Dyskalkulie (ICD-10 F81.2) ist eine Minderleistung im mathematischen Bereich, die mit einer ausgeprägten Störung der Rechenfertigkeiten und Beeinträchtigung des arithmetischen Denkens einhergeht – ohne dass eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung vorliegt. Betroffene haben deutliche Schwierigkeiten im Umgang mit Zahlen und beim Verständnis von Rechenvorgängen (Basiskompetenzen, Grundrechenarten und/oder Textaufgaben). Begleitend treten oft Schwierigkeiten im Arbeitsgedächtnis – insbesondere das korrekte Speichern und Abrufen visuell-räumlicher Informationen – sowie Probleme beim Unterdrücken ablenkender Reize auf. In der Regel werden Anzeichen einer Dyskalkulie bereits im Grundschulalter bemerkt. Bei entsprechendem Verdacht wird eine multidimensionale Diagnostik empfohlen. Die Behandlung bzw. Förderung sollte so früh wie möglich beginnen.
Hinweis: Kinder mit Dyskalkulie können einen Nachteilsausgleich beantragen. Dieser wird zum Beispiel in Form von Hilfsmitteln und Zeitzuschlägen oder im Aussetzen der Benotung im Fach Mathematik gewährt [1].
Epidemiologie
Dyskalkulie ist mit einer Prävalenz von ungefähr zwei bis acht Prozent aller Kinder und Jugendlichen eine häufige Entwicklungsstörung, die oft mit weiteren psychischen Auffälligkeiten assoziiert ist. Typische Komorbiditäten sind eine Lese-Rechtschreib-Störung (LRS), eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADS/ADHS) sowie internalisierende Störungen (speziell Angst, Depression) und externalisierende Verhaltensweisen (aggressiv, regelverletzend). Mädchen leiden tendenziell eher an Rechenschwierigkeiten, Jungen öfter an Lese-Rechtschreibstörungen. Ohne wirksame Behandlung bleibt eine Dyskalkulie meist bis ins Erwachsenenalter bestehen [1][2].
Ursachen
Dyskalkulie ist eine komplexe Störung, deren Ursachen bis heute nicht im Einzelnen geklärt ist. Ein multifaktorieller Prozess ist jedoch anzunehmen. Dabei scheinen genetische, neurowissenschaftliche sowie psychische und soziale Einflüsse eine Rolle zu spielen [3].
Genetische Faktoren
Bei Kindern mit Dyskalkulie sind oft weitere Familienmitglieder, zum Beispiel ein Elternteil oder Geschwister, von einer Rechenstörung betroffen. Wurde bei einem Geschwisterteil bereits eine Dyskalkulie diagnostiziert, erhöht sich das Risiko für das andere Geschwisterkind um das Fünf- bis Zehnfache (bei eineiigen Zwillingen sogar um das Zwölffache), ebenfalls Rechenschwierigkeiten zu entwickeln.
Zusätzlich können spezielle Gendefekte das Erlernen mathematischer Zusammenhänge erschweren/beeinflussen. So weisen Personen mit eingeschränkter Rechenfähigkeit häufig das Turner-Syndrom und das Fragile-X-Syndrom auf [1][3].
Neurowissenschaftliche Faktoren
Arithmetische Defizite könnten mit zerebralen Besonderheiten einhergehen, die zu einem gestörten Mengenverständnis führen. Wissenschaftler gehen davon aus, dass es eine Art angeborenen Zahlensinn (number sense) gibt. Dieser dient dem Zahlen- und Mengenverständnis und ist entscheidend für die Entwicklung der späteren Rechenfähigkeiten. Funktionelle Magnetresonanztherapie (fMRT)- und Elektroenzephalogramm (EEG)-Studien legen nahe, dass der Zahlensinn im Parietallappen lokalisiert ist. Hier scheinen insbesondere der intraparietale Sulcus (IPS) und Nachbarareale eine Rolle zu spielen. Dyskalkulie-Betroffene zeigen in diesen Bereichen eine deutlich geringere Aktivierung. [1][3]
Neben dem Mengenverständnis werden für Rechenvorgänge auch Zählfertigkeiten, visuelle Dekodierleistungen, sprachliche Fähigkeiten, das Arbeitsgedächtnis und die Aufmerksamkeit benötigt. Deshalb ist davon auszugehen, dass bei einer Dyskalkulie noch weitere Gehirnareale bzw. neuronale Netzwerke verschiedener Regionen betroffen sind, zum Beispiel der Frontallappen (zuständig für die Aufmerksamkeitssteuerung und exekutiven Funktionen) und der Präfrontalkortex (für das visuelle Arbeitsgedächtnis entscheidend). Entwicklungsbedingt zeigen Kinder beim Rechnen zu Beginn eine starke Aktivität der frontalen Areale. Mit zunehmendem Alter nimmt diese ab und die Aktivität im Parietallappen steigt. Das heißt: Beim Rechnen lernen sind anfangs starke Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisressourcen erforderlich, die mit Herausbildung des Zahlen- und Mengenverständnisses im Parietallappen abnehmen. Kinder mit Dyskalkulie zeigen diesen Übergang nur in geringerem Ausmaß. Bei ihnen ist Rechnen auch mit steigendem Alter noch mit einer hohen Fontallappen- und einer geringeren Parietallappen-Aktivierung verbunden [1][3].
Sprachliche Fähigkeiten sowie Gedächtnisleistungen bzw. der Abruf von Informationen sind speziell beim Zählen, dem Transkodieren von Zahlwörtern und beim Faktenwissen entscheidend. Dabei werden der linke Gyrus angularis, die linken Basalganglien sowie der linke inferiore Temporal- und Frontallappen stark beansprucht. Bei Dyskalkulie ist die Aktivität im intraparietalen Sulcus geringer, zudem ist der Bereich schlechter mit anderen neuronalen Netzwerken verbunden und hat ein geringeres Volumen [3].
Ferner können bei Dyskalkulie-Betroffenen die visuellen Areale des Okzipitallappens beeinträchtigt sein. Diese werden benötigt:
zur Positionsbestimmung der Zahlen bei komplexen Rechenaufgaben
beim Entziffern einer arabischen Zahl und der dahinterstehenden Menge
zum Lösen visuell-räumlicher Aufgaben, zum Beispiel beim Erkennen von Symmetrie, Einschätzen von Längen oder Merken von Positionen auf Karten [3]
Psychische und soziale Faktoren
Psychische und soziale Faktoren können zwar keine Dyskalkulie auslösen, die Rechenschwierigkeiten jedoch verstärken – zum Beispiel, wenn mathematische Inhalte in der Schule schlecht vermittelt werden. Darüber hinaus können Kinder mit Rechenschwierigkeiten Ängste und negative Gefühle entwickeln, etwa durch permanente Misserfolgserlebnisse, Hänseleien oder stark ausgeübten Druck von Eltern und Lehrern. Weiterhin scheinen die Beziehung des Kindes zu Eltern, Gleichaltrigen und Lehrpersonal, die finanzielle Sicherheit der Familie und die Bildung der Eltern eine Rolle zu spielen.
Auch Aufmerksamkeitsstörungen können die Rechenfähigkeit beeinträchtigen und Lernprozesse in der Schule oder bei der Förderung erschweren [1][3].
Pathogenese
Die pathogenetischen Vorgänge bei Dyskalkulie sind bis heute nicht im Detail verstanden. Neben neurogenetischen Aspekten scheinen vor allem zwei Punkte relevant zu sein:
eine Reifungsverzögerung von Hirnarealen, die an der Wahrnehmung und Verarbeitung von visuellen, räumlichen und auditiven Reizen beteiligt ist
eine unzureichende neuronale Vernetzung von Hirnstrukturen, die für das mathematische Verständnis bedeutsam ist
Symptome
Personen mit Dyskalkulie haben deutliche Schwierigkeiten im Umgang mit Zahlen, der Zuordnung von Ziffern und Symbolen sowie beim Verständnis von Rechenvorgängen. Betroffen sind alle Bereiche, zum Beispiel Grundrechenarten (Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division), kleines und großes Einmaleins, Dezimalsystem und schriftliche Textaufgaben. Die Defizite zeigen sich in der Richtigkeit und der benötigten Zeit bei der Bearbeitung von Aufgaben.
Die arithmetischen Minderleistungen sind oft verbunden mit:
Problemen im Arbeitsgedächtnis, insbesondere dem visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnis; das heißt dem korrekten Speichern und Abrufen visuell-räumlicher Informationen,
Schwierigkeiten der exekutiven Funktionen, speziell der Impulskontrolle bzw. Inhibition; also dem schnellen Unterdrücken ablenkender Reize [1]
Charakteristische Merkmale
Kinder mit Dyskalkulie zeigen charakteristische Merkmale. Dazu gehören: [1][3]
Lerntransfer nicht feststellbar, zum Beispiel muss die gleiche Menge immer wieder neu abgezählt werden
Mengenschätzungen – selbst kleiner Mengen – sind nicht möglich
Zahlendreher beim Vorlesen und Schreiben
Vertauschen/Ignorieren von Rechenzeichen
Schwierigkeiten beim Umgang mit Geld, Längen und Gewichten
mathematische Aufgaben erfordern eine hohe Konzentration und Anstrengung mit daraus resultierender schneller Erschöpfbarkeit
hoher zeitlicher Aufwand beim Lösen mathematischer Aufgaben
Rechenaufgaben können nicht ohne Veranschaulichungsmaterial (Zählhilfen wie Finger oder Stäbe, Klötzchen etc.) gelöst werden (Zählen statt Rechnen)
offensichtliche Rechenfehler werden nicht erkannt, beispielsweise können zwei gleiche Aufgaben nebeneinander unterschiedliche Ergebnisse zeigen
Überforderung schon bei leichten Abweichungen in der Aufgabenstellung
Lösungen sind wahllos und ohne erkennbares Schema
Üben bringt keine Verbesserung, Automatisierungen mathematischer Prozesse nicht möglich
Intelligenz nicht vermindert
Personen mit Dyskalkulie haben keine Intelligenzminderung. Diese ist nach ICD-10 bei einem Intelligenzquotienten (IQ) kleiner als 70 gegeben. Kinder mit Dyskalkulie können sogar einen überdurchschnittlich hohen IQ aufweisen. Ferner gibt es Fälle, dass Betroffene Probleme bei der Bearbeitung arithmetischer Aufgaben haben, jedoch ohne Schwierigkeiten abstrakte mathematische Probleme lösen können [4].
Psychische Probleme und Komorbiditäten
Neben der Dyskalkulie sind oft weitere psychische Auffälligkeiten oder komorbide Störungen feststellbar.
Ängste
Viele von Dyskalkulie betroffene Kinder leiden unter Ängsten, etwa Angst vor dem Rechnen oder einer generellen Schulangst. Diese Ängste können allgemein und speziell vor Tests, Klassenarbeiten oder Prüfungen auftreten, zum Beispiel in Form von Mutlosigkeit, Traurig sein bis hin zu Depressionen, aggressivem Verhalten und Ausreden, nicht in die Schule zu müssen. Ferner sind psychosomatische Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen oder Übelkeit typisch. Mit den Jahren kann sich eine allgemeine Schul- und Prüfungsangst entwickeln und sogar ein komplettes Vermeidungsverhalten auftreten [3].
Komorbiditäten
Komorbiditäten können Folge der Rechenstörung sein, aber auch unabhängig davon auftreten. Die zwei häufigsten Begleitstörungen bei Dyskalkulie sind eine Lese- und/oder Rechtschreibstörung (Legasthenie, LRS) sowie eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) ohne oder mit Hyperaktivitätssymptomatik (ADHS). Tritt die Rechenstörung zusammen mit einer LRS auf, spricht man auch von einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten [3].
Diagnostik
Seit dem Jahr 2018 gibt es die S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung. Damit kann die Dyskalkulie sauber diagnostiziert werden. Die Risikoidentifikation und Diagnosestellung soll der Leitlinie zufolge nach psychometrischen, klinischen und qualitativen Kriterien erfolgen. Diese beinhalten:
psychometrische Kriterien: Anwendung psychometrischer Tests zur Erfassung der Mathematikleistung (Basiskompetenzen, Grundrechenarten, Textaufgaben), des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses und der exekutiven Funktionen (Inhibition)
klinische Kriterien: klinische Untersuchung bzw. Differentialdiagnostik einschließlich der körperlichen/neurologischen, sensorischen und intellektuellen Funktionen und des psychopathologischen Befunds
qualitative Kriterien: Erhebung des biographischen Entwicklungsverlaufs, der Familien- und Schulsituation, der psychischen und sozialen Entwicklung, der schulischen Integration sowie der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben [1]
Rechentest
Die psychometrischen Tests sind Rechentests mit Aufgaben zur Überprüfung des Zahlen- und Mengenverständnisses, der Zählfertigkeit, des arithmetischen Faktenwissens, der Kenntnis mathematischer Regeln und der Anwendung arithmetischer Operationen [3].
Für die Diagnose Dyskalkulie soll die Mathematikleistung beim psychometrischen Test im unterdurchschnittlichen Bereich liegen. Die Defizite zeigen sich dabei vornehmlich in den Grundrechenarten und Basiskompetenzen [1].
Bewertung
Die Alters- und Klassennormdiskrepanz, die in den Rechentests erreicht werden müssen, hängen von den qualitativen und klinischen Kriterien ab. Ergeben die Anamnese, klinische Untersuchung und Exploration keinen Anhalt auf eine Rechenstörung, soll ein strengerer Grenzwert von mindestens 1,5 Standardabweichungen unter dem Durchschnitt der Altersgruppe oder der Klasse (Prozentrang (PR) ≤ 7 oder T-Wert ≤ 35) verwendet werden. Bei entsprechenden Hinweisen, zum Beispiel Schwierigkeiten im Zahlen- und Mengenverständnis im Kindergarten- bzw. Vorschulalter oder in der 1. Klasse, ist ein weniger strenger Grenzwert von mindestens einer Standardabweichung unter dem Durchschnitt (PR ≤ 16 oder T-Wert ≤ 40) ansetzbar. Das Intelligenzdiskrepanzkriterium wird für die Dyskalkulie-Diagnose nicht empfohlen [1].
Screening zur Identifikation von Komorbiditäten
Bei der Risikoidentifikation und Diagnoseerhebung soll ein diagnostisches Screening komorbider Auffälligkeiten erfolgen. Dabei sind vor allem andere schulische Entwicklungsstörungen (speziell LRS), Symptome aus dem AD(H)S-Spektrum sowie Anzeichen aus dem internalisierenden (insbesondere Mathematik-, Prüfungs- und/oder Schulangst) und externalisierenden Störungsspektrum (zum Beispiel aggressives-regelverletzendes Verhalten) zu berücksichtigen [1].
Für die Diagnose Dyskalkulie dürfen die mathematischen Probleme nicht auf Hirnschädigungen oder neurologische Krankheiten zurückzuführen sein, beispielsweise auf eine infantile Zerebralparese, Akalkulie (Verlust bereits vorhandener Rechenfähigkeit) oder dem Gerstmann-Syndrom (Symptomenkomplex aus Agraphie, Akalkulie, Finger- und Zehen-Agnosie sowie Links-Rechts-Verwechslung; zum Beispiel nach Schlaganfall). Darüber hinaus sind die Auswirkungen neurogenetischer Störungen auf die Rechenleistungen zu berücksichtigen. Hierzu zählen insbesondere das Fragile-X-Syndrom, das Turner-Syndrom, das Deletionssyndrom 22q11 und Neurofibromatose Typ 1. Ferner sind die Folgen einer Frühgeburt und/oder geringen Geburtsgewichts in Betracht zu ziehen [1].
Berufsgruppen, die eine Dyskalkulie-Diagnose stellen dürfen
Erzieher und Lehrer können lediglich den Verdacht auf eine Rechenstörung aussprechen – die Diagnose darf indes nur von drei Berufsgruppen gestellt werden:
Ärzten für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
approbierte Kinder- und Jugendpsychotherapeuten
Ärzte oder approbierte psychologische Psychotherapeuten, die nachweislich besondere Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen haben
Die Dyskalkulie-Diagnose erfolgt üblicherweise in Facharztpraxen, Ambulanzen einer Kinder- und Jugendpsychiatrie oder einem sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) [3].
Therapie
Die Therapie einer Rechenstörung soll nach den in der Diagnostik erkannten Problemschwerpunkten im mathematischen Bereich ausgerichtet sein und klinisch relevante Zusammenhangssymptome sowie Komorbiditäten einbeziehen. Gemäß der Leitlinie sind evaluierte und damit evidenzbasierte Therapieverfahren zu bevorzugen. Allgemein erfolgen Fördermaßnahmen in Einzelsitzungen bei einer Sitzungsdauer von mindestens 45 Minuten [1].
Therapeuten
Der Therapeut soll eine pädagogisch-therapeutische Ausbildung im Bereich der Rechenentwicklung und ihrer Störung nach den Standards der einschlägigen Fachverbände – sprich dem Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie (BVL) und Fachverband für integrative Lerntherapie (FiL) – aufweisen oder einen entsprechenden Bachelor- und Masterstudiengang mit Schwerpunkt Lerntherapie absolviert haben [1].
Fördermaßnahmen
Kinder mit einem Risiko für eine Dyskalkulie sollen Fördermaßnahmen bereits ab dem Vorschulalter (üblicherweise im letzten Jahr des Kindergartenbesuchs) erhalten. Die Fördermaßnahmen sind in interdisziplinärer Zusammenarbeit (zum Beispiel mit Ärzten, Jugendpsychiatern, Lerntherapeuten, Schulpsychologen, Schulleitung und Lehrern) so lange durchzuführen, wie sie geeignet und notwendig sind. Dies wird von einer unabhängigen, einschlägigen Fachkraft – das heißt nicht der behandelnde Therapeut – mindestens einmal jährlich kontrolliert. Ebenso ist in den Verlaufsuntersuchungen zu prüfen, ob seit der letzten Diagnostik mögliche Komorbiditäten hinzugekommen sind [1].
Verlaufsuntersuchung
Eine Verlaufsuntersuchung beinhaltet die bereits beschriebenen Elemente der allgemeinen Dyskalkulie-Diagnostik, insbesondere die psychometrische Leistungserfassung und die Bewertung der:
Familien- und Schulsituation
schulischen Integration
gesellschaftlichen Teilhabe
Auswirkung der Leistungsdefizite auf die psychische und soziale Entwicklung
Bei Verdacht auf ein sich verschlechterndes körperliches/neurologisches, sensorisches oder kognitives Funktionsniveau ist eine klinische Untersuchung indiziert [1].
Förderprogramme
Standardisierte Förderprogramme sollen störungsspezifisch sein und schwerpunktmäßig Basiskompetenzen, Grundrechenarten und weitere Bereiche der Mathematik vermitteln. Die Programme sind in zeitlich und inhaltlich klar strukturierten Einheiten nach einem vorab festgelegten Förderplan durchzuführen. Eine adaptive, dem individuellen Leistungsniveau angepasste Gestaltung oder ein modulares Vorgehen, bei dem Teile verschiedener Förderprogramme (wissenschaftlich evaluiert) kombiniert werden, sind ebenfalls möglich [1].
Die Leitlinie empfiehlt vor allem folgende Programme (alphabetisch sortiert):
Dortmunder Zahlbegriffstraining: 1. bis 4. Klasse
Dybuster Calcularis: 1. bis 5. Klasse
MARKO-T: Kindergarten bis 4. Klasse
Meister Cody–Talasia: 1. bis 4. Klasse
Mengen, zählen, Zahlen: Kindergarten bis 1. Klasse
Rechenspiele mit Elfe und Mathis I: Kindergarten bis 3. Klasse
Wasserglasmethode: Kindergarten bis Grundschule [1]
Dauer der Behandlung
Wann eine Dyskalkulie-Behandlung abgeschlossen ist, kann nicht vorausgesagt werden. Im Idealfall enden die Fördermaßnahmen, wenn die Anforderungen in Schule, Berufsbildung oder -ausübung sowie im Alltag selbstständig erfolgreich bewältigt werden können [1].
Prognose
Verlauf und Prognose bei Dyskalkulie hängen von Beginn und Art der Fördermaßnahmen sowie eventuell begleitenden Störungen ab. Über den langfristigen Verlauf einer Rechenstörung vom Kindergarten bis in das Erwachsenenalter ist derzeit noch wenig bekannt. Insbesondere werden Langzeitstudien zur Entwicklung der Mathematikkompetenz und den damit verbundenen Veränderungen im Erwachsenenalter benötigt [1].
Gemäß dem BVL ist es unwahrscheinlich, dass sich eine Rechenstörung „auswächst“ oder sich die Rechenschwierigkeiten mit Einsetzen der Pubertät von selbst verringern oder gar verschwinden. Üblicherweise sind Schwierigkeiten im Rechnen sehr entwicklungsstabil. Ausgeprägte mathematische Probleme bleiben ohne Intervention häufig bis zum Schulabschluss bestehen und können darüber hinaus auch das Berufsausbildungsniveau beeinflussen. So beenden Personen mit Dyskalkulie frühzeitiger die Schule und erwerben seltener einen Berufsabschluss als Gleichaltrige ohne Dyskalkulie. Ferner beeinflussen die Rechenschwierigkeiten den Alltag der Betroffenen, häufig in Form von Problemen beim richtigen Umgang mit Geld (zum Beispiel beim Einkaufen, Versicherungen abschließen oder bei Bankangelegenheiten) oder Zeit (speziell Termineinhaltungen und Pünktlichkeit allgemein) [3].
Komorbide impulsive und dissoziale Verhaltensauffälligkeiten, zum Beispiel eine erhöhte Aggressivität oder Delinquenz, wirken sich ebenso wie eine vorhandene Aufmerksamkeitsstörung oder Legasthenie negativ auf die schulische Leistung, die Berufsausbildung und den späteren Alltag aus [3].
Frühzeitige Hilfe und individuelle Förderungsmaßnahmen können den Verlauf einer Rechenstörung positiv beeinflussen. Hier ist die Prognose, das Rechnen auch „nachträglich“ noch zu erlernen, gut [5].
Prophylaxe
Einer Dyskalkulie kann nicht sicher vorgebeugt werden. Frühförderkonzepte und ein gut aufbereiteter didaktischer Mathematikunterricht in den ersten beiden Schuljahren können allerdings bei der mathematischen Entwicklung helfen [5].
Hinweise
Nicht jedes Rechenproblem ist eine Dyskalkulie
Nicht jedes Rechenproblem ist eine Dyskalkulie. Es gibt Kinder, die mit Lerninhalten besser bzw. leichter zurechtkommen als andere. Häufig kommt es zu einer vermehrten Fehleranzahl, wenn neuer Stoff vermittelt und noch nicht ausreichend geübt wurde. Diese verschwinden aber mit Festigung des Schulstoffs. Zeigt ein Kind jedoch dauerhaft Schwierigkeiten im mathematischen Bereich und ist trotz Üben und Wiederholen der gleichen Thematik kein Lernerfolg erkennbar, sollte auf jeden Fall das Vorliegen einer Dyskalkulie überprüft werden [3].
Förderung der Dyskalkulieforschung durch den Arbeitskreis Lernforschung
Der Arbeitskreis des Zentrums für angewandte Lernforschung wurde Ende der 90er Jahre gegründet. Heute besteht er aus zwölf eigenständigen Facheinrichtungen in verschiedenen deutschen Städten. Die Mitglieder des Arbeitskreises teilen eine gemeinsame Zielsetzung: Sie möchten der Dyskalkulieforschung aus der Praxis heraus neue Impulse geben, Aufklärungsarbeit leisten und qualifizierte Lernförderung bei Rechenschwäche unterstützen. Der Arbeitskreis betreut derzeit etwa 1.300 Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Um den Informationsbedarf von Kinder- und Jugendärzten sowie niedergelassenen Fachärzten zu decken, hat der Arbeitskreis einen Symptom-Fragebogen herausgegeben. Dieser Fragebogen kann von Pädiatrischen Praxen, Beratungsstellen, Sonderpädagogen, Kliniken, Ärzten, Psychologen und anderen Fachkräften verwendet werden, um mathematische Defizite bei Kindern einzuordnen, insbesondere bei Verdacht auf Rechenschwäche oder Dyskalkulie.
Für Eltern und Lehrer stehen lerngegenstandsbezogene Symptomfragebögen zur Verfügung. Diese ersetzen keine Diagnostik, sondern sollen vielmehr dazu anregen, den Blick für eventuell vorhandene Probleme zu schärfen. Die verfügbaren Symptomfragebögen umfassen:
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP): S3-Leitlinie: Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung. AWMF-Register-Nr. 028/046 Klasse 3, Stand Februar 2018; abgerufen am 08. August 2021.
Lewis, K. E., Fisher, M. B.: Taking stock of 40 years of research on mathematical learning disability: methodological issues and future directions. J Res Math Educ 2016; 47:338–71; DOI: 10.5951/jresematheduc.47.4.0338.
Bundesverband Legasthenie & Dyskalkulie: Dyskalkulie, Ratgeber zum Thema Dyskalkulie – Erkennen und Verstehen. 6. Aufl. 2018; abgerufen am 08. August 2021.
Butterworth, B.: Foundational numerical capacities and the origins of dyscalculia. Trends Cogn Sci. 2010 Dec; 14(12):534–1; DOI: 10.1016/j.tics.2010.09.007.
Wehrmann, M.: Prävention von Dyskalkulie – Frühförderung im arithmetischen Erstunterricht. in Schulte-Körne, G. et al. (Hg.): Legasthenie und Dyskalkulie: Stärken erkennen – Stärken fördern. Winkler. 3:245–60; abgerufen am 08. August 2021.
Arbeitskreis Lernforschung, Webseite und E-Mail-Korrespondenz, Februar 2024