
Menschen mit Diabetes mellitus haben ein hohes Risiko, Folgeerkrankungen zu entwickeln. Diese können unter anderem die Augen, das Nervensystem, die Haut oder die Nieren betreffen. Bei Typ-2-Diabetes allein liegt die Lebenszeitprävalenz für diabetische Nierenerkrankungen, sogenannte diabetische Nephropathien, bei vermutlich 30% bis40%. Wann und ob überhaupt eine diabetische Nephropathie bei den jeweiligen Patientinnen und Patienten auftritt, lässt sich häufig nicht vorhersagen. Tritt sie auf, kann sie sich bis zu einer terminalen Niereninsuffizienz (englisch end-stage renal disease, kurz ESRD) entwickeln.
Lebensgefährliche Komplikation ESRD
Es gibt zwar Risikofaktoren für diabetische Nephropathien und ESRD, aber epidemiologische Studien zeigten, dass die Zeitspanne, bis sich bei Diabetikerinnen und Diabetikern eine ESRD entwickelt, unterschiedlich ist. Die ESRD zählt zu den lebensgefährlichen Komplikationen bei Diabetes. Sie geht einher mit einer deutlich reduzierten Lebensqualität, einer höheren Mortalität und erhöhten Kosten für das Gesundheitssystem, denn meist ist eine chronische, renale Ersatztherapie (RRT) wie die verschiedenen Dialyseformen notwendig.
Diabetes als Risikofaktor?
Schätzungen zufolge ist die Hälfte der von ESRD Betroffenen zum Zeitpunkt, zu dem sie mit RRT beginnen müssen, auch an Diabetes erkrankt. Die Inzidenzraten für RRT bei Patientinnen und Patienten mit Diabetes und ohne Diabetes schwankt in den meisten derzeit publizierten Studien von 59:100.000 Personenjahren bis hin zu 678:100.000 Personenjahren. Das Team von Heiner Claessen vom Leibniz Center für Diabetesforschung an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf hat bereits in der Vergangenheit einen kleineren Datensatz zur Inzidenzrate von ESRD bei Menschen mit und ohne Diabetes analysiert. In einer groß angelegten neuen epidemiologischen Studie haben sie sich nun noch einmal dem Thema gewidmet und Krankenkassendaten aus mehreren Jahren analysiert. Die Studie wurde 2021 im Journal »Diabetes Care« veröffentlicht.
Zielsetzung
Ziel der Studie war es, die Inzidenzraten von ESRD zu analysieren. Zusätzlich sollte untersucht werden, ob es zeitliche Trends gibt zwischen dem ersten Einsatz von RRT bzw. dem Auftreten von ESRD sowie dem Alter und dem Geschlecht von ESRD-Betroffenen, und ob sich diese zwischen Menschen mit und ohne Diabetes unterscheiden.
Methodik
Analysiert wurden in der Studie von Claessen et al. anonymisierte, deutschlandweite Daten von zwei großen Krankenversicherungen, der AOK (87% der Gesamtdaten) und der Betriebskrankenkasse (13% der Gesamtdaten). Dadurch wurden die Daten von ungefähr 25 Millionen Einwohnenden Deutschlands - das entspricht etwa 30% der deutschen Bevölkerung - untersucht. Der Studienzeitraum umfasste die Jahre 2009 bis 2017, mit jeweiligem Beginn zum 1. Januar und Ende am 31. Dezember.
Eingeschlossen wurden Menschen, die mindestens in drei von vier Quartalen die Definition eines Diabetes erfüllten (ICD-10 Codes E10-E14), mindestens zwei antihyperglykämische Medikamente verschrieben bekommen hatten oder mindestens eine Diabetesdiagnose erhalten und ein antihyperglykämisches Medikament verschrieben bekommen hatten sowie eine Blutzuckermessung oder HbA1c-Messung im selben Quartal hatten.
Ebenso wurden Menschen eingeschlossen, bei denen zwischen dem 1. Januar 2010 und dem 31. Dezember 2016 erstmalig eine chronische RRT benötigten. Die Daten aller Patientinnen und Patienten mit RRTs flossen unabhängig von den zugrundeliegenden Erkrankungen in die Analysen ein. Ausgeschlossen wurden Menschen mit Zustand nach Nierentransplantation.
Statistische Analyse
Alle Daten wurden hinsichtlich Alter und Geschlecht klassifiziert mit Altersklassen von 0 bis 39 Jahren, 40 bis 49 Jahren, 50 bis 59 Jahren, 60 bis 69 Jahren, 70 bis 79 Jahren und 80 Jahren und älter.
Die Inzidenzraten für chronische RRT wurden anhand der ersten chronischen RRT pro Person und für jedes Jahr des Beobachtungszeitraums ermittelt und mit einem 95%-Konfidenzintervall (95%-KI) berechnet, ebenso das relative Risiko (RR). Für zeitliche Trends wurden Poisson-Regressionsmodelle angewendet.
Ergebnisse
Insgesamt wurden 73.638 Menschen mit erstmaliger chronischer RRT in die Studie eingeschlossen. Davon waren 44.196 Männer (60,0%) und 29.442 Frauen (40,0%). Das Durchschnittsalter lag bei 71,3 Lebensjahren und 60,6% der Probanden erfüllten die Diagnosekriterien für Diabetes. Etwa drei Fünftel der Studienteilnehmenden (59,3% Männer und 62,2% Frauen) waren bereits zu Beginn des ersten chronischen RRTs an Diabetes erkrankt. Die Proportionen blieben während des gesamten Studienzeitraums gleich. Auch die Diabetesprävalenz blieb konstant.
Die Inzidenzrate (pro 100.000 Personenjahren) betrug für die chronische RRT in der Diabetesgruppe 135,0 (95%-KI 124,7-145,3) im Jahr 2010 und 110,2 (95%-KI 102,1-118,4) in 2013 sowie 106,7 (95%-KI 99,4-113,9) in 2016. In der Nichtdiabetesgruppe lag sie mit 21,3 (95%-KI 20,7-21,9) in 2010, 18,4 (95%-KI 17,9-19,0) in 2013 und 19,7 (95%-KI 19,1-20,3) in 2016 substantiell niedriger. Über die gesamte Studienperiode wurde ein konstanter, jährlicher Abfall der Inzidenzraten bei Diabetikern um 3% (RR pro Kalenderjahr 0,972 (95%-KI 0,965-0,979; p<0,0001) für beide Geschlechter und fast allen Altersklassen beobachtet. Ausgenommen hiervon ist nur die Altersgruppe der Männer jünger als 40 Lebensjahre (RR 0,998 [0,971-1,026]; p=0,91).
Bei Frauen jünger als 40 Lebensjahre (p=0,0003) und Menschen mit 80 Lebensjahren oder älter (p<0,0001) sank die Inzidenzrate signifikant. Sonst konnte kein signifikanter Unterschied hinsichtlich des Alters festgestellt werden. Personen mit chronischem RRT und Diabetes waren auffällig oft älter mit einem Alter des ersten RRTs von 73,0 Lebensjahren (Durchschnittsalter bei erstem chronischem RRT gesamt: 71,3). Über den gesamten Verlauf des Beobachtungszeitraums stieg das Alter, indem zuerst eine chronische RRT notwendig wurde, in der Diabetikergruppe leicht an von 72,6 auf 73,5 Jahre. In der Gruppe der Nichtdiabetiker sank es hingegen von 69,2 auf 67,6 Jahre. Im Geschlechtervergleich lag die Inzidenzrate bei Männern etwa doppelt so hoch wie bei Frauen, mit den größeren Unterschieden in den Subpopulationen mit bzw. ohne Diabetes.
Insgesamt lag die Inzidenzrate für chronische RRT bei Diabetikern sechsmal höher als bei Nichtdiabetikern (114,1 pro 100.000 Personenjahren [95%-KI 110,0-117,2]). Das relative Risiko beim Vergleich der chronischen RRT-Inzidenzen lag zwischen Diabetes- und Nichtdiabetesgruppe bei 6,3 (5,8-6,9) im Jahr 2010, 6,0 (5,5-6,5) im Jahr 2013 und 5,4 (5,0-5,8) im Jahr, 2016. Mehr als vier Fünftel der Inzidenzen des chronischen RRT konnten auf einen Diabetes zurückgeführt werden. Über die Gesamtpopulation gerechnet stieg die Inzidenz für chronische RRT mit zunehmendem Alter signifikant an. Ein weiterer signifikanter Risikofaktor war das männliche Geschlecht (gesamt p<0,0001). Für das relative Risiko konnte jedoch kein signifikanter Unterschied zwischen der Diabetesgruppe und der Nichtdiabetesgruppe detektiert werden (p=0,29).
Fazit
In ihrer Beobachtungsstudie gelang es dem Forscherteam zu zeigen, dass die Inzidenz chronischer RTTs unter Diabetikerinnen und Diabetikern signifikant höher ist. Die Inzidenzraten sind in der Diabetikergruppe sogar fast sechsmal so hoch wie in der Bevölkerungsgruppe, die nicht an Diabetes erkrankt ist. Zeitliche Trends konnten jedoch nicht detektiert werden. Auch das Alter und Geschlecht hatten keinen Einfluss darauf, dass über den Beobachtungszeitraum die Inzidenzraten sanken.
Im Vergleich zu anderen Studien scheinen die gesamten RRT-Inzidenzen zu steigen. Das lässt sich möglicherweise, so das Team um Claessen, damit erklären, dass die AOK-Daten den größten Anteil der analysierten Gesamtdaten ausmachen. Dort sind besonders Menschen versichert, die kardiovaskuläre Vorerkrankungen und Diabetes haben, sowie viele Menschen mit Migrationshintergrund und Raucher. All diese Faktoren könnten es befördern, dass Nierenerkrankungen und ESRD entstehen.
Die Aussagekraft der Studie wird, wie die Autorinnen und Autoren selbst schreiben, dadurch eingeschränkt, dass es potenziell keine klare Grenze zwischen akuter und chronischer Dialyse gibt. Das macht sich besonders bei den Menschen bemerkbar, die innerhalb von drei Monaten nach Beginn der Dialyse verstarben. Auch fehlen wichtige weitere klinische Marker wie die Dauer der Diabeteserkrankung, die glomeruläre Filtrationsrate, der Blutdruck und Lifestylefaktoren wie Rauchen. Bei der Studie handelt es sich jedoch um die erste deutschlandweite, populationsbasierte Studie zu diesem Thema, die fast ein Drittel der deutschen Bevölkerung einschließt.