Stigma Übergewicht in der Diabetesbehandlung

Menschen mit einem nicht ausreichend kontrollierten Diabetes mellitus Typ 2 brauchen eine Therapieintensivierung. Nicht alle bekommen diese jedoch. Übergewichtige Menschen sind davon häufiger betroffen als andere.

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Mehr als die Hälfte der Deutschen ist übergewichtig. Das hat Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen, sowohl physiologisch als auch psychisch. Übergewicht kann beispielsweise das Risiko für einen Diabetes mellitus Typ 2 erhöhen. Es setzt die Betroffenen aber auch viel Stigmatisierung aus. Fast 40% der übergewichtigen Erwachsenen erfahren Diskriminierung in ihrem Leben, weil sie mehr wiegen. Das hat weitreichende Konsequenzen. Gewichtsassoziierte Stereotypen können beispielsweise beeinflussen, wie Eltern sich bei Gesundheitsfragen für ihre Kinder entscheiden. Auch Angehörige von Heilberufen sind von diesem kognitiven Bias betroffen. Dadurch kann die optimale Behandlung von Übergewicht, Diabetes und assoziierten Komorbiditäten beeinträchtigt sein.

Um diesen Problemen entgegen wirken zu können, bedarf es wissenschaftlicher Studien. Eine Forschungsarbeit aus Brasilien hat sich nun mit einem Teilaspekt des Themas befasst. Die Daten des Teams um Janine Alessi und Gabriela H. Telo wurden nun im Journal »Diabetes Care« veröffentlicht.

Zielsetzung

Mit der Studie sollte untersucht werden, ob es Unterschiede in der Diabetesbehandlung von Menschen mit und ohne Übergewicht gibt. Der Fokus lag hierbei auf der Frage, ob bei übergewichtigen Menschen pharmakologische Therapien des Diabetes zum gleichen Zeitpunkt intensiviert werden wie bei Menschen ohne Übergewicht.

Methodik

Angelegt als Querschnittsstudie untersuchte die Arbeit aus Brasilien Daten von Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 an vier verschiedenen Zentren in Südbrasilien. Die Betroffenen wurden in speziellen Diabetesambulanzen zwischen Oktober 2011 und Dezember 2019 rekrutiert.

Einschlusskriterien waren, dass alle Teilnehmenden mindestens 18 Jahre alt sein mussten, seit mehr als einem Jahr regelmäßig zu Verlaufsuntersuchungen gingen und mindestens zwei HbA1c-Messungen vorlagen. Teilnehmende wurden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und anhand ihres Body-Mass-Index (BMI) in zwei Gruppen unterteilt: übergewichtig mit einem BMI ≥30,0 kg/m2 und ohne Übergewicht mit einem BMI <30,0 kg/m2. Zusätzlich wurden mehrere Werte erhoben, die die Qualität der Diabetesbehandlung messen sollten. Dadurch sollte untersucht werden, ob die medizinische Betreuung in beiden Gruppen gleich ist.

Das primäre Outcome der Studie war gemäß den Zielen, ob die pharmakologische Behandlung in beiden Gruppen gleich adäquat intensiviert wurde, wenn es aufgrund der individuellen glykämischen Zielwerte notwendig wäre. Als Zielwerte galten für Menschen jünger als 65 Jahre und ohne wichtigen Komorbiditäten ein HbA1c von <7,075% (<53-58 mmol/mol). Bei Menschen älter als 65 Jahre und mit schwerwiegenden Komorbiditäten wurde der Deyo-Charlson Komorbiditätenindexscore eingesetzt und die Teilnehmenden in drei Untergruppen gemäß ihres Alters und der Komorbiditäten eingeteilt.

Alle Daten wurden statistisch mittels multivariablem logistischen Regressionsmodell ausgewertet und für mögliche Störgrößen kontrolliert.

Ergebnisse

In die Studie wurden 402 Personen eingeschlossen. Gut die Hälfte der Personen war zum Studienzeitpunkt übergewichtig (204), die andere Hälfte nicht (198). Teilnehmende ohne Übergewicht waren tendenziell älter als solche mit Übergewicht (68,7±9,0 Jahre vs. 65,2±8,9 Jahre, p<0,001). Sie brauchten auch seltener eine Insulintherapie (49,5% vs. 66,7%; p<0,001). Hinsichtlich der Versorgungsqualität unterschieden sich die beiden Gruppen aber statistisch nicht signifikant (p>0,05). Auch beim HbA1c lagen die Unterschiede nicht im statistisch signifikanten Bereich: 43,4% der Nicht-Übergewichtigen hatte einen HbA1c-Wert oberhalb des Zielwertes. In der Gruppe der Übergewichtigen waren es 46,6% (p=0,53).

Anders sah es aber aus, wurde gemessen, wie häufig bei Menschen mit einem zu hohen HbA1c-Wert die Behandlung intensiviert wurde. Personen aus der Gruppe ohne Übergewicht erhielten signifikant häufiger eine Therapieintensivierung als die Teilnehmenden in der übergewichtigen Gruppe (67,4% vs. 53,7%, p=0,05). Andersherum betrachtet wurde in einer Sensitivitätsanalyse bei statistisch signifikant weniger Menschen ohne Übergewicht die notwendige Therapie nicht intensiviert (15,2%), während bei Übergewichtigen deutlich häufiger die bisherige Therapie beibehalten wurde (25,0%, p=0,01).

Ähnlich verhielt es sich mit der pharmakologischen Behandlungsintensivierung bei Übergewichtigen. Auch hier wurde die Therapie seltener intensiviert als bei Diabetikerinnen und Diabetikern ohne Übergewicht (Odds Ratio=1,87, 95%-Konfidenzintervall 1,02-3,45).

Fazit

Die Daten aus der brasilianischen Studie deuten darauf hin, dass Menschen mit einem Diabetes mellitus Typ 2n und Übergewicht ein höheres Risiko haben, dass ihre Therapie nicht ausreichend intensiviert wird. Das kann verschiedene Gründe haben: Zum einen haben Medikamente, die den Blutzucker senken sollen, häufig eine Gewichtszunahme als Nebenwirkung. Deshalb werden sie meist erst so spät wie möglich bei bereits übergewichtigen Patientinnen und Patienten eingesetzt. Zum anderen sind gerade für übergewichtige Betroffene Lebensstilveränderungen und ein Gewichtsverlust besonders wichtig und vorteilhaft, weil sie gesundheitlich stark davon profitieren können. Zusätzlich sind blutzuckersenkende Medikamente mit hohen Kosten verbunden, die nicht überall übernommen werden.

Ein weiterer Grund ist das Stigma des Übergewichts. Auch das wirkt sich darauf aus, bei wem eine Therapie intensiviert wird und bei wem nicht. Gerade dieser Aspekt bedarf weiterer Erforschung, um für Patientinnen und Patienten die für sie individuell beste Behandlungsoption zu finden - unabhängig von Stereotypen und Stigmata.

Autor:
Stand:
18.01.2022
Quelle:

Alessi J. Et al. Telo G.H. Diabetes and obesity bias: Are we intensifying the pharmacological treatment in patients with and without obesity with equity? Diabetes Care 2021; 44:e206-208. DOI: 10.2337/dc21-1294

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