
Hintergrund
Mehr als 250.000 Menschen in Deutschland leiden an Multipler Sklerose (MS). Jährlich erhalten hierzulande über 10.000 Menschen die Erstdiagnose MS. Die chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems verläuft meist schubförmig (relapsing-remitting multiple sclerosis [RRMS]) und führt zu fortschreitenden ZNS-Schäden, die zunehmende Behinderungen zur Folge haben. Die Krankheitsschübe beschleunigen das Fortschreiten der Behinderungen durch die MS. Ein akuter Schub wird durch die Gabe von Kortikosteroiden unterdrückt. Um die Schubfrequenz und damit auch das Fortschreiten der Erkrankung und ihrer Folgen zu verlangsamen, kommen krankheitsmodifizierende Therapien zum Einsatz (disease-modifying therapy [DMT]) [1].
Krankheitsmodifizierende Therapien
Die DMT sind Immuntherapien, die zielgerichtet an den Entstehungsmechanismen der MS ansetzen. Es gibt milde, moderate und hocheffektive DMTs. Hocheffektive DMTs haben komplexere Sicherheitsprofile und müssen engmaschiger überwacht werden als mild oder moderat wirksame Therapien. In vielen Fällen behandelt man daher MS-Patienten in frühen Krankheitsstadien mit einer milden DMT und eskaliert die Therapie mit stärkeren Substanzen nur, wenn sich der Zustand des Patienten verschlechtert (Eskalationstherapie). Seit einiger Zeit mehren sich jedoch die Hinweise, dass der Einsatz hocheffektiver DMTs bereits in den Anfangsstadien der Erkrankung (aggressive DMT) langfristig die Zunahme der Behinderungen verlangsamen und/oder verringern könnte.
Unterschiedliche nationale Therapiestrategien
Um die langfristigen Therapieergebnisse bei mildem Einstieg mit Eskalation nach Bedarf und der aggressiven DMT zu vergleichen, hat eine dänisch-schwedische Arbeitsgruppe die MS-Register ihrer Länder analysiert. Während in Schweden bereits seit einiger Zeit eine wachsende Patientenzahl mit der aggressiven DMT behandelt wurde, bevorzugte man in Dänemark die Eskalationstherapie. Die Ergebnisse der Kohortenstudie wurden in der Fachzeitschrift JAMA Neurology veröffentlicht [2].
Zielsetzung
In der Studie wurde untersucht, welche langfristigen Therapieergebnisse hinsichtlich des Behinderungsgrades mit verschiedenen DMT-Strategien von schubförmig remittierende Multipler Sklerose in Dänemark und Schweden assoziiert sind.
Methoden
Für die Kohortenstudie wurde Datensätze von 4.861 Patienten genutzt, die im dänischen oder schwedischen Multiple-Sklerose-Register gelistet waren und in der Zeit von 2013-2016 ihre erste DMT erhielten. Alle DMTs, die während des Beobachtungszeitraum bis zum 2. Oktober 2019 durchgeführt worden waren, sowie alle Daten zum Behinderungsgrad flossen in die Analyse ein. Als primärer Endpunkt wurde die Zeit bis zu einer (über 24 Wochen) persistierenden Verschlechterung der Behinderung festgelegt. Zu den sekundären Endpunkten gehörten das Erreichen eines Behinderungsgrades (expanded disability status scale [EDSS]) von 3 und 4, die Zeit bis zum ersten Relapse, die jährliche Relapse-Rate und Therapie-Umstellungen.
Ergebnisse
In die Analyse kamen aus dem schwedischen Register die Datensätze von insgesamt 2.700 Patienten, davon 1.867 Frauen (69,2 %) mit einem Durchschnittsalter von 36,1 Jahren und aus dem dänischen Register 2.161 Patienten, davon 1.472 Frauen (68,1 %) im Durchschnittsalter von 37,3 Jahren. In Dänemark wurden 1.994 Patienten (92,3 %) mit der Eskalationstherapie und 165 (7,6 %) mit einer aggressiven DMT behandelt, in Schweden erhielten 1.769 Patienten (65,5 %) eine Eskalationstherapie 931 (34,5 %) eine aggressive DMT. Die Nachbeobachtungszeit nach Beginn der ersten DMT (2013-2016) lag bei 4,1 Jahren.
Aggressive DMT verringert Behinderungszunahme
In Schweden erzielte man gegenüber Dänemark eine um 29 % verringerte Behinderungs-Zunahme (24-Wochen-Postbaseline-Rate der bestätigten Verschlechterung der Behinderung). Mit der schwedischen Behandlungsstrategie erreichten 24 % weniger Betroffene einen EDSS-Score von 3 (Hazard Ratio [HR] 0,76; p=0,03) und 25 % weniger einen EDSS-Score von 4 (HR 0,75; p=0,01). Der Anteil der Patienten, die die Therapie aufgrund von Nebenwirkungen abbrachen, waren in beiden Kohorten annähernd gleich hoch. In Dänemark brachen 1.504 Patientinnen und Patienten die Therapie ab, 508 (33,8 %) davon aufgrund von Nebenwirkungen. In Schweden entschieden sich 1.702 Patienten für einen Therapieabbruch, 34,5% davon gaben Nebenwirkungen als Grund an.
Fazit
Die Ergebnisse die retrospektive Registerstudie bestätigen vorangegangene Beobachtungen, dass eine frühzeitige aggressive DMT die Zunahme des Behinderungsgrades effektiver abbremsen kann als eine Eskalationstherapie mit mildem bis moderatem Einstieg. Prof. Dr. Ralf Gold, Direktor der Neurologie des Katholischen Klinikum Bochum, zieht folgendes Fazit: „Wir brauchen jetzt große randomisierte Studien, welche die Ergebnisse dieser großen skandinavischen Observationsstudie prospektiv überprüfen und herausfinden, welche Patientinnen und Patienten von einer mild-moderaten und welche von der aggressiven DMT profitieren.“