
Der Glukosestoffwechsel ist ein fein geregeltes System. Neben nahrungsbedingten Schwankungen unterliegt der Insulinspiegel auch tageszeitenabhängigen Schwankungen. Entsteht ein Diabetes mellitus, gerät dieses fein justierte Gleichgewicht aus dem Takt. Zwar kann ein Teil des Glukosestoffwechsels mithilfe von gespritztem Insulin wieder hergestellt werden, viele Betroffene werden aber dennoch regelmäßig hypo- oder hyperglykämisch. Das stellt nicht nur Risiken für die Gesundheit dar, es schränkt die Betroffenen auch im Alltag ein.
Mithilfe von verschiedenen Insulinregimes, Insulinpumpen, kontinuierlich messenden Blutzuckersensoren und Co. wird seit Jahren versucht, den natürlichen Insulinrhythmus des Körpers nachzubilden. Bedingt gelingt das auch. Die meisten Systeme bestehen jedoch aus voneinander abgekoppelten Sensoren und Pumpen. Das bedeutet, Betroffene müssen weiterhin manuell ihre Insulinpumpe an die vom Blutzuckersensor gemessenen Werte anpassen.
Closed-Loop mit Open-Source-Systemen
Vollständige Closed-Loop-Systeme gibt es kaum, häufig wohl aus rechtlichen Gründen. Um diese Lücke zu schließen, haben Betroffene eigene Systeme entwickelt, sogenannte Open-Source- oder Do-It-Yourself-Systeme, auch Automated Insulin Delivery System (kurz AID) genannt. Sie funktionieren als Closed-Loop, bei dem die Sensorenmessungen direkt an die Insulinpumpe weitergegeben werden und so mittels fester Algorithmen die Insulinabgabe der Pumpe an den tatsächlichen Echtzeitblutzucker im Körper angepasst wird.
Die Systeme gelten als besonders effektiv darin, die „Time in range“ (TIR), also die Zeit, die Diabetikerinnen und Diabetiker innerhalb der Zielblutzuckerwerte bleiben, wirksam und sicher zu erhöhen. Dadurch kann das Hypoglykämierisiko sinken. Weltweit nutzen schätzungsweise mehr als 10.000 Menschen bereits derartige Systeme, Tendenz steigend.
Limitierte Evidenzbasis
Trotzdem gibt es sie auf dem freien Markt kaum zu kaufen - nur wenige Systeme haben überhaupt eine Zulassung. Unter medizinischem Personal besteht in diesem Bereich ebenfalls eine Wissenslücke, denn die Systeme basieren häufig auf Open-Source-Anwendungen, für die es keine professionellen Anleitungen gibt. Dadurch kann im klinischen Setting nur wenig unterstützt werden. Gute randomisiert-kontrollierte Studien fehlen ebenfalls. Selektionsbias und limitierte Evidenz erschweren bei bestehenden Studien die Datenlage. Zusätzlich sind die Systeme zumeist hoch individualisiert und daher nur bedingt vergleichbar. Real-World-Beobachtungen weisen jedoch darauf hin, dass Wirksamkeit und Sicherheit der Systeme vor allem die Lebensqualität und den Schlaf der Betroffenen deutlich verbessern.
Dieses Problem hat auch ein internationales Wissenschaftsteam gesehen und sich dem Thema gewidmet. Im Journal »Lancet Diabetes & Endocrinology« haben sie nun ein Statement eines internationalen Konsenses zu dem Thema veröffentlicht.
Zielsetzung
Die Konsenserklärung soll medizinischem Personal helfen, besser mit Open-Source-Systemen im klinischen Setting umgehen zu können. Ziel ist es zum einen eine detaillierte klinische Handlungsempfehlung und zum anderen eine Übersicht über aktuelle Evidenz, die Technologien und die ethischen und rechtlichen Überlegungen zu diesen Systemen zu geben.
Methodik
Die internationale Konsenserklärung wurde von einer Gruppe aus 44 Health-Care-Expertinnen und Experten sowie Rechtsexpertinnen und -Experten mit klinischer Erfahrung und Expertise erarbeitet. Sie stammen aus mehr als 20 Ländern. Gemeinsam haben sie eine Best Practice Guidance sowie ein Statement zu Open-Source-AIDs entwickelt. Zugrunde gelegt wurde die aktuelle Studienlage.
Ergebnisse
Es gibt verschiedene Algorithmen, die in Open-Source-AIDs genutzt werden. Sie laufen auf unterschiedlichen Betriebssystemen und sind seit einigen Jahren meist Smartphone-basiert. Das ursprüngliche Ziel der Systeme war es, Hypoglykämien vorherzusagen und zu verhindern. Mittlerweile sollen sie auch Hyperglykämien vermeiden und sind kompatibel mit vielen herkömmlichen Insulinpumpen und kontinuierlichen Glukosesensoren.
Ersten Studien zufolge wirken sich die Open-Source-AIDs tatsächlich positiv auf die Schlafqualität und die Lebensqualität aus. Sie reduzieren beispielsweise die Angst davor, zu unterzuckern.
In Silico wurden bereits einige Open-Source-AID-Algorithmen mit UVA/Padova Typ 1 Diabetessimulatoren getestet. Die Studienlage ist zwar gering, lässt aber laut der Autoren vermuten, dass Open-Source-AIDs sicher sind. Betroffene, die diese Systeme nutzen, weisen eine erhöhte TIR auf. Auch ihr HbA1c ist besser und über alle Altersgruppen hinweg treten weniger Hypoglykämien und Hyperglykämien auf. Es gibt jedoch bisher keine randomisiert-kontrollierten Studien, die Open-Source-AIDs mit kommerziell verfügbaren Systemen direkt vergleichen. Den vorhandenen Beobachtungsstudien fehlt die Kontrollgruppe und vermutlich besteht ein Selbstselektionsbias, da Open-Source-AIDs typischerweise von bestimmten Teilnehmenden verwendet werden.
Vor- und Nachteile von Open-Source- und kommerziellen AIDs
Sowohl kommerzielle AID- als auch Open-Source-AID-Systeme bringen einige Vor- und Nachteile mit sich. Dazu zählen mögliche Limitierungen hinsichtlich der Nutzbarkeit, der Einstellungen, der Stabilität der Verbindung zwischen Sensor und Insulinpumpe, des Supports, der Nutzervoraussetzungen, etc.
Nutzung und Verfügbarkeit
Zum jetzigen Zeitpunkt, berichten die Studienautoren, seien die kommerziellen AIDs auf bestimmte Kombinationen aus Insulinpumpen und Glukosesensoren limitiert. Manche Krankenversicherungen tragen nur die Kosten bestimmter Systeme oder Betroffene müssen zuzahlen.
Auch unterscheiden sich die Systeme hinsichtlich ihrer Nutzung. Während kommerzielle AIDs häufig die Insulinpumpe als User-Interface verwenden, setzen Open-Source-AIDs gehäuft auf Smartphones. Zusätzlich lassen sich bei kommerziellen Systemen weniger Einstellungen individualisieren als bei den Open-Source-Varianten. Dafür besteht bei kommerziellen Systemen häufig ein klassisches Unterstützungsnetzwerk über die Hersteller, während Open-Source-AIDs frei verfügbar über GitHub heruntergeladen werden können und Betroffene bei Problemen Hilfe online oder in der erfahrenen Community suchen müssen.
Rechtliche Aspekte
Auch vom rechtlichen Aspekt her gibt es Unterschiede zwischen den beiden Systemgruppen: Kommerzielle AIDs unterliegen regulatorischen Vorgaben und müssen, bevor neue Versionen freigegeben werden, strenge Tests bestehen. Auch Open-Source-Versionen werden zwar meist gründlich geprüft, unterliegen jedoch nicht den gleichen gesetzlichen Bestimmungen. Ansprechpartner bei Problemen sind hier das Entwicklerteam oder die Community, während es bei kommerziellen Systemen die Hersteller sind. Auch für medizinisches Personal ist die Haftungssituation bei Open-Source-AIDs oft unklar. Je nach Land und System ist nicht eindeutig geregelt, wer haftet, sollte es zu Schäden kommen, wenn Open-Source-AIDs genutzt werden und die Nutzung durch medizinisches Personal unterstütz wird.
Sicherheit
Der Sicherheitsaspekt spielt bei AIDs eine große Rolle. Sie sollen vor allem vor Hypoglykämien schützen. Wie gut das funktioniert, hängt davon ab, wie sicher und wirksam die eingesetzten Glukosemonitoringsysteme - die Sensoren - arbeiten. Open-Source-Systeme beispielsweise berechnen anhand der gemessenen Werte voraussichtliche Blutzuckerwerte und geben darauf basierend Insulin ab. Bricht die Verbindung zwischen Sensor und Pumpe ab, könnte so theoretisch zu viel Insulin abgegeben werden. Das wird jedoch in der Regel unterbunden, da die Systeme jeweils nur 15 bis 60 Minuten in dem programmierten Setting zu Basalraten oder Mikroboli laufen und bei fehlender Verbindung auf die vorprogrammierten Open-Loop-Einstellungen zurückfallen. Dadurch sollen Hypoglykämien vermieden werden. Einige kommerzielle AIDs arbeiten ähnlich. Sie erlauben eine nutzeradaptierte, aktive Insulintherapie, die ebenfalls Insulin-Stacking durch wiederholte Boli vermeiden soll.
Nutzerfreundlichkeit
Open-Source- Systeme setzen viel Eigeninitiative voraus. Das stellt eine der Limitierungen der Systeme dar. Betroffene, die diese Systeme nutzen, müssen Updates manuell einspielen. Die Parameteranpassung baut auf Verständnis der Systeme und erfordert Zeit, Eigeninitiative und Arbeit der Betroffenen. Sie müssen deshalb mehr Eigenmotivation, Engagement und Gesundheits- und Digitalbildung mitbringen, um solche Systeme nutzen zu können.
Das kann zwar auch für mehr Eigenständigkeit sorgen und die Autonomie der Betroffenen erhöhen, es kann jedoch auch überfordern. Deshalb empfehlen die Autoren, Betroffene in ihrer Eigenständigkeit zu unterstützen und ihnen zu helfen, die Vor- und Nachteile der Systeme gut zu verstehen. Dazu zählt auch, die rechtlichen Aspekte wie die fehlende gesetzliche Regulierung von Open-Source-Systemen zu erwähnen.
Best Practice Empfehlungen
Neben einer ausführlichen Aufklärung, damit Diabetikerinnen und Diabetiker eine informierte eigene Entscheidung für oder gegen bestimmte Systeme treffen, empfehlen die Studienautoren, den Betroffenen die jeweiligen Systeme gut zu erklären. Diabetikerinnen und Diabetiker sollten verstanden haben, was jede einzelne Einstellung an Open-Source-AIDs bedeutet und wie sie die einzelnen Werte eigenständig bewerten können, bevor ein Loop-System geschlossen wird. Das Studienteam hat dafür einige Empfehlungen herausgearbeitet.
Training und Zubehör
Open-Source-AIDs haben keine durch Firmen erstellte und getestete Trainingsprogramme. Für die meisten Open-Source-Systeme gibt es aber umfangreiche Peer-Unterstützungsnetzwerke in den sozialen Medien, lokale Gruppen und Treffen von Betroffenen und teilweise kleine Programme aus vorab zu absolvierenden Übungen und Lerneinheiten online.
Wird für Open-Source-AID-Systeme zusätzliche Software und/oder Hardware nötig, so empfehlen die Autoren ausdrücklich, Betroffene über Risiken aufzuklären, wenn sie medizinische Geräte gebraucht kaufen. Soweit möglich, sollten medizinische Gerätschaften für Open-Source-AIDs nur verwendet werden, solange sie innerhalb der Garantiezeit liegen.
Individualisierung der Einstellungen
Bevor ein Open-Source-AID in Betrieb genommen wird, müssen die Einstellungen personalisiert werden. Diese hängen von den individuellen Umständen und Therapiezielen der Betroffenen ab. Zwar besagen die internationalen Empfehlungen für die TIR, dass sie über 70% liegen soll. Das ist jedoch häufig gerade zu Beginn für viele Betroffene nicht möglich. Das Studienteam empfiehlt, Glukosezielwerte von ca. 0-20 mg/dL (6,0-6,5 mmol/L) als Anfangspunkt zu wählen. Das vorrangige Ziel ist es, zunächst die Prävention von Hypoglykämien zu optimieren und erst nach und nach die Glukosezielwerte anzupassen. Zielwerte von etwa 110-120 mg/dL (6,0-6,5 mmol/L) können gute Startwerde sein. Zusätzlich empfehlen sie, dass
- die Zeit <70 mg/dL (3,9 mmol/L) auf <4%,
- die Zeit <54 mg/dL (3,0 mmol/L) auf <1% und
- der Variationskoeffizient <36% sowie
- der HbA1c maximal bei 7,0% (53 mmol/mol) liegen sollten.
An Krankheitstagen, während einer Schwangerschaft, in Fastenzeiten, für Sporteinheiten und andere Sonderfälle, die den Blutzucker- und Insulinspiegel beeinflussen können, müssen die Einstellungen angepasst werden. Die vollständigen Empfehlungen und Praxisanleitungen sind der Originalpublikation zu entnehmen.
Fazit
Open-Source-AID-Systeme bieten viele Vorteile. Zwar sollten sie kommerziellen Optionen nicht generell vorgezogen werden, es gibt aber starke ethische Gründe dafür, Open-Source-AIDs zu nutzen. Einen ersten Rat und einen internationalen Konsens kann die aktuelle Studie bieten, um medizinischem Personal zu helfen, Patientinnen und Patienten zu unterstützen, sich für oder gegen ein System zu entscheiden.
Allerdings sind die aktuellen gesetzlichen Regelungen für Open-Source-AIDs in vielen Ländern zu vage gehalten. Deshalb sind hier Nachjustierungen nötig.