
Funktionelle Unterleibsschmerzen sind Störungen der Darm-Hirn-Achse, bei denen die abdominalen Schmerzen länger als zwei Monate bestehen, mindestens einmal wöchentlich auftreten und sich nicht durch strukturelle oder biochemische Erkrankungen erklären lassen. Im Falle eines Reizdarmsyndroms kommt noch eine veränderte Darmbewegung hinzu. Diese Erkrankungen führen zu einer schlechten Lebensqualität, einer starken Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung und zu sozialer Isolation. Bis heute wurde die optimale Therapie bei funktionellem Bauchschmerz oder Reizdarmsyndrom im Kindes- oder Jugendalter nicht gefunden. In einer kleinen US-amerikanischen Untersuchung konnte nun offen verabreichtes Placebo diesen Patienten erstaunlich gut helfen.
Offen verabreichtes Placebo bei Erwachsenen effektiv
Gängige Meinung heutzutage ist, dass „nicht von dem Scheinmedikament Wissen“ sei ein Schlüsselelement der Placebo-Wirkung. Dass dies allerdings nicht immer der Fall sein muss, konnten bereits verschiedene Wissenschaftler in früheren Untersuchungen zeigen.
Beispielsweise reduzierten laut einer schweizerischen Studie aus dem Jahr 2017 Placebos – auch wenn den Behandelten bewusst war, dass es sich um Medikamente ohne Wirkstoff handelte – Schmerzen genauso gut reduzierten wie Placebos, die heimlich gegeben wurden. Eine wichtige Rolle bei der Vergabe spielten die begleitenden Erläuterungen [1,2]. Ebenfalls eine gute Wirksamkeit zeigten die Medikamente ohne Wirkstoff zudem bei Schmerzzuständen, wie chronischen Rückenschmerzen [3,4] und Reizdarmsyndrom bei Erwachsenen [5], sowie bei kindlichem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom [6].
Kleine Studie mit 30 Kindern und Jugendlichen
Dass offen verabreichtes Placebo auch bei funktionellen Bauchschmerzen und Reizdarmsyndrom im Kindes- und Jugendalter sehr wirksam ist, konnte nun der Kindergastroenterologe Dr. Samuel Nurko vom Boston Children‘s Hospital in den USA belegen.
An seiner multizentrischen, randomisierten, klinischen Cross-Over-Studie hatten zwischen 2015 und 2018 30 Kinder und Jugendlichen im Alter von 8 bis 18 Jahren teilgenommen. Das primärer Outcome der kleinen Untersuchung bildete der durchschnittliche tägliche Schmerz-Score, gemessen auf einer visuellen Analogskala von 0 mm bis 100 mm, wobei höhere Werte für größere Schmerzen standen. Sekundärer Endpunkt war die Verwendung des Notfallmedikaments Hyoscyamin, gemessen an der Anzahl der eingenommenen Tabletten [7,8].
Placebo sah wie ein typisches Medikament aus
Zu Beginn erläuterten die Wissenschaftler den Teilnehmern zuerst das Placebo-Konzept sowie die Tatsache, dass diese Scheinmedikamente in einigen Studien bereits positive Effekte gezeigt hatten. Anschließend sah das Studiendesigns eine einwöchige Beobachtungsphase vor, in der die Patienten ihre Schmerzstärke in einem Tagebuch dokumentierten.
Nach dieser Zeit wurden die Teilnehmer per Zufall in zwei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe erhielt zweimal am Tag 1,5 ml eines Sirups, welcher in einer 3-ml Plastikspritze verabreicht wurde. Diese inerte Suspension sah zwar aus wie andere in der Pädiatrie eingesetzten Medikamente, enthielt jedoch lediglich 85% Saccharose, Zitronensäure, gereinigtes Wasser und das Konservierungsmittel Methylparaben. Die zweite Gruppe startete ohne Behandlung (Kontrollperiode). Nach drei Wochen wurde getauscht.
Während der ganzen Studiendauer führten die Patienten ein Schmerztagebuch, in dem sie spezifische Fragen zu Wohlbefinden, Symptomen und Stuhlgang beantworteten. Zudem durften die Teilnehmer das Spasmolytikum Hyoscyamin als Notfallmedikament einsetzen.
Weniger Schmerzen während Placebophase
Tatsächlich lagen die durchschnittlichen Schmerz-Scores während der Placeboperiode signifikant niedriger als in der Kontrollperiode (39,9 versus 45,0; Differenz: 5,2). Insgesamt schätzten 21 der 30 teilnehmenden Kinder und Jugendlichen (70%) ihre Schmerzen während dieser Zeit als geringer ein. Zudem benötigten die Teilnehmer in dem Zeitraum ohne Behandlung fast doppelt so viele Notfallmedikamente (durchschnittliche Tablettenanzahl: 3,8 versus 2,0). Darüber hinaus nahmen 16 Teilnehmer (etwa 53,3%) in der Kontrollphase mehr Hyoscyamin ein, während nur zwei Teilnehmer (knapp 6,7%) unter Placebo häufiger auf Hyoscyamin-Tabletten angewiesen waren. Unerwünschte Nebenwirkungen traten nicht auf. Nicht signifikant war allerdings die allgemeine Verbesserung während der Placeboperiode (46,7% versus 30%).
Nicht verblindete Zuordnung der Kinder
Die Ergebnisse lassen vermuten, dass Placebo – auch wenn die Kinder und Jugendlichen von dem Scheinmedikament wissen – eine positive Wirkung auf funktionellen Bauchschmerzen und Reizdarmsyndrom haben. Eine Limitation der Studie ist allerdings, dass eine Verblindung bei der Zuordnung zu einer der beiden Gruppen nicht möglich war. Es wäre beispielsweise denkbar, dass die Ärzte die Kinder und Jugendlichen in den verschiedenen Phasen unbewusst anders behandelt haben oder die positiven Ergebnissen durch die Erwartungen der Eltern zustande kamen. Eine weitere Schwäche neben der geringen Teilnehmerzahl war die kurze Nachbeobachtungszeit.
Durch Placebos weniger Pharmaka und Nebenwirkungen?
Dennoch schlussfolgern die Wissenschaftler um Nurko, dass offen verabreichte Placebos eine effektive nicht-pharmakologische Therapieoption bei Kindern mit funktionellen Bauchschmerzen und Reizdarmsyndrom darstellen könnten. Der Einsatz von Scheinmedikamenten könnten laut den Autoren demnach dabei helfen, die Menge an eingesetzten Pharmaka und damit auch unerwünschte Wirkungen zu reduzieren. „Die genaue Art der Reaktion ist noch unbekannt, aber meine Hoffnung ist, dass wir den Prozess verstehen können, damit wir ihn nutzen können und in der klinischen Routineversorgung verwenden können,“ schließt Nurko.