintervall [CI]: 0,78-0,84; p < 0,0001). Dabei fielen große Unterschiede zwischen den Zentren auf, die jedoch in keiner Korrelation zum regionalen oder nationalen Verlauf der COVID-19 Pandemie standen. Es konnte auch keine Beziehung zwischen den COVID-19 Mortalitätsraten und der Häufigkeit der durchgeführten PPCIs festgestellt werden.
Erhöhte Mortalität
Die Behandlung der Patienten mit STEMI begann im Vergleich zum Vorjahr im Schnitt deutlich später. Die Tür-zu Ballon-Zeit stieg 2020 um 2 Minuten im Durchschnitt (Ø36 min/2020 vs. Ø 34 min/2019; p=0,007; die Gesamtzeit der Ischämie um durchschnittlich 9 Minuten (Ø 200 min/2020 vs. Ø 181 min/2019; p=0,004). Der Anteil der Fälle mit einer Tür-zu Ballon-Zeit >30 Minuten erhöhte sich von rund 53% (2019) auf 57% (2020). Zu einer Gesamtzeit der Ischämie von >12 Stunden kam es 2020 in 11,7% der Fälle im Vergleich zu 9,1% der Fälle 2019. Die Mortalitätsrate der STEMI-Patienten im Krankenhaus stieg 2020 mit 6,8% gegenüber 4,9% 2019 deutlich an. Wie zu erwarten war, die Mortalität bei STEMI-Patienten, die gleichzeitig SARS-CoV-2 positiv waren, noch deutlich höher: rund 29% dieser Patienten starben.
Fazit
Die Pandemie hatte nachweislich einen erheblichen Einfluss auf die Behandlung von Patienten mit STEMI. Die Anzahl der PPCIs war signifikant geringer als im Vorjahr. Dabei gab es große Unterschiede zwischen den einzelnen Zentren, die nicht mit dem Verlauf der COVID-19 Pandemie in der jeweiligen Region oder dem Land korrelierten, sondern von Faktoren, wie beispielsweise der Organisation der Versorgung oder der Scheu der Patienten medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, bestimmt wurden. Die signifikant erhöhte Mortalität der STEMI-Patienten erklären die Autoren mit dem späteren Behandlungsbeginn gegenüber 2019. Diese Verzögerungen ergaben sich einerseits aus prozeduralen Gründen (z. B. Infektionsschutz) und andererseits aus der verspäteten Vorstellung der Patienten.