
Paul* ist 17 und hat seit elf Jahren Diabetes mellitus Typ 1. Bei seinen Diabeteskontrollterminen ist er meist wortkarg und missmutig. Er trägt seit Jahren eine Insulinpumpe und ein kontinuierliches Glukosemonitoringsystem (CGM). Beide können jedoch nicht miteinander kommunizieren. Damit die Pumpe korrekt arbeiten kann, muss er seine Werte mindestens fünf Mal am Tag manuell in die Pumpe eingeben. Dadurch entstehen jedes Mal mindestens 10 Sekunden Arbeitsaufwand für Paul - für einen Jugendlichen zu lang. Deshalb vernachlässigt Paul die Eingaben immer wieder. Seine HbA1c-Werte liegen bei den zwei- bis dreimonatigen Kontrollen meist zwischen 8,3% und 9,6%. Als die Garantie für sein Pumpensystem ausläuft und bei der Kontrolle sein HbA1c in den zweistelligen Bereich gestiegen ist, entschließen sich Paul und seine Behandler und Behandlerinnen, die Pumpe zu wechseln und auf ein AID-System umzusteigen.
Diese Beispiel brachte die Diabetesberaterin Sarah Biester aus dem Kinder- und Jugendkrankenhaus Auf der Bult, Hannover, mit zum Diabeteskongress 2022. Sie betreut regelmäßig Kinder und Jugendliche mit Diabetes. AID-Systeme finden in der Kinder- und Jugendmedizin immer häufiger Einsatz, denn sie bringen viele Vorteile für die Betroffenen und ihre Angehörigen mit, da sie Entlastung im Alltag bedeuten und ein Stückweit Verantwortung abnehmen können. AID-Systeme, kurz für Automated Insulin Delivery-Systeme, bestehen aus real-time CGMs und einer Insulinpumpe. Beide Systeme sind über einen Algorithmus miteinander verbunden, der versucht, die natürliche Insulinfunktion der Bauchspeicheldrüse individuell anhand der Messungen der Betroffenen nachzubilden. Dadurch lassen sich Blutzuckerschwankungen reduzieren und Hypoglykämien, vor allem nachts, besser vermeiden.
Wem AID-Systeme nutzen
Wer von einem AID-System profitiert, ist unterschiedlich. Bei Kindern unter sieben Jahren gibt es zwar einige Studien zur Evidenz von AID-Systemen, aber in der Altersgruppe ist sie noch nicht ausreichend für übergreifende Empfehlungen. Ähnlich sieht es bei Erwachsenen älter als 65 Jahre aus. Sie sind zwar häufig von Diabetes betroffen, aber auch hier ist die Studienlage dünn. Ebenso bei Schwangeren. Die größte Evidenz gibt es für Kinder zwischen sieben und 14 Jahren, Jugendliche und Erwachsenen bis 64 Jahre. Zugelassen sind die meisten Systeme in der EU aber frühestens ab dem ersten Lebensjahr, größtenteils erst ab dem sechsten oder siebten Lebensjahr.
Alle untersuchten Altersgruppen profitieren von AID-Systemen. Das trifft besonders auf die Patienten zu, deren Erkrankung bisher nicht gut kontrolliert war. Sie starten zumeist mit hohen HbA1c-Werten und sehen die prozentual größte Steigerung der Time in Range (TiR) und verbesserter Langzeitwerte.
Eine Altersobergrenze gibt es trotz der unzureichenden Evidenz nicht. Auch Betroffene mit jahrelanger Erfahrung im Diabetesmanagement können von AID-Systemen profitieren. Denn mit dem Alter lässt häufig die eigene Hypoglykämiewahrnehmung nach. Hier können AID-Systeme unterstützen. In Pilotstudien mit Menschen älter als 65 Jahren zeigte sich, dass die diabetesbedingte Belastung trotz der häufig lebenslangen Erfahrung unter AID-Systemen sank und die TiR sich weiter verbesserte.
Empfehlung für Typ-1-Diabetiker
„Ein AID-System soll allen Menschen mit Typ 1 Diabetes angeboten werden“, berichtete Professor Jens Kröger aus Hamburg beim Diabeteskongress 2022 aus den Standards of Medical Care in Diabetes 2022. Dafür müsse aber das für die jeweilige Person optimale System ausgewählt werden. Weiter aufgeschlüsselt sollte es allen Typ 1 Diabetikerinnen und Diabetikern empfohlen werden, die eine suboptimale Glukoseeinstellung haben, problematische Hypoglykämien und/oder signifikante Glukosevariabilität sowie eine reduzierte Lebensqualität aufweisen. Auch Menschen mit moderatem bis hohem Risiko für schwere Hypoglykämien und einer Hypoglykämie-Unawareness sollte ein AID-System empfohlen werden. Neben der körperlichen Seite können aber auch ethnische oder soziale Ungleichheiten abgemildert werden.
Auswahl eines geeigneten Systems
Welches System für wen in Frage kommt, ist individuell abhängig, denn die Systeme unterscheiden sich in dem, worin sie besonders gut sind. Der Fokus dabei sollte aber nicht auf der TiR der einzelnen Systeme liegen. Die TiR sei bei fast allen Systemen ähnlich, berichtete Kröger, denn hier läge eine große Base vor. Sinnvoller ist es, Systeme anhand der Präferenzen und Notwendigkeiten der jeweils Betroffenen auszuwählen. So sind für Jugendliche gemäß der INSPIRE-Studie vor allem physische Features, Tragbarkeit und Komfort wichtig, während Erwachsene und Eltern den Fokus mehr auf die Sicherheit und Zuverlässigkeit der Systeme legen. Bei Kindern hingegen, spielt auch eine unbeeinträchtigte Entwicklung und die Teilhabe am normalen Alltagsleben eine große Rolle.
Für die Auswahl der Systeme gibt es im englischsprachigen Raum bereits mit DiabetesWise ein System, das bei der Entscheidungsfindung hilft. In Europa gibt es ein derartiges Tool noch nicht. Helfen können bei der Entscheidung aber Steckbriefe der verschiedenen Systeme, die der Verein AG Diabetes + Technologie (AGDT) auf seiner Website kostenfrei zur Verfügung stellt.
Die Psychologie hinter Effekten der AID-Systeme
Bei Paul zeigte sich der Erfolg des AID-Systems bereits innerhalb kurzer Zeit. Beim Kontrollbesuch nach einigen Wochen erlebte der behandelnde Diabetologe einen ausgewechselten Jugendlichen. Die HbA1c-Werte waren im Normbereich und auch Paul selbst war verändert. Das AID-System hatte ihm ein Stückweit mehr Freiheit gegeben, denn er trug nun nicht mehr allein die volle Verantwortung für seinen Diabetes. Mit dem System hatte er einen technischen Helfer an seine Seite bekommen, der ihm ein Stück Normalität zurückgeben konnte. Das ist ein großer Vorteil der AID-Systeme für Betroffene und bei Kindern auch ihre Eltern.
Pauls Verhaltensänderung ist nicht erstaunlich, wie auch im Vortrag der Psychologin Karin Lange von der MHH in Hannover deutlich wird. „Selbstmanagement kann überfordern - kurzfristig, aber auch über Jahre“, berichtet sie. Der Kompass im Leben müsse immer wieder auf den Diabetes ausgerichtet werden. „Den Begriff »Diabetes Distress« finde ich [in diesem Kontext] ganz wichtig, weil er häufig vermixt wurde mit Depressionen. […] Wenn jemand nicht mehr kann, weil er einfach überfordert ist, weil es einfach zu viel ist, dann ist er nicht unbedingt depressiv. […] Da brennen eher Menschen aus“, sagte sie aus psychologischer Sicht. Ein AID-System kann an der Stelle Hilfe und Sicherheit bieten, Freiheit von Angst und gleichzeitig Entlastung. Das zeigen auch Studien mit Menschen über 65 Jahren, die ein AID-System nutzen. Die diabetesbedingte Belastung nahm bei ihnen innerhalb kurzer Zeit ab. Dafür braucht es aber gute Schulungen, eine gute Betreuung und Zeit. Wenn all das zusammenkommt, können AID-Systeme für alle Altersgruppen Vorteile bringen.
*Anm. Redaktion: Name fiktiv