
In den letzten 20 Jahren ist die Zahl der Menschen, die einen Prädiabetes entwickelt haben, auf mittlerweile mehr als ein Drittel der Erwachsenen in Industrieländern wie den USA angestiegen. Das geht mit vielen Gesundheitsrisiken einher wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nierenerkrankungen und mehr.
Gewichtsreduktion wird nur bedingt erreicht
Ein wichtiger Aspekt beim Prädiabetes ist die Ernährung. Als erster Schritt in der Therapie wird meist eine Lebensstilmodifikation empfohlen. Diese beinhaltet eine kalorienreduzierte Ernährung, Gewichtsreduktion und mehr körperliche Bewegung. Obwohl auf den ersten Blick logisch, erreichen viele Menschen mit einer kalorienreduzierten Ernährung nicht die gewünschten Langzeiteffekte. Teilweise lässt sich das durch eine schlechtere Langzeitcompliance und metabolische Resistenz erklären, die eine Gewichtsreduktion erschweren.
Einfluss auf postprandiale Glukoseantwort
Seit einigen Jahren steht jedoch auch etwas anderes im Fokus: die postprandiale Glukoseantwort. Sie scheint eine große und wichtige Rolle in der glykämischen Kontrolle von Betroffenen zu spielen.
Der Hauptfokus in Studien lag dazu bisher meist auf Kohlenhydraten. Dadurch lässt sich aber die Glukoseantwort nur bedingt vorhersagen. Eine Low-Carb Ernährung war beispielsweise in bisherigen Studien einer High-Carb Ernährung nicht überlegen, wenn auf die glykämische Langzeitkontrolle oder das Gewichtsmanagement geschaut wurde. Auch Ernährungsformen, die einen niedrigen glykämischen Index favorisierten, brachten keine einheitlich positiven Effekte auf Diabetes mellitus Typ 2 (T2DM). Manches schien abhängig von den Personen zu sein, die sich nach dieser Diät ernährten.
Algorithmus-bestimmte Ernährung
Ein Team vom Weizmann Institute of Science in Rehovot in Israel hat sich bereits früher mit dem Thema befasst und in einer Studie untersucht, welchen Effekt diätetische Kohlenhydrate auf die postprandiale Glukoseantwort haben. Dabei fanden sie heraus, dass sie sich zwar stark auf selbige auswirken, aber nur etwa 15% der Variabilität der glykämischen Antwort in der Studienkohorte erklären konnten. Erst, wenn sie klinische Features und Daten zum Mikrobiom im Darm der Teilnehmenden dem Algorithmus hinzufügten, konnten sie etwa die Hälfte der Unterschiede zwischen den Teilnehmenden erklären.
Würde nun ein Algorithmus die Ernährung von Menschen mit Prädiabetes bestimmen, berichtete das Team, hätte die Diät zwar vermutlich nur einen relativ niedrigen Kohlenhydratgehalt, alle anderen Faktoren und Bestandteile würden aber individuell für jede Person einzeln bestimmt werden müssen. In einer neuen Studie wollten sie nun das Thema noch einmal genauer angehen. Die Studie um Orly Ben-Yacov wurde im Journal »Diabetes Care« veröffentlicht.
Zielsetzung
Eine spezielle Ernährung kann sich auf einen Prädiabetes auswirken. Inwieweit eine von einem Algorithmus personalisierte, auf die postprandiale Glukoseantwort ausgerichtete Ernährung klinische Effekte zeigt, war das Ziel dieser Studie. Die Algorithmus-basierte Ernährung sollte dafür mit einer klassischen, in Studien meist propagierten mediterranen Ernährung verglichen werden. Der Fokus dabei lag auf der glykämischen Kontrolle und der metabolischen Gesundheit.
Methodik
Die Studie wurde als biphasische, randomisierte, kontrollierte, einfach verblindete diätetische Interventionsstudie durchgeführt. Teilnehmende wurden zwischen Januar 2017 und Januar 2019 rekrutiert. Der Interventionsteil lief für sechs Monate, gefolgt von weiteren sechs Monaten als Follow-up. Die letzten Follow-ups endeten im März 2020.
Ein- und Ausschlusskriterien
Insgesamt wurden 225 Personen eingeschlossen. Als Einschlusskriterien galten, dass mindestens zwei glykämische Kriterien für einen Prädiabetes erfüllt sein mussten. Die Nüchternplasmaglukose musste bei 100 und 125 mg/dL (5,6 und 6,9 mmol/L) liegen wie definiert in den 2010 American Diabetes Association Guidelines. Der HbA1c musste zwischen 5,7% und 6,5% (39 und 48 mmol/mol) liegen. Alle Teilnehmenden mussten zwischen 18 und 65 Jahre alt sein und eine Smartphone-App täglich eigenständig bedienen können. Ausgeschlossen wurden Menschen:
- die diabetes- oder gewichtsreduzierende Medikamente einnahmen,
- die in den letzten 3 Monaten vor Studienbeginn Antibiotika bekamen,
- mit diagnostizierten chronischen Erkrankungen oder
- mit dauerhaftem Einsatz von Medikamenten, die den Glukose- oder Energiestoffwechsel oder den HbA1c beeinflussen.
Gesundheitsscreening und CGM-Messungen
Alle Teilnehmenden durchliefen vor Studienbeginn ein Gesundheitsscreening. Dabei wurde unter anderem das Mikrobiom in Stuhlproben analysiert und kontinuierliche Glukosemonitoringsysteme (CGM) mit Sensoren eingesetzt. Die Sensoren maßen alle 15 Minuten eigenständig und für die Teilnehmenden nicht sichtbar den Blutzucker und mussten alle zwei Wochen getauscht werden.
CGM-Messungen aus der Zeit zwischen dem Gesundheitsscreening und Beginn der Intervention fungierten als Basiswerte.
Studienablauf
Nach einer ersten Einlaufphase wurden alle Teilnehmenden 1:1 jeweils in eine von zwei Gruppen randomisiert. Die eine Gruppe erhielt eine mediterrane Diät gemäß den Empfehlungen des israelischen Gesundheitsministeriums (MED-Gruppe). Die andere Gruppe erhielt eine personalisierte auf die postprandiale Glukoseantwort abzielende Ernährung (PPT-Gruppe). Für die PPT-Gruppe wurden jeweils personalisierte Diäten mithilfe des in der früheren Studie publizierten Algorithmus erstellt. Diese waren auf die jeweils prognostizierte persönliche Glukoseantwort abgestimmt und mit klinischen Features und den Ergebnissen aus der Stuhlanalyse ergänzt worden. Für alle Teilnehmenden wurden sechs prognostische Basischarakteristika erhoben: Geschlecht, Alter, Gewicht, BMI, HbA1c, Nüchternblutzucker.
In den ersten sechs Monaten wurden die Teilnehmenden durch Diätassistentinnen und -assistenten persönlich und kontinuierlich betreut. Ihre jeweilige Diätgruppe erfuhren sie am Ende des Interventionszeitraums und wurden aufgefordert, die gleiche Diät noch für sechs weitere Monate fortzusetzen. In dieser Zeit hatten sie nach neun und zwölf Monaten jeweils einen Follow-up Termin und konnten sich zwischendurch jederzeit telefonisch oder per E-Mail an die Diätassistenz wenden.
Während der Studie bereiteten die Teilnehmenden alle Mahlzeiten zuhause eigenständig zu und sollten sämtliche Nahrungsbestandteile in der App mit Mengen- oder Portionsangaben vermerken. Totale Kalorienrestriktionen oder verstärkte körperliche Aktivität wurden nicht empfohlen. Alle zwei Wochen erhielten die Teilnehmenden teilautomatisierte Feedbackreports basierend auf ihren selbst eingetragenen Mahlzeiten und der jeweiligen Kalorienaufnahme in Zusammenhang mit ihrer speziellen Diät.
Outcome
Das primäre Outcome der Studie war die tägliche Gesamtzeit mit einem CGM-Blutzuckerwert von >140 mg/dL (7,8 mmol/L), dem HbA1c und einem oralem Glukosetoleranztest.
Ergebnisse
In die Studie wurden 225 Teilnehmende eingeschlossen. Davon waren 58,7% Frauen, das Durchschnittsalter lag bei 50 ± 7 Jahre. Der durchschnittliche BMI betrug 31,3 ± 5,8 kg/m², der HbA1c 5,9 ± 0,2% (41 ± 2,4 mmol/mol) und der Nüchternblutzucker 114 ± 12 mg/dL (6,33 ± 0,67 mmol/L)). Insgesamt schlossen 200 (89%) Personen die sechs Monate lange Intervention ab. Von 177 Teilnehmenden konnten auch im 12-Monats-Follow-up Daten gesammelt werden.
Adhärenz und Zufriedenheit
Die allgemeine Adhärenz war in beiden Gruppen etwa gleich ohne signifikante Unterschiede. Gemessen mittels Scores von den Feedbackreports lag sie während der gesamten Studienzeit wöchentlich bei >80 (auf einer Skala von 0 bis 100) in beiden Gruppen. Von den Teilnehmenden stuften 62% in der MED-Gruppe und 81% in der PPT-Gruppe ihre Adhärenz als hoch, respektive sehr hoch (Scores 4 und 5 auf einer Skala von 1 bis 5) ein.
Auch mit der jeweiligen Ernährungsform waren die Teilnehmenden zum Großteil zufrieden: 75% der Teilnehmenden in der MED-Gruppe und 81% der PPT-Gruppe waren mit ihrer Ernährung während der Intervention hoch oder sehr hoch zufrieden (Score 4 und 5 auf einer Skala von 1-5).
Ernährungszusammensetzungen
Im Vergleich zu den Basiswerten aus der Zeit vor Beginn der Intervention änderte sich die tägliche Kalorienaufnahme nur gering (-227 ± 307 kcal/Tag in der MED-Gruppe und -263 ± 387 kcal/Tag in der PPT-Gruppe).
Über die sechs Monate gemittelt nahmen die Teilnehmenden pro Tag etwa 42,4% ihrer Gesamtenergie in der MED-Gruppe in Form von Kohlenhydraten auf. In der PPT-Gruppe waren es 20,4% (p<0,001). Auf Proteine entfielen 20,0% in der MED-Gruppe und 21,7% in der PPT-Gruppe (p=0,001). Die Fettaufnahme pro Tag betrug 34,8% der Energie in der MED-Gruppe und 55,8% in der PPT-Gruppe (p<0,001), die der gesättigten Fette 9,3% in der MED-Gruppe und 15,7% in der PPT-Gruppe (p<0,001). Der Ballaststoffgehalt pro Tag lag bei 15,8 ± 4,0 g pro 1.000 kcal in der MED-Gruppe und 9,6 ± 3,3 g pro 1.000 kcal in der PPT-Gruppe (p<0,001). Die Teilnehmenden nahmen damit während der Intervention in der MED-Gruppe weniger Fett zu sich, dafür aber mehr Kohlenhydrate und Proteine. In der PPT-Gruppe waren es weniger Kohlenhydrate aber mehr Proteine und Fett.
Es gab keine signifikanten Unterschiede in der körperlichen Aktivität zwischen den Gruppen (durchschnittlich 1,11 ± 1,70 h/Woche in der MED-Gruppe und 1,15 ± 1,67 h/Woche in der PPT-Gruppe; p=0,51).
Blutzuckerwerte über 140 mg/dl, HbA1c und oGTT
Durch beide Ernährungsinterventionen konnten die täglichen Blutzuckerwerte mit >140 mg/dL (7,8mmol/L) und die HbA1c-Werte gesenkt werden. Die Reduktionen waren in der PPT-Gruppe signifikant größer als in der MED-Gruppe (Zeit über 140 mg/dL: 95%-Konfidenzintervall [KI] -1,29 bis -0,66 h/Tag; p<0,001; HbA1c: 95%-KI -0,14% bis -0,02% [-1,5 bis -0,2 mmol/mol]; p=0,007).
Die 6-Monats-Veränderung der „Zeit über 140“ (Blutzuckerwerte >140 mg/dL) war mit -0,3 ± 0,8 h/Tag in der MED-Gruppe und -1,3 ± 1,5 h/Tag in der PPT-Gruppe (95%-KI -1,29 bis -0,66; p<0,001) statistisch signifikant unterschiedlich – auch hier waren die Werte der PPT-Gruppe besser als die in der Gruppe mit der mediterranen Ernährung. Die statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen konnten auch nach zwölf Monaten noch nachgewiesen werden (p<0,001).
Im oralen Glukosetoleranztest (oGTT) war jedoch zwischen den beiden Gruppen keine statistische Signifikanz messbar(p=0,8).
Sekundäre Outcomes
Auch bei den sekundären Outcomes wurden nach sechs Monaten mehrere statistisch signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen gemessen. So beispielsweise bei den 5 h PPGR-Exkursionen (95%-KI 12,3 bis 7,6 mg/ dL h, MED: Ø 3,4± 6,8; PPT: Ø 13,3 ± 10,0; p<0,001), den durchschnittlichen CGM-Glukoseleveln (95%-KI 7,0 bis 3,22 mg/dL [0,39 bis 0,18 mmol/L], MED: Ø 3 ± 8 mg/dL [0,17 ± 0,44 mmol/L]; PPT: Ø 8 ± 9 mg/dL [0,44 ± 0,50 mmol/L]; p<0,001) und der Fruktosamin-Konzentration (95%-KI 7,80 bis 1,24 mmol/L, MED:Ø 8,42 ± 11,97; PPT: 12,94 ± 12,99 mmol/L; p<0,007).
Auch die Blutfettwerte besserten sich signifikant mehr in der PPT-Gruppe als in der MED-Gruppe (p<0,05). Für alle anderen gemessenen Werte konnten keine signifikanten Unterschiede festgestellt werden.
Nach zwölf Monaten waren für die durchschnittlichen CGM-Glukosewerte und Fruktosamin weiterhin signifikante Unterschiede messbar. In allen anderen Werten unterschieden sich die beiden Gruppen nicht mehr signifikant.
Fazit
Häufig wird Patientinnen und Patienten mit einem Prädiabetes eine einheitliche Ernährung empfohlen. Diese "One-size-fits-all Empfehlungen“ funktionieren jedoch für viele Betroffene nicht.
Die Studie aus Israel hat diesen Verdacht weiter bekräftigt: Teilnehmende, die eine personalisierte und individuelle Ernährungsempfehlung anhand ihrer eigenen postprandialen Glukoseantwort bekamen, erzielten eine signifikant bessere glykämische Kontrolle als solche, die eine klassische mediterrane Diät befolgten. Das zeigte sich vor allem im HbA1c und der Gesamtzeit, in der die Teilnehmenden einen Blutzucker von >140 mg/dL (7,8 mmol/L) hatten.
Gleichzeitig ist die Adhärenz bei einer individuellen Ernährungsempfehlung noch einmal höher als bei einer mediterranen Ernährung (81% vs. 62%). All dies, ohne Einbußen bei der Effektivität oder Sicherheit.