DGK Herztage 2022: Therapie bedeutet nicht zwangsweise Leben

Die moderne Intensivmedizin eröffnet vielen lebensbedrohlich erkrankten Menschen wieder Türen in ein erfülltes Leben. Doch der Intensivmedizin müssen dann ethische Grenzen gesetzt werden, wenn ihre Therapieziele nicht mehr im Einklang mit dem Patientenwillen stehen.

Lebensende

Zwiespalt der Intensivmedizin

Die Intensivmedizin bietet enorme Chancen bei erheblichen Risiken: Sie kann Zeit für das Wiedererlangen gestörter oder verlorener Körper- und Organfunktionen gewinnen und Patienten ermöglichen, wieder ein weitgehend selbstständiges Leben zu führen. Sie kann aber auch unerwünschte Folgen haben, wie die komplette, teilweise irreversible Abhängigkeit des Patienten von lebensunterstützenden Apparaturen, das Überleben der Behandlung mit schweren seelischen und körperlichen Defiziten und die erhebliche und langfristige Einschränkung der Lebensqualität. 

Prof. Dr. med. Uwe Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler zeigte in seinem Vortrag „Intensivmedizin am Lebensende: Wann ist es genug?“ im Rahmen der DGK Herztage 2022 den Zwiespalt der Intensivmedizin zwischen technischen Möglichkeiten und ethischen Grenzen auf [1].

Ethische Grundsätze vs. Terminale Herzinsuffizienz

Zu den vier Prinzipien der Biomedizinischen Ethik, die von Beauchamp und Childress 1977 erstmals veröffentlicht wurden und heute als Standard in der Medizinethik gelten, gehören die Achtung der Autonomie des Patienten, die Fürsorge, das Nicht-Schaden und die Gerechtigkeit [2]. Diese ins Zentrum dieser vier Prinzipien stellte Janssen die Würde des Menschen. Was ist entscheidend für eine Medizin, bei der die Würde des Menschen im Mittelpunkt steht?

Auf der ärztlichen Seite steht hier die sorgfältige Prüfung der Indikation, die Abwägung des möglichen Nutzens mit dem potenziellen Schaden einer Behandlung für den Patienten. „Die Indikation stellt eine fachlich begründete Einschätzung dar, dass eine Therapiemaßnahme sinnvoll und geeignet ist, um ein bestimmtes Therapieziel mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erreichen,“ erklärte Janssens. Das beinhalte zwangsläufig, dass eine Indikation nur gestellt werden kann, wenn zuvor ein Therapieziel definiert wurde.

Patientenwille in der Intensivmedizin

Die Indikation ist in Achtung der Autonomie des Patienten in Einklang zu bringen mit dessen Willen, der auch umfassender Aufklärung beruhen sollte. Gerade in intensivmedizinischen Situationen ist eine Willenserklärung des Patienten in vielen Fällen nicht möglich, geschweige denn seine umfassende Aufklärung. Den behandelnden Ärzten steht dann im besten Falle eine Patientenverfügung oder ein gut instruierter Betreuer zur Verfügung. Ansonsten sind sie auf Mutmaßungen zum Patientenwillen angewiesen und/oder müssen die Wünsche der Angehörigen befolgen. Diese repräsentieren möglicherweise nicht immer die tatsächlichen Wünsche des Patienten an seinem Lebensende.

Diskrepanzen zwischen Patienten- und Stellvertreterentscheidungen

Zaros et al. 2013 dokumentierten die Entscheidungen am Lebensende von 99 Karzinompatienten und die Entscheidungen von Stellvertretern von 46 Karzinompatienten, die sich auch am Lebensende befanden und nicht mehr entscheidungsfähig waren. Im Vergleich zu den Patienten, die selbst an der Therapiewahl am Ende ihres Lebens beteiligt waren, wurden die Patienten, bei denen Stellvertreter in die Therapieentscheidung involviert waren, wurden häufiger mechanisch beatmet (56,5% vs 23,2%; p< 0,01) und künstlich ernährt (45,7% vs 25,0%, p=0,03).

Die nicht entscheidungsfähigen Patienten erhielten häufiger eine Chemotherapie (39,1% vs 5,4%, p<0,01) und eine intensivmedizinische Behandlung (56,5% vs 23,2%). Die Frage, wie sich die Patienten entschieden, hätten, wenn sie dazu in der Lage gewesen wären, kann nicht beantwortet werden. Aber die Untersuchung zeigte, auf wie wichtig eine frühzeitige Dokumentation des Patientenwillens für die Behandlung am Lebensende ist [3].

Therapiezieländerung

Das Therapieziel muss am individuellen Patienten und seiner Lebenssituation ausgerichtet werden. Es kann sich im Verlauf einer Krankengeschichte ändern, wenn eine sinnvolle patientenzentriertes Therapieziel nicht zu erreichen ist, die ärztliche Indikation nicht (mehr) gegeben ist oder der Patientenwille, die weitere Behandlung nicht mehr deckt.

Als Beispiel für den Konflikt zwischen technischer Machbarkeit und ethischen Grenzen in der Intensivmedizin nannte Janssens die terminale Herzinsuffizienz, die nicht immer einfach von einer fortgeschrittenen Erkrankung zu unterscheiden ist. Die medikamentösen Therapien, mechanischer Kreislaufersatz und Schrittmachersysteme können Türen für Patienten aufstoßen, aber auch für alle?

Daher müssen die Optionen und die Therapieziele stets hinterfragt werden: Was kommt danach? Was ist, wenn das Therapieziel nicht erreicht wird [4]?

Ansätze zur Lösung

Die komplexe Lage und der Zeitdruck in der intensivmedizinischen Situation erschweren eine sorgfältige Therapiezielüberprüfung. Janssens schlägt daher einen zeitlichen begrenzten Therapieversuch (time limited trial [TLT]) von 3-5 Tagen vor, in denen geprüft wird, ob das Erreichen eines sinnvollen und patientenzentriertes Therapieziel realistisch oder fraglich ist. Eine Studie von Chang et al. 2021 zeigte, dass der TLT die Kommunikation mit den Angehörigen deutlich verbessert, weil sie die komplexe Situation besser verstehen und die Chancen, Risiken und Folgen einer fortgesetzten Therapie begreifen können.

Insgesamt trug der TLT zu einer der Reduktion von Intensivbehandlungen ohne Vorteil für den Patienten bei: So blieb die Krankenhaussterblichkeit der Patienten trotz einer erhöhten Zahl von „Do-not-resuscitate (DNR)“ Anordnungen gleich hoch. Die Liegedauer und die Belastung der Patienten konnten jedoch reduziert werden. [5]

Einbindung der Palliativmedizin

Janssens plädiert darüber hinaus für die Einbindung der Palliativmedizin in die Intensivmedizin, denn „Therapie bedeutet nicht zwangsweise Leben“, wie er betont. Das kann mit einer eigenen Palliativgruppe innerhalb des Intensivmedizinischen Teams, über eine konsultative palliative Versorgung durch das Palliativ-Team der Klinik oder auch über die Kombination beider Möglichkeiten erreicht werden. In diesem Zusammenhang empfiehlt Janssens auch das Positionspapier zu einem palliativen Ansatz bei der Versorgung der Herzinsuffizienz von Hill et al. 2020.

Entscheidend für die Umsetzung des Patientenwillens am Lebensende ist vor allem, dass man dieses Thema mit dem Patienten frühzeitig bespricht. Die Scheu vor solch einem Gespräch ist unnötig: „Die Patienten sind glücklich, dass man mit ihnen darüber spricht!“ betonte Janssens. Für diese Gespräche stehen Formulare als Dokumentationshilfen zur Verfügung.  [6]

Quelle:
  1. Janssens (2022): Intensivmedizin am Lebensende: Wann ist es genug? Session Kardiologische Intensivmedizin-State of the Art. DGK Herztage 2022 Bonn und Digital 29.09.2022
  2. Beauchamp, Childress (1977): Principles of Biomedical Ethics. Oxford University Press. New York/London.
  3. Zaros, Curtis, Silveira et al. (2013): Opportunity lost: end-of-life discussions in cancer patients who die in the hospital. J Hosp Med. 8(6):334-40. DOI: 10.1002/jhm.1989
  4. Janssens, Burchardi, Duttge et al. (2013): Therapiezieländerung und Therapiebegrenzung in der Intensivmedizin. Anaesthesist 62, 47–52 (2013). DOI: 10.1007/s00101-012-2126-x
  5. Chang, Neville, Parrish et al. (2021): Evaluation of Time-Limited Trials Among Critically Ill Patients With Advanced Medical Illnesses and Reduction of Nonbeneficial ICU Treatments. JAMA Intern Med. 181786–794. DOI:10.1001/jamainternmed.2021.1000
  6. Hill, Geller, Baruah et al . (2020): Integration of a palliative approach into heart failure care: a European Society of Cardiology Heart Failure Association position paper. European Journal of Heart Failure 22: 2327-2339 DOI: 10.1002/ejhf.1994
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