
Hintergrund
Vorhofflimmern erhöht nicht nur das Risiko für einen ischämischen Schlaganfall, es vergrößert auch das Risiko für ein schweren Verlauf und die Mortalität der Betroffenen. Eine Antikoagulation verringert das Schlaganfallrisiko deutlich. Allerdings ist die Antikoagulation auch mit einem erhöhten Risiko für schwere Blutungen verbunden. Thrombose- bzw. Schlaganfallrisiko und Blutungsrisiko müssen daher vor dem Beginn der gerinnungshemmenden Therapie abgewogen werden.
Abschätzung des Schlaganfallrisikos
Zur Abschätzung des Schlaganfallrisikos wurden zahlreiche Scores entwickelt. Einer der am häufigsten genutzten Scores ist der 2010 veröffentlichte CHA2DS2-VASc, der auch von vielen klinischen Leitlinien empfohlen wird. Bisher veröffentlichte Studien haben ergeben, dass die untersuchten Scores in etwa gleichwertige Vorhersageergebnisse liefern, die Vorhersagegenauigkeit aller untersuchten Scores jedoch insgesamt limitiert ist [1,2].
Neue Scores auf dem Prüfstand
Die mangelnde Vorhersagepräzision kann sowohl zu einer Übertherapie mit hohem Risiko für schwere Blutungen als auch zu Untertherapie mit erhöhtem Schlaganfallrisiko führen. Aus diesem Grund wurden neue Scores entwickelt und alte Scores überarbeitet. Bislang fehlte jedoch ein Überblick über die aktuell verfügbaren Scores und deren Einschätzung. Ein Team um Vera H.W. van der Endt vom Department of Clinical Epidemiology am University Medical Center in Leiden hat die Datensätze von mehr als 6 Millionen Patienten mit Vorhofflimmern ausgewertet, um solch einen Überblick zu gewinnen. In ihrem systematischen Review haben die Epidemiologen die Validierungen und Updates, die methodische Qualität der entsprechenden Studien und eine gepoolte Schätzung der Vorhersageleistung verschiedener Scores untersucht.
Datenbankrecherche und statistische Analyse
Die Wissenschaftler führten eine Recherche in PubMed und Web of Science nach Studien zur Entwicklung, Validierung und zu Updates von Scores zum Schlaganfallrisiko durch. Die methodische Qualität wurde mithilfe von PROBAST (Prediction model Risk Of Bias Assessment Tool) geprüft. Unter Verwendung des Random-Effects-Modells bei Metaanalysen wurde die diskriminative Performance der Scores (externe Validierung) hochgerechnet (gepoolte C-Statistik). Unter Diskrimination wurde die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Ereignis und Nicht-Ereignis verstanden.
Diskriminative Leistung
Insgesamt 19 Scores wurden über die Datenbankrecherche gefunden. Davon wurden die 10 am häufigsten in Studien validierten Scores in die Random-Effects-Metaanalyse einbezogen und ihre Vorhersageleistung in Bezug auf das Schlaganfallrisiko der Patienten miteinander verglichen. Bei den 6.267.728 eingeschlossenen Patienten kam es zu 359.373 ischämischen Schlaganfällen (durchschnittliche Beobachtungszeiträume je nach Studie zwischen 0,9 und 5,5 Jahren). Zu den untersuchten Scores gehörten, geordnet nach abnehmender Vorhersagekraft (höchste gepoolte C-Statistik = beste Vorhersagekraft):
- Modified-CHADS2 (Publikation 2008): 0,715 (gepoolte C-Statistik)
- GARFIELD-AF (2017): 0,707
- GARFIELD-AF II (2021): 0,690
- ATRIA (2013): 0,683
- The ABC stroke risk score (2016): 0,678
- CHADS2 (2001): 0,658
- SPAF (1999): 0,650
- CHA2DS2-VASc (2010): 0,644
- Framingham (2003): 0,633
- AFI (1994): 0,598
Die beste diskriminative Leistung zeigte damit der Modified-CHADS2 von 2008, gefolgt von zwei neuen Scores, dem GARFIELD-AF (2017) und GARFIELD-AFII (2021). Auffällig war das relativ schlechte Abschneiden des CHA2DS2-VASc von 2010, der am häufigsten zum Einsatz kommt und auch von vielen Leitlinien empfohlen wird.
Fazit
Die Autoren interpretieren die Ergebnisse zurückhaltend: „Es ist möglich, dass neuere Scores zur Beurteilung des Schlaganfallrisikos bei Patienten mit Vorhofflimmern bessere Vorhersagefähigkeiten im Vergleich zu älteren haben, weil sie spezifische Biomarker einschließen. Die Unterschiede zwischen den Ergebnissen sind jedoch marginal und sollten daher mit Vorsicht interpretiert werden.“ Insgesamt sei die Vorhersageleistung aller Scores noch verbesserungswürdig.
Kalibrierung erwünscht
Darüber hinaus erklären die Autoren, dass statt des Vergleichs des Schlaganfallrisikos zwischen Patienten (Diskrimination), die Vorhersage des absoluten Risikos im Einzelfall also die Kalibrierung (Übereinstimmung zwischen vorhergesagtem und beobachtetem Risiko) der Scores interessanter wäre, denn die Diskrimination hängt immer von Zusammensetzung der Studienpopulation ab. In einer Gruppe mit überwiegend sehr hohem Risiko, kann das Risiko eines Patienten unterschätzt, in einer Gruppe mit niedrigem Risiko das Risiko des Einzelnen überschätzt werden. Weitere Studien zur Entwicklung und Validierung von Scores zur Beurteilung des Schlaganfallrisikos bei Patienten mit Vorhofflimmern sollten Kalibrierungen einschließen und das Bias-Risiko durch die Anwendung von der PROBAST und der Tripod Leitlinien verringern.