
Hintergrund:
COVID-19 hat viele Gesichter. Es kann schwere Lungenerkrankungen auslösen, Gefäße angreifen und das kardiovaskuläre System schädigen, neurologische Probleme verursachen, die Nieren schädigen, die Bauchspeicheldrüse attackieren und vieles mehr. Gerade letzteres wurde in den letzten Monaten viel diskutiert: Kann COVID-19 Diabetes auslösen?
Erstdiagnose Diabetes nach COVID-19
Etwa 15% der hospitalisierten COVID-19 Patientinnen und Patienten werden nach durchstandener Erkrankung neu mit Diabetes diagnostiziert. Wie statistisch signifikant diese Korrelation ist, ist umstritten. Auch, weil eine der Eintrittspforten für SARS-CoV-2 das ACE2 (Angiotensin-konvertierendes Enzym 2)-Protein ist. Dieses wird in auf der Bauchspeicheldrüse nach bisherigen Erkenntnissen aber nur in geringen Mengen exprimiert. Das gilt auch für einen speziellen Subtyp von Zellen in der Bauchspeicheldrüse, den Beta-Zellen. Sie produzieren das für den Glukosestoffwechsel notwendige Insulin. Werden sie geschädigt oder zerstört, sinkt die Insulinproduktion und Diabetes mellitus kann entstehen.
Schädigung der Beta-Zellen durch Infektion
Als ein Risikofaktor für Diabetes gelten schon länger schwere Infektionen, die diese Beta-Zellen schädigen könnten. Dabei könnte entweder ein Virus direkt die Zelle schädigen oder eine Autoreaktivität von T-Zellen verantwortlich für die Schäden sein. Beide Konzepte sind möglich und wurden auch für COVID-19 diskutiert. Die niedrigen ACE2-Level bei sowohl Beta-Zellen als auch Alpha- oder Delta-Zellen der Bauchspeicheldrüse ließen vermuten, dass zumindest das Virus SARS-CoV-2 Beta-Zellen nicht infizieren könnte.
Zielsetzung:
Dieser Frage hat sich nun ein internationales Forschungsteam unter Leitung der Standford University School of Medicine angenommen. Die zugehörige Veröffentlichung erschien im Fachjournal » Cell Metabolism«. Ziel der Wissenschaftler war es, herauszufinden, wie viel ACE2 wirklich auf den verschiedenen Zellen der Bauchspeicheldrüse zu finden war und welche anderen möglichen Eintrittspforten für SARS-CoV-2 auf den Zelloberflächen vorhanden sein könnten.
Eintrittspforten für SARS-CoV-2
Es war bereits bekannt, dass auch Proteine wie TMPRSS2 (Transmembran Serinprotease 2), NRP1 (Neuropilin 1) und TFRC (Transferrin Rezeptor Protein) als Eintrittspforte für das Virus dienen könnten. Wäre eines davon möglicherweise die Eintrittspforte für SARS-CoV-2 auf Beta-Zellen, könnte Patientinnen und Patienten mit schweren Verläufen eventuell durch einen Inhibitor des Co-Rezeptors geholfen werden. Als besonders aussichtsreicher Kandidat galt für die Forschenden NRP1. Für diesen Co-Rezeptor gibt es mit EG00229 bereits einen selektiven Antagonisten.
So sollte indirekt eine mögliche Erklärung gefunden werden, warum etwa 15% der hospitalisierten COVID-19 Patientinnen und Patienten anschließend neu mit Diabetes diagnostiziert werden.
Methodik:
In mehreren Schritten und Untersuchungen testete das Team, welche Proteine auf bzw. in den Zellen in der Bauchspeicheldrüse vorhanden sind und in welchen Mengen sie vorkommen. Sie fokussierten sich dabei auf die bereits bekannten Proteine, die in früheren Studien als mögliche oder wahrscheinliche Eintrittspforten für SARS-CoV-2 berichtet worden waren: ACE2, TMPRSS2, NRP1, TFRC und FURIN.
Zunächst wurde mittels früher bereits publizierter Single-Cell RNA Sequencing Datasets untersucht, ob diese Proteine überhaupt dort exprimiert werden. Anschließend testeten die Wissenschaftler in verschiedenen Co-Staining-Verfahren, auf welchen Zellen der Bauchspeicheldrüse diese Proteine vorkommen. Dabei fokussierten sie sich auf Alpha- und Beta-Zellen als wichtigste Zellen bei Diabetes. Um die Ergebnisse zu bestätigen, wurden zusätzlich Antikörpertests gegen die jeweiligen Proteine eingesetzt.
Anschließend untersuchten die Forschenden ex vivo an Spenderzellen von einigen non-COVID-19- und einigen COVID-19-Patientinnen und Patienten, welche Proteine vorhanden waren, welche nicht und wie sich die Exprimierung der verschiedenen Proteine zwischen den beiden Gruppen unterscheidet. Inselzellen von gesunden Spendern wurden künstlich mit SARS-CoV-2 oder Teilen des Virus infiziert, entweder nach Inkubation mit EG00229 oder ohne Zugabe von EG00229.
In einem letzten Schritt wurde getestet, inwieweit die Infektion die Zellfunktion beeinflusst. Dafür wurden Insulingehalt und Glukose-stimulierte Insulin Sekretion (GSIS) mittels funktionalem Assay für Beta-Zell-Insulinfreisetzung bestimmt. Ebenso testeten die Forschenden mittels Phosphoproteomics, ob sich eine Infektion mit SARS-CoV-2 oder seinem Spikeprortein auf regulatorische Kinasen auswirken und ob Apopotose-artige Signalwege durch die SARS-CoV-2-Infektion in Gang gesetzt wurden. Dafür nutzten sie Kinase Set Enrichtment Analysen (KSEA).
Ergebnisse:
ACE2, NRP1, TFRC, TMPRSS2 und FURIN gelten alle als mögliche Eintrittspforten für SARS-CoV-2 in menschliche Zellen. In der Bauchspeicheldrüse konnten die Forschenden sowohl ACE2 als auch TMPRSS2-Transkripts bei Beta- und Alpha-Zellen messen. Beide Level waren jedoch sehr niedrig. NRP1, TFRC und FURIN hingegen wurden von den Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse weit verbreitet exprimiert. Besonders NRP1 und TFRC zeigten robuste Level für Beta-Zellen, nicht aber für Alpha-Zellen. In den Antikörpertests wurden diese Ergebnisse bestätigt.
Erhöhte NRP1-Expression bei COVID-19
Im Vergleich von non-COVID-19-Patientinnen und -Patienten zu COVID-19-Patientinnen und -Patienten hielten diese Untersuchungsergebnisse stand: Bei COVID-19-Infizierten war die NRP-1-Expression erhöht im Vergleich zu den gesunden Gegenproben. Das könnte, so die Forschenden, entweder durch die Infektion ausgelöst sein oder bereits vor der Infektion bestanden haben.
Niedrigerer Insulin-Gehalt
Auch beim Insulin- und GSIS-Gehalt fielen Unterschiede auf: Wurden Zellen in vitro mit SARS-CoV-2 infiziert, hatten sie anschließend einen deutlich niedrigeren Insulin- und GSIS-Gehalt. Behandelten die Forschenden sie aber vorab mit dem NRP1-Antagonisten EG00229, war dieser Effekt nicht mehr messbar und das Gegenteil der Fall. In den Phosphoproteomicstests zeigte sich, dass sowohl Spikeprotein als auch das Virus apoptotische Kinasen induzieren. Kinasen, die als Stressresponder gelten, wie MAP (Mitogen-Activated Protein)-Kinasen, JNK/p38 (MAPK8/11) und Cytoskeleton reorganizing p21-activated Kinasen (PAK) waren hochreguliert, während viele Proteine der Kinase-C-Familie herunter reguliert waren.
Fazit:
In ihrer Studie gelang es dem internationalen Forscherteam zu zeigen, dass Zellen der Bauchspeicheldrüse auch Proteine exprimieren, die als Eintrittspforte für SARS-CoV-2 dienen können. Zwar war das hauptsächlich bekannte Protein ACE2 nur in geringem Maße exprimiert, andere Proteine wie NRP1 hingegen fanden sich gerade bei den Beta-Zellen in den Inseln der Bauchspeicheldrüse in hohen Mengen. Da dies jedoch bei anderen Zellen der Bauchspeicheldrüse wie beispielsweise den Alpha-Zellen nicht der Fall war, vermutet das internationale Team, dass ein SARS-CoV-2-Tropismus für Beta-Zellen vorliegen könnte.
Schutz durch Co-Rezeptor-Antagonisten?
Dass sich gleichzeitig eine Infektion der Beta-Zellen durch SARS-CoV-2 verhindern ließ, wenn diesen Zellen in vitro vorab anti-NRP1-Inhibitoren zugegeben wurden, lässt vermuten, dass Beta-Zellen der Patientinnen und Patienten bei schwerem COVID-19-Verlauf eventuell so geschützt werden könnten. Unklar ist jedoch weiterhin, wie das Virus überhaupt erst bis zur Bauchspeicheldrüse gelangen kann.
"Ob sich der Zuckerstoffwechsel nach einer überstandenen Infektion bei allen COVID-19-Patientinnen und -Patienten wieder normalisiert und ob und wie häufig ein bleibender Diabetes entstehen kann, lässt sich nach derzeitiger Studienlage nicht mit Sicherheit sagen", erklärt Pathologe Matthias Matter von der Universität Basel und vom Universitätsspital Basel, Leiter der Anteile der Studie, die in Basel durchgeführt wurden. Es gebe Hinweise, dass bei Betroffenen mit Long-COVID, also anhaltenden Beschwerden nach der Infektion, auch mehrere Wochen bis Monate danach noch ein Diabetes feststellbar sei. Eine Möglichkeit zu entwickeln, bleibende Schäden der Bauchspeicheldrüse zu verhindern, sei daher sinnvoll.