Tinnitus ist eine Wahrnehmung von Geräuschen, ohne dass ein akustischer Stimulus von außen vorliegt. Die auditorischen Eindrücke werden oft als Summen, Pfeifen, Klingeln, Brummen, Rauschen oder Knacken beschrieben.
Tinnitus (ICD-10 H93.1) ist eine Wahrnehmung von Geräuschen, ohne dass ein externer akustischer Stimulus existiert. Von „objektivem Tinnitus“ spricht man, wenn der Betroffene die Schallaussendungen einer körpereigenen Schallquelle im oder in unmittelbarer Nähe vom Ohr wahrnimmt, etwa gefäß- oder muskelbedingte Geräusche. Beim „subjektiven Tinnitus“ gibt es weder eine externe noch eine körpereigene Schallquelle. Der auditorische Eindruck ist auf eine abnormale Aktivität im Innenohr und/oder im zentralen Nervensystem zurückzuführen. Oft werden die Ohrgeräusche als Summen, Pfeifen, Klingeln, Zischen, Brummen, Rauschen oder Knacken beschrieben. Häufig besteht eine begleitende Hörstörung. Nach der Verlaufsdauer wird das akute Ohrgeräusch (< 3 Monate) vom chronischen Tinnitus (> 3 Monate) unterschieden. Die Diagnose basiert auf Anamnese, Klinik und HNO-ärztlichen Untersuchungen. Diese können durch Laboranalysen und bildgebende Verfahren sowie zahnärztliche, internistische, neurologische, orthopädische und psychiatrische Konsile ergänzt werden.
Die Therapie richtet sich nach Ursache, Schwere und Dauer der Erkrankung. Ein akuter Tinnitus kann mit durchblutungsfördernden Maßnahmen, Kortikosteroiden und ionotropen Therapien gelindert werden. Beim chronischen Tinnitus stehen das Counseling, das heißt eine ausführliche und umfassende Beratung des Patienten, psychotherapeutische Interventionen und hörverbessernde Maßnahmen an erster Stelle. Für die meisten anderen Maßnahmen, die zur Tinnitusbehandlung eingesetzt werden, liegt keine oder eine nur unzureichende Evidenz vor. Dazu gehören beispielsweise Sound- und Musiktherapien, Neuromodulationen und Akupunktur. Eine tinnitussymptombezogene Arzneimitteltherapie gibt es nicht [1].
Epidemiologie
Tinnitus ist ein häufiges Symptom, von dem zwischen 10 bis 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung betroffen ist. Etwa 1 Prozent gibt an, von dem Ohrgeräusch in ihrer Lebensqualität erheblich beeinträchtigt zu sein. Männer und Frauen erkranken etwa gleich häufig [2].
Einer großen englischen Studie (National Study of Hearing) zufolge liegt die Prävalenz unter Erwachsenen bei 10,1 Prozent. Der Tinnitus wurde von 2,8 Prozent der Befragten als mäßig störend, von 1,6 Prozent als stark störend und von 0,5 Prozent als sehr stark störend beschrieben. Die Prävalenz von beeinträchtigendem Tinnitus steigt mit zunehmendem Alter bis zum 70. Lebensjahr an. Einige Studien zeigen, dass sie danach weiter zunimmt, während die Prävalenz anderen Studien zufolge abnimmt [3,4].
Studien in Ägypten, Japan und Nigeria zeigen eine ähnliche Tinnitusprävalenz [5–7].
Ursachen
Obwohl Tinnitus ein weit verbreitetes Problem darstellt, ist die Ursache bis heute nicht vollständig verstanden. Nach derzeitigem Kenntnisstand kann das Ohrgeräusch – egal ob symptomatisch oder idiopathisch – vielfältige Ätiologien haben. Häufig liegt ihm jedoch ein primärer pathophysiologischer Prozess im Innenohr zugrunde. Eine zentrale Schädigung ist nur selten als Ursache detektierbar [1,3]. Einige Studien deuten auf eine schwache genetische Veranlagung hin [8].
Risikofaktoren
Hauptrisikofaktor bei Tinnitus ist Schwerhörigkeit – auch wenn der Zusammenhang nicht eindeutig ist. Einige Menschen mit Ohrgeräuschen haben ein audiometrisch normales Gehör, umgekehrt weisen viele Menschen mit Schwerhörigkeit keinen Tinnitus auf [3,4,9].
Menschen, die sowohl am Arbeitsplatz als auch in der Freizeit einer hohen Lärmbelastung ausgesetzt sind, erleiden mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Tinnitus [3,9].
Als weitere Risikofaktoren werden diskutiert [3]:
Übergewicht
Rauchen
Alkoholkonsum
otologische Einflüsse:Infektionen wie Otitis media, Labyrinthitis und Mastoiditis, Neoplasien wie Vestibularisschwannom und Meningeom, Labyrintherkrankungen wie Schallempfindungsschwerhörigkeit, Menière-Krankheit und Vestibularisschwindel, Cerumen, Otosklerose, Presbyakusis und Lärmbelastung
neurologische Erkrankungen wie Meningitis, Migräne, Multiple Sklerose und Epilepsie
Überdies können verschiedene Medikamente einen Tinnitus auslösen, darunter Salicylate, Chinin, Aminoglykosid-Antibiotika und einige antineoplastische Wirkstoffe, insbesondere Arzneimittel auf Platinbasis [3,10].
Komorbiditäten
Tinnitus kann in Verbindung mit unterschiedlichen Erkrankungen auftreten. Diese können präexistent, tinnitusunabhängig oder tinnitusinduziert sein.
Häufig finden sich psychische und/oder psychosomatische Komorbiditäten, vor allem Angststörungen, Depressionen und Schlafstörungen. Diese können die Entstehung von Ohrgeräuschen fördern und einen Tinnitus verstärken. Je ausgeprägter die Geräuschbelastung ist, umso wahrscheinlicher liegt eine Komorbidität vor. Als kognitiv-emotionale Beeinträchtigungen werden vorrangig Konzentrationsstörungen und Schlafstörungen angegeben.
Menschen mit Schmerzen und/oder einer Dysfunktion der Kaumuskulatur, der Kiefergelenke und der Zähne haben deutlich öfter Tinnitusprobleme als Personen ohne kraniomandibuläre Dysfunktionen (craniomandibular dysfunction [CMD]). Zwischen Tinnitus und CMD scheint eine bidirektionale Beziehung vorzuliegen, sodass sie als jeweilige Komorbidität gewertet werden. Der mit CMD und/oder kraniozervikalen Symptomen einhergehende Tinnitus wird auch als somatosensorischer Tinnitus bezeichnet und als Subtyp des subjektiven Tinnitus eingeordnet, da meist ein normales Hörvermögen besteht, der Altersdurchschnitt der Patienten niedriger ist und Frauen überrepräsentiert sind.
Ein weiteres häufiges Begleitsymptom bei Tinnitus ist eine verminderte Geräuschtoleranz in Form einer Hyperakusis – definiert als Abneigung gegen laute Geräusche. So leiden 40 Prozent der Tinnitus-Patienten an einer Geräuschüberempfindlichkeit und bis zu 86 Prozent der Personen mit einer Hyperakusis an Tinnitus [1,3,11].
Pathogenese
Pathogenetisch gibt es vielfältige Ansätze. Wir haben uns bei der Auswahl auf die in der aktuellen S3-Leitlinie „Chronischer Tinnitus“ erwähnten Modelle beschränkt [1].
In erster Linie stellen otologische Erkrankungen, insbesondere die Hochfrequenzschwerhörigkeit, einen der Hauptrisikofaktoren für Tinnitus dar. Entsprechend zeigt sich die Tinnitusfrequenz häufig im Bereich des größten Hörverlusts. Eine cochleär bedingte Hörminderung allein kann allerdings nicht für den Tinnitus verantwortlich gemacht werden, denn die Klangwahrnehmung kann selbst dann bestehen bleiben, wenn der Input aus dem Ohr durch die Durchtrennung des Hörnervs ausgelöscht wird. Cochlea-Anomalien sind demnach zwar als Quelle des Tinnitus möglich, die Ohrgeräusche müssten aber über neurale Veränderungen im zentralen Hörsystem aufrechterhalten werden.
Pathophysiologisch scheinen hochempfindliche auditorische Rückkopplungsmechanismen betroffen zu sein. So könnte die Großhirnrinde bei einem Hörverlust versuchen, fehlende Frequenzen durch geeignete Prozesse – etwa einer Drosselung hemmender kortikaler Prozesse – auszugleichen. Diese Herabregulierung führt zu einer Übererregbarkeit innerhalb zentraler Hörstrukturen, einschließlich des primären auditorischen Kortex. Bei Haarzellschaden soll das zur Verstärkung des Tinnitus und einer paradoxen Hyperaktivität der äußeren Haarzellen führen.
Bei schwerem Tinnitus vermittelt die zentralnervöse Verarbeitung oft pathologisch- übersteigerte neuronale Reiz-Antworten, zum Beispiel eine erhöhte Aufmerksamkeitslenkung zum Ohrgeräusch, Angst und Schlafstörungen. Hierfür werden zentrale psychophysiologische und neurophysiologische Verarbeitungsmechanismen des Tinnitusreizes verantwortlich gemacht.
Die neuronale Synchronität wäre ein weiterer möglicher Mechanismus. Die zeitliche Synchronität im Feuermuster mehrerer Neuronen im primären auditorischen Kortex nimmt unmittelbar nach einem lärmbedingten Hörverlust zu – insbesondere bei Neuronen, die den betroffenen Teil des tonotopischen Felds repräsentieren. Eine erhöhte neuronale Synchronität fällt tendenziell auch räumlich mit Veränderungen in den Frequenzabstimmungseigenschaften derselben betroffenen Neuronen zusammen. Ein Hörverlust geht mit einer gestörten Tonotopizität im primären auditorischen Kortex einher, sodass Neuronen mit charakteristischen Frequenzen innerhalb der betroffenen Region die Abstimmungseigenschaften ihrer weniger betroffenen Nachbarn am Rand des Hörverlusts übernehmen.
Die auditorischen Veränderungen nach einem Hörverlust sind womöglich mit der Umstrukturierung im somatosensorischen Bereich nach einer Amputation zu vergleichen. Ähnlich wie bei Phantomschmerzen wäre als kompensatorische Reaktion auf den reduzierten sensorischen Input eine gesteigerte Erregung, Plastizität und Konnektivität entlang der gesamten zentralen auditorischen Bahn denkbar.
Ein vorgeschlagenes Modell legt nahe, dass die Tinnituswahrnehmung nur dann ins Bewusstsein gelangt, wenn die abweichende neuronale Aktivität im primären sensorischen Kortex mit einem breiteren kortikalen Netzwerk verbunden ist, an dem frontale, parietale und limbische Hirnregionen beteiligt sind. Die Vorstellung wird unterstützt, da Betroffene mit chronischem Tinnitus nicht nur in auditorischen Strukturen funktionelle Veränderungen aufweisen, sondern eben auch in limbischen, parietalen und frontalen Arealen. Hierbei erscheint die funktionale Konnektivität zwischen auditorischen und nicht-auditorischen Bereichen gesteigert. Diese Tinnitus-assoziierten strukturellen und funktionellen Abweichungen neuronaler Netzwerke verändern sich mit zunehmender Tinnitusdauer. Darüber hinaus werden sie wesentlich durch eine Aufmerksamkeitsumlenkung als Tinnitus-Akzentuierung beeinflusst.
Die Aktivität im auditorischen Kortex könnte mit der subjektiven Lautheit des Ohrgeräuschs korrelieren, reicht für die bewusste Wahrnehmung des Tinnitus allein aber nicht aus. Eine bewusste auditorische Wahrnehmung ist erst dann feststellbar, wenn eine abnormale Aktivität im auditorischen Kortex mit dem fronto-parietalen Aufmerksamkeitsnetzwerk in Verbindung steht.
Beim individuellen Leidensdruck von Tinnitus-Patienten scheint die Mitaktivierung eines unspezifischen Disstress-Netzwerks relevant zu sein, das unter anderem das anteriore Cingulum, die anteriore Insel und die Amygdala umfasst und neben Ohrgeräuschen auch bei Schmerzsyndromen und somatoformen Störungen eine Rolle spielt.
Neben den beschriebenen Aspekten werden noch weitere pathophysiologische Mechanismen des Tinnitus diskutiert, die hier aber keine Erwähnung finden [1,3].
Einteilung
Ein Tinnitus kann abhängig von der Objektivierbarkeit der Geräusche, dem zeitlichen Verlauf und dem Schweregrad/Kompensationsgrad eingeteilt werden.
Objektivierbarkeit
Bei „objektivem Tinnitus“ werden Schallaussendungen einer körpereigenen Schallquelle im Ohr oder in dessen Nähe wahrgenommen, zum Beispiel gefäß- oder muskelbedingte Geräusche. Im eigentlichen Sinne handelt es sich um gehörte Körpereigengeräusche.
Beim „subjektiven Tinnitus“ gibt es weder eine externe noch eine körpereigene Schallquelle [1].
Zeitlicher Verlauf
Von „akutem Tinnitus“ wird gesprochen, wenn die Symptome nicht länger als drei Monate nach dem erstmaligen Auftreten anhalten.
„Chronischer Tinnitus“ ist definiert als Tinnitus mit einer Dauer von mindestens drei Monaten.
Mitunter wird der zeitliche Verlauf des chronischen Tinnitus abermals unterteilt. Ebenso gibt es den Begriff des subakuten Tinnitus. Das liegt daran, dass die Übergänge zwischen den Zeitverläufen nicht statisch, sondern fließend sind. Nach heutigem Wissenstand sollte jedoch nur noch zwischen akut und chronisch unterschieden werden [1].
Schweregrad
Die tatsächliche Belastung durch den Tinnitus ist individuell sehr verschieden. Sie kann als Schweregrad nach verschiedenen Kriterien bestimmt werden und ist zur Erfassung der Therapieindikation bedeutsam und empfohlen.
Die Selbstauskunft-Instrumentarien wie der Tinnitus-Fragebogen „TF“ und die Kurzform „Mini-TF12“ ergeben die Tinnitusbelastung – abgestuft in vier Grade von leicht, mittelschwer, schwer und schwerstgradig.
Eine zusätzliche Abstufung des Schweregrads ist der Kompensationsgrad (Kompensation/Dekompensation). Hierbei gilt:
Grade 1 und 2: kompensierter Tinnitus
Grade 3 und 4: dekompensierter Tinnitus
Kompensierter Tinnitus: Das Ohrgeräusch wird zwar registriert, verursacht jedoch keine alltäglichen Schwierigkeiten oder zusätzliche Beschwerden. Ein Leidensdruck ist nicht vorhanden oder noch tolerabel. Die Lebensqualität ist nicht wesentlich beeinträchtigt.
Dekompensierter Tinnitus: Das Ohrgeräusch wirkt sich massiv auf sämtliche Lebensbereiche aus und führt zur Entwicklung oder Verschlimmerung einer Komorbidität wie Angstzustände, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und/oder Depressionen. Der Leidensdruck ist hoch, die Lebensqualität stark beeinträchtigt [1].
Symptome
Ein Tinnitus macht sich durch Ohrgeräusche bemerkbar, die nur der Betroffene wahrnimmt. Am häufigsten werden hohe Pieptöne oder ein monotones, tiefes Rauschen beschrieben; weiterhin ein Pfeifen, Klingeln, Zischen, Summen, Brummen, Klicken, Klopfen, Hämmern, Knarren oder Knacken. Die Geräusche können einzeln oder gemischt, andauernd oder intermittierend, an- und abschwellend und in veränderlicher Frequenz auftreten. Beim objektiven, gefäßbedingten Tinnitus sind die Geräusche pulssynchron.
Etwa die Hälfte der Patienten nimmt das lästige Ohrgeräusch in beiden Ohren oder zentral im Kopf wahr. Bei den übrigen Patienten ist der Tinnitus häufiger links- als rechtsseitig. Einige wenige Menschen nehmen ihn als externes Geräusch wahr oder haben Schwierigkeiten, die Lokalisation einzuordnen. Der Grund für die linksseitige Prävalenz ist unbekannt.
Anfangs werden die Ohrgeräusche gewöhnlich nur nach einer sehr lauten Beschallung wahrgenommen – etwa nach einem Konzert, Sportevent oder Arbeiten mit sehr lauten Maschinen – und verschwinden nach kurzer Zeit wieder. Ein Tinnitus kann aber auch ohne Grund entstehen, länger anhalten und sogar dauerhaft bestehen bleiben.
Objektiv gemessen sind die Geräusche nicht lauter als das Rascheln trockener Blätter. Die Lautstärke liegt somit knapp über der sogenannten Hörschwelle, also der Grenze, ab der individuell ein Ton gehört werden kann.
Stress, körperliche Überbeanspruchung oder Alkoholgenuss können die Geräusche verstärken. Manche nehmen den Tinnitus vermehrt bei Stille bzw. in der Nacht wahr, was das Einschlafen beeinträchtigt.
Eine Hörstörung kann, muss aber nicht zwingend vorliegen. Bei einer begleitenden Schwerhörigkeit wird ein Tinnitus lauter empfunden, da die Geräusche aus der Umwelt nicht mehr ablenkend wirken. Bei starker Schwerhörigkeit kann sich der Tinnitus als Melodie äußern.
Schwindel und Hörminderung können mit einem akuten Tinnitus – insbesondere in Zusammenhang mit einem Hörsturz einhergehen.
Eine Hyperakusis wird vor allem in der akuten Phase des Tinnitus berichtet. So reagiert etwa die Hälfte der Betroffenen übermäßig empfindlich auf laute Geräusche in der Umwelt. Leise Musik, Stimmengemurmel oder Autoverkehr werden hingegen oft als angenehm empfunden, da sie das innere Geräusch in den Hintergrund drängen.
Einige Menschen fühlen sich durch den Tinnitus in ihren Alltagsaktivitäten und der Lebensqualität stark eingeschränkt. Das kann in Stress, Anspannung, Konzentrationsschwierigkeiten und Schlafstörungen resultieren [1,3,12].
Diagnostik
Für die meisten Tinnitusfälle gibt es keinen objektiven Test; die Diagnose wird auf Grundlage der Anamnese und Schilderung des Patienten gestellt. Neben der Ermittlung von Geräuschqualität und -quantität sind die Ursachen, die Tinnitusbelastung sowie die Abklärung eines gleichzeitig bestehenden Hörverlusts relevant. Otogene Ursachen und außerhalb des Ohrs gelegene Auslöser und Verstärkungsfaktoren sollten individuell ermittelt oder ausgeschlossen werden.
Zu den wichtigen Fragen gehören der Ort und der Charakter des Tinnitus, insbesondere ob eine rhythmische oder pulsierende Komponente vorliegt, sowie etwaige Folgen und Auswirkungen auf Schlaf, Konzentration und Alltag. Zur Erfassung des subjektiven Schweregrads sowie möglicher Belastungen eignen sich unterschiedliche Fragebögen, zum Beispiel der Tinnitus-Fragebogen nach Goebel & Hiller, Mini-Tinnitus-Fragebogen (Mini-TF12), Tinnitus-Beeinträchtigungs-Fragebogen (TBF-12) und der Tinnitus Functional Index (TFI). Die subjektive Lautheit und der Belästigungsgrad können zum Beispiel durch numerische oder visuelle Analogskalen erfasst werden, die auch zur Verlaufs- und Therapiekontrolle eingesetzt werden. Hinsichtlich internationaler Vergleichsmöglichkeiten sind validierte Skalen zu bevorzugen.
Pulsierender Tinnitus kann selten durch eine Auskultation objektiviert werden [1].
Basisdiagnostik
Unter Kostengesichtspunkten sollte zwischen der notwendigen und der im Einzelfall nützlichen Diagnostik unterschieden werden. Ein starres Diagnoseschema ist bei Tinnitus nicht zielführend, vielmehr ist eine ursachenorientierte und nach Schweregrad adaptierte Diagnostik zu empfehlen. Hilfreich ist eine strukturierte Vorgehensweise, wie sie das evaluierte „Strukturierte Tinnitus Interview (STI)“ anbietet [13].
Die im Folgenden beschriebene Basisdiagnostik soll bei chronischem Tinnitus einmalig durchgeführt werden oder bei wesentlicher Verschlechterung erfolgen. Dazu gehören [1]:
HNO-ärztliche Untersuchung einschließlich Trommelfellmikroskopie, Nasopharyngoskopie und Prüfung auf Tubendurchgängigkeit
Auskultation des Ohrs und der A. carotis bei pulssynchronem Ohrgeräusch oder bei Verdacht objektiven Tinnitus
Tonaudiometrie, ggf. mit gepulsten Tönen, ggf. inkl. Höchsttonaudiometrie
Unbehaglichkeitsschwelle, ggf. mit kategorialer Lautheitsskalierung
Bestimmung von Tinnitusintensität (dB HL über der Hörschwelle) und Frequenzcharakteristik (Hz) mittels Schmalbandrauschen und Sinustönen
Bestimmung des minimalen Maskierungspegels (MML) mit weißem Rauschen und Sinustönen
Tympanometrie und Stapediusreflexe, ggf. fakultativ einschließlich Aufzeichnung möglicher atem- oder pulssynchroner Veränderungen
Sprachaudiometrie ohne und ggf. mit Störschall zur Überprüfung einer Hörgeräteindikation, ggf. als adaptive Messung
Hirnstammaudiometrie (brainstem evoked response audiometry BERA), besonders bei einseitigem Tinnitus mit Hörminderung (Cave: hohe Reizpegel bei Hyperakusis)
orientierende, funktionelle Halswirbelsäulendiagnostik und Untersuchung des Gebisses und des Kauapparates in stiller Umgebung zur Erfassung von Tinnitusmodulationen
Blutdruck- und Pulsmessung
Weiterführende Diagnostik
Die nachfolgende weiterführende Diagnostik soll bei chronischem Tinnitus individuell nach den Ergebnissen von Anamnese und Basisdiagnostik durchgeführt werden. Diese umfasst [1]:
erweiterte, biografische Anamnese und/oder strukturierte Tinnitus-Anamnese: bei hohem Tinnitusbelastungsgrad
dichotischer Test: bei Verdacht auf Störungen der zentralen Hörverarbeitung
DPOAE mit kontralateraler Stimulation: zur Detektion von Defiziten zentraler Hemmung
Diagnostik der psychischen Beeinträchtigung, der kognitiv-emotionalen Verarbeitung und der Bewältigung des Tinnitus: bei hohem Tinnitusbelastungsgrad
segmentale Untersuchung der Muskeln und Gelenkfunktionen der HWS nach manualmedizinischen Richtlinien (inklusive ROM), manualmedizinische Beurteilung von Kiefergelenksfunktion und muskulären Triggerpunkten im Schulterbereich und der Kaumuskulatur, Röntgenaufnahme der HWS, ggfs. Funktionsaufnahme: bei Beschwerden im Bereich der HWS
zahnärztliche Funktionsdiagnostik: bei Hinweisen auf Störungen im Kauapparat respektive einer kraniomandibulären Dysfunktion (CMD-Screening)
Dopplersonographie der hirnversorgenden Arterien (extra- und transkraniell) und von ohrnahen Emissionen: bei Hinweis auf objektive pulssynchrone Ohrgeräusche oder klinischen Zeichen einer Durchblutungsstörung der hirnversorgenden Gefäße, insbesondere beim Kopfdrehen
Kernspintomographie des Schädels: Zur Abklärung retrocochleärer Schäden, bei einer einseitigen Schwerhörigkeit oder Taubheit, bei Hinweisen auf ein zentral-auditorisches Geschehen, Schwindelsymptomen oder bei einer neurologischen Erkrankung
hochauflösende Computertomografie (CT) der Felsenbeine: zum Nachweis von ossären Destruktionen, entzündlichen Vorgängen, Bogengangsdehiszenzen und Fehlbildungen des Felsenbeins
digitale Subtraktionsangiographie oder Angiographie/Angio-MRT/-CT des zerebrovaskulären Systems: bei pulssynchronem Tinnitus
internistische Untersuchung: bei Verdacht auf kardiovaskuläre, metabolische oder rheumatische Erkrankungen
Labordiagnostik: bei Verdacht auf serologische und internistische Grunderkrankungen
Infektionsserologie: zum Beispiel Borreliose, HIV, Lues
Liquordiagnostik: bei Hinweis auf entzündlichen Prozess des ZNS
Stoffwechsel: etwa Blutzucker, Blutfette, Leberenzyme, Schilddrüsenhormone
Blutbild
Differenzialdiagnostik
Bei begleitenden Kopfschmerzen sind andere Erkrankungen differentialdiagnostisch zu berücksichtigen bzw. auszuschließen, unter anderem:
trigeminoautonomale Kopfschmerzsyndrome wie Migräne
raumfordernde Prozesse
idiopathische intrakranielle Hypertension (IIH)
Normaldruckhydrocephalus (NPH)
Anomalien des kraniozervikalen Übergangs
Bei pulssynchronem pulsatilem Tinnitus gilt es, Gefäßanomalien abzuklären, zum Beispiel:
arteriovenöse Malformation
Meningeom
Aneurysma
Karotisstenose
Karotisdissektion
Sinusvenenthrombose
In diesen Fällen ist eine differenzierte neurologische oder angiologische Diagnostik erforderlich.
Ist der Tinnitus mit einer Hörminderung und einer Nierenerkrankung (vor allem einer Nephritis) assoziiert, muss differentialdiagnostisch an ein Alport-Syndrom (progrediente Verschlechterung der Nierenfunktion mit zusätzlicher Affektion von Innenohr und Auge) gedacht werden. Ebenso können bestimmte genetische Bindegewebserkrankungen (Kollagenopathien) wie das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) oder Stickler-Syndrom mit einem Hörverlust und Tinnitus einhergehen. Die Sicherung dieser Diagnosen erfolgt molekulargenetisch [1].
Therapie
Bei den therapeutischen Maßnahmen muss zwischen dem akuten und chronischen Tinnitus unterschieden werden. Für akut auftretende Ohrgeräusche, insbesondere wenn sie in Verbindung oder in der direkten Folge mit einem plötzlichen Hörverlust auftreten, hat sich die systemische oder intratympanale Kortisontherapie bewährt. Nähere Informationen finden Sie unter Hörsturz.
Die Behandlung des chronischen Tinnitus basiert auf einer fundierten Diagnostik, inklusive Erfassung der audiologischen Besonderheiten des Ohrgeräuschs, einer begleitenden Schwerhörigkeit und eventuell vorhandenen psychosomatischen Komorbiditäten sowie anderen Begleiterkrankungen. Therapeutisch finden die unterschiedlichsten Verfahren Anwendung. Aufgrund der Fülle (und oftmals heterogenen Studienlage) sollte deren Einsatz am besten im Rahmen einer Tinnituskonferenz besprochen werden.
Methoden, die bei der Behandlung von chronischem Tinnitus eine Rolle spielen, sind:
Counseling
Interventionen zum Hörverlust
Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierte Verfahren
Tinnitus-Retraining-Therapie
musiktherapeutische Ansätze und Sound-Therapie
medikamentöse Therapie
transkranielle Magnetstimulation
Elektrostimulation
manualmedizinische Untersuchung mit ggf. physiotherapeutischer Folgeversorgung
Nahrungsergänzungsmittel
Akupunktur
Selbsthilfe
Experten der aktuellen S3-Leitlinie „Chronischer Tinnitus“ haben diese auf Grundlage der verfügbaren Studiendaten bewertet und sich für folgende Empfehlungen ausgesprochen [1]:
Counseling
Ein Tinnitus-Counseling sollte als Grundlage einer Therapie bei chronischem Tinnitus angeboten werden. Mittels klärenden psychoedukativen Erläuterungen und dem Aufzeigen von Strategien zum Umgang mit der gutartigen Erkrankung können Ängste oder überzogene Heilungserwartungen abgebaut werden. Ferner dient das Counseling zur Vermeidung negativer, selbstverstärkender Kreisläufe bei anhaltenden Ohrgeräuschen.
Interventionen zum Hörverlust
Bei chronischem Tinnitus und Hörverlust sollte eine Hörgeräteversorgung (nach Bedarf ein- oder beidseitig) empfohlen werden. Von Rauschgeneratoren oder Noisern wird indes abgeraten. Bei einer Hörminderung bringt eine Noiserfunktion zusätzlich zum Hörgerät keinen Vorteil, ein alleiniger Effekt von Noisern bei Normalhörigkeit ist nicht belegt.
Bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Ertaubung (auch einseitig) kann ein Cochlea-Implantat eine gute Tinnitussuppression bewirken.
Spezielle Hörtherapien können die Tinnitushabituation fördern, indem inhibitorische Effekte der Hörwahrnehmung trainiert und gestärkt werden. Entsprechend sollten sie bei chronischem Tinnitus empfohlen werden.
Verhaltenstherapie und psychodynamisch orientierte Verfahren
Die Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Interventionen im Vergleich zu Warteliste-Kontrollgruppen, aber auch im Vergleich zu aktiven Kontrollgruppen in Bezug auf die Tinnitusbelastung, sind durch unterschiedliche Studien gut belegt. Geeignete Verfahren sind:
kognitive Verhaltenstherapie (KVT bzw. CBT)
internetbasierte CBT (iKVT)
Mindfulness basierte KVT
Akzeptanz und Commitment basierte Therapie (ACT)
Tinnitus-spezifische Psychotherapien sollten in qualifizierten Einrichtungen wie Praxen, Tinnituszentren, Kliniken (teilstationär/stationär bei psychosomatischer Komorbidität) oder entsprechenden Reha-Einrichtungen in Einzel- und/oder Gruppensitzungen erfolgen. Internet-gestützte psychotherapeutische Interventionen, mit und ohne direkten Therapeutenkontakt, wurden bereits vereinzelt evaluiert bzw. werden noch weiter erforscht.
Polypragmatische Tinnitusbehandlungen, bei denen Therapieverfahren ohne Wirksamkeitsnachweis eingesetzt werden, sind abzulehnen.
Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT)
Kernpunkt der Retraining-Therapie ist eine akustische Behandlung mit frequenzunmoduliertem Rauschen. Die Habituationstechnik vermindert den auditorischen, emotionalen und autonomen Impact des Tinnitusgeräuschs und reduziert so die Stressantwort auf den Tinnitus-Stimulus. Integriert werden drei bis fünf Interventionsschritte einschließlich einer ausführlichen Tinnitusanamnese, Hörablenkung vom Tinnitus durch Breitbandrauschen über ein Tinnitusinstrument und ein psychologisches Counseling.
Gemäß der Leitlinie kann die TRT als langfristige Therapiemaßnahme bei chronischem Tinnitus unter Berücksichtigung von Hörverlust und Hyperakusis erwogen werden. Eine Noiserversorgung bringt keinen zusätzlichen Nutzen und ist nicht erforderlich.
Musiktherapeutische Ansätze und Sound-Therapie
Eine allgemeine Verwendung von Tönen, auditiven Szenen und breit- oder schmalbandigem Rauschen im Bereich der Tinnitusfrequenz, wurde in vielen Ansätzen und Applikationsformen für die Tinnitusbehandlung erprobt und vor allem verkauft. Dazu gehören Noiser als apparative Anwendung, CDs oder andere Tonträger und selbst Smartphone-gestützte Applikationen. Eine Wirksamkeit konnte jedoch für keins der Verfahren nachgewiesen werden.
Musiktherapeutische Angebote wie etwa die tinnituszentrierte Musiktherapie (TIM), die Musiktherapie nach dem Heidelberger Konzept sind zwar für die Schulung der Hörfähigkeit sinnvoll, eine Wirksamkeit in Bezug auf chronischen Tinnitus wurde bislang aber nicht durch größere und statistisch sorgfältig geplante Studien bestätigt.
Auf die Tailor-Made-Notched-Musik-Therapie (TMNMT) sollte bei chronischem Tinnitus verzichtet werden. Hier wird in der Tinnitusfrequenz unterbrochene (notch) Musik als Smartphone-App oder in Verbindung mit Hörgeräten angeboten. Sie wirkt bei chronischem Tinnitus nicht besser als normale, unveränderte Musik. Ebenso wenig werden eine Sound-Therapie mit Tönen, Tonabfolgen und Geräuschen und eine akustische Neuromodulation empfohlen.
Medikamentöse Therapie
Die Leitlinienexperten raten von einer medikamentösen Behandlung des chronischen Tinnitus ab. Untersucht wurde die Datenlage für:
Antidepressiva: trizyklische Antidepressiva, Paroxetin (Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) und Trazadon (Serotonin-Antagonist und -Wiederaufnahme-Hemmer)
Benzodiazepine: Diazepam, Oxazepam und Clonazepam
Betahistin
Cannabinoide/Cannabis
Gabapentin
Ginkgo biloba
Glutamat-Antagonisten: Acamprosite/Acamprosate, Memantine, Neramexane und Caroverine
Melatonin
Oxytocin
Steroide: Methylprednisolon
Zink
Bei den erwähnten Wirkstoffen und Nahrungsergänzungsmitteln gäbe es keine ausreichenden Daten für eine Wirksamkeit speziell gegen Tinnitus, jedoch Belege für potenziell signifikante Nebenwirkungen – so das Leitliniengremium. Anders sieht es aus, wenn behandlungspflichtige Komorbiditäten wie Angststörungen, Depressionen und quälende Schlafstörungen vorliegen. Hier gelten die Therapie-Empfehlungen der entsprechenden Leitlinien.
Transkranielle Magnetstimulation
Die repetitive transkranielle Magnetstimulation (rTMS) ist ein Verfahren, mit dem die neuronale Erregbarkeit oberflächlich gelegener Gehirnareale nicht-invasiv beeinflusst werden kann. Die Therapie wird bereits seit rund 20 Jahren zur Linderung von Tinnitus untersucht, speziell die rTMS über dem auditorischen Kortex (iCBT) und über dem temporoparietalen Kortex. Aktuelle Meta-Analysen ergeben widersprüchlich Ergebnisse einer Wirksamkeit, die über die von Placebo hinausgeht. Gemäß Leitlinie sollte auf Methoden zur transkraniellen Magnetstimulation des auditorischen Kortex (iCBT) bei chronischem Tinnitus verzichtet werden.
Elektrostimulation
Transkranielle Elektrostimulation
Bei der transkraniellen Gleichstromstimulation (transkranielle Direct Current Stimulation, tDCS) wird Strom mit niedriger Stromstärke (0,5–2 mA) über die Kopfhaut auf den Kortex appliziert. Abhängig von der Polarität steigt oder sinkt die kortikale Erregbarkeit in den stimulierten Arealen. Die meisten Studien zeigen keine Unterschiede zwischen echter und Sham-Stimulation, sodass die Leitliniengruppe Methoden zur transkraniellen Elektrostimulation bei chronischem Tinnitus nicht empfiehlt.
Vagusnerv-Stimulation
Bei der Stimulation des Vagusnervs sollen cholinerge basale Kerngebiete so stimuliert werden, dass sich daraus Veränderungen der kortikalen Organisation ergeben und verbesserte Lerneffekte einstellen. Bei Tinnitus wird mittels einer akustischen Stimulierung angestrebt, dass der Tinnitus „verlernt“ wird.
Der N. Vagus kann invasiv durch einen implantierten Vagusnerv-Stimulator oder nicht-invasiv als transkutane Vagusnerv-Anregung durch Elektrostimulation des äußeren Gehörgangs erfolgen. Beide Verfahren sind zwar sicher anzuwenden, eine Evidenz für die Wirksamkeit bei chronischem Tinnitus besteht jedoch nicht. Deshalb sollte auf eine transkutane oder invasive Vagusnerv-Stimulation allein oder in Verbindung mit akustischer Stimulation bei chronischem Tinnitus verzichtet werden.
Bimodale akustische und elektrische Stimulation
Die bimodale akustische und elektrische Stimulation soll gleichzeitig die Hör- und Trigeminusbahnen reizen und so plastische Veränderungen im Gehirn vermitteln. Die Anwendung gilt als sicher, belastbare Evidenz für eine Wirksamkeit fehlen allerdings. Deshalb wird die Anwendung bei chronischem Tinnitus nicht empfohlen.
Invasive Elektrostimulation
Für die invasive Elektrostimulation gibt es weder eine Evidenz für deren sichere Durchführung noch für therapeutische Effekte bei Tinnitus. Kontrollierte Studien und Meta-Analysen fehlen, Nebenwirkungen können schwerwiegend sein. Die Leitliniengruppe empfiehlt diese Therapie nicht zur Linderung von chronischem Tinnitus.
Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS)
Bei der TENS-Behandlung werden meist Interferenzströme mit einer Frequenz von 100–300 Hz direkt an der Ohrmuschel oder auf dem Mastoid appliziert. Für eine sichere Durchführung und therapeutische Effekte bei Tinnitus gibt es keine oder nur mäßige Evidenz, kontrollierte Studien und Langzeitbeobachtungen fehlen. Gemäß Leitlinie sollte auf die transkutane elektrische Nervenstimulation zur Behandlung von chronischem Tinnitus verzichtet werden.
Low-Level-Lasertherapie
Bei der Low-Level-Laser-Therapien (frühere Bezeichnung Soft-Laser) werden Ohr, Mastoid oder Gehörgang mit geringer Intensität (ca. 100 mW) und einer Wellenlänge von meist 830 nm für 15–20 Minuten an mehreren Tagen bestrahlt. Es bestehen weder eine Evidenz für deren sichere Durchführung noch für therapeutische Resultate bei Tinnitus, kontrollierte Studien und Meta-Analysen fehlen. Die Leitlinie kann die Low-Level-Lasertherapie nicht bei chronischem Tinnitus empfehlen.
Manualmedizinische Untersuchung mit ggf. physiotherapeutischer Folgeversorgung
Wurden im Zuge der orientierenden Basisuntersuchung von HWS und/oder Kauapparat Tinnitusmodulationen festgestellt und bei der weiterführenden manual-medizinischen Untersuchung eine Beteiligung der HWS, Kiefergelenksfunktion und muskulären Triggerpunkten/Dysbalancen ermittelt, sollten manualmedizinische und physiotherapeutische Therapien zum Einsatz kommen. Die Verfahren wirken sich positiv auf den Grad der Tinnitusschwere, die Beschwerden im Bereich der HWS und eine begleitende craniomandibulärer Dysfunktion aus.
Nahrungsergänzungsmittel
Auf Nahrungsergänzungsmittel soll bei chronischem Tinnitus verzichtet werden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass zum Beispiel Lipoflavonoide, Knoblauch, homöopathische Präparate, traditionelle chinesisch-koreanische Kräutermedizin, Honigbienenlarven, verschiedene Vitamine und Mineralien eine nachgewiesene Wirksamkeit auf die Ohrgeräusche haben.
Akupunktur
Ob Akupunktur oder Elektroakupunktur bei chronischem Tinnitus wirkt, kann aufgrund nur unzureichender Studien nicht beurteilt werden; ein Nutzen ist nicht nachweisbar, minimaler Schaden wird angenommen. Deshalb sollte auf (Elektro-)Akupunktur bei chronischem Tinnitus verzichtet werden.
Selbsthilfe
Trotz zahlreicher Publikationen zu Bedeutung und Funktionsfähigkeit von Selbsthilfegruppen-Aktivitäten gibt es kaum Evidenz, ob und wie sich die Selbsthilfe gezielt auf einen Tinnitus auswirkt. Dennoch ist sie fester Bestandteil der Tinnitus-Management-Leitlinien des britischen Gesundheitsministeriums, der US-amerikanischen Tinnitus-Praxisleitlinie, der American Academy of Otolaryngology (AAO) und der American Tinnitus Association. Auch die deutschen Leitlinienexperten empfehlen, Betroffene mit chronischem Tinnitus zur Teilnahme an Selbsthilfeangeboten – speziell Face-to-Face-Selbsthilfegruppen (SHG) – zu motivieren. Positive Zusammenhänge sind insbesondere beim tinnitusbezogenen Wissen (TW), der Tinnitusbewältigung (Coping), der Lebensqualität der Gesundheitssystemorientierung und beim Selbstbewusstsein feststellbar.
Prognose
Akuter Tinnitus, beispielsweise nach einer Lärmbelastung, verschwindet häufig von selbst wieder. Bei chronischem Tinnitus sind Spontanheilungen leider seltener zu beobachten. In der Mehrzahl der Fälle persistieren die Beschwerden dauerhaft. Derzeit gibt es keine medizinische Behandlung, die einen chronischen Tinnitus sicher beseitigt. Betroffene lernen aber in der Regel, mit den Ohrgeräuschen besser umzugehen, sodass Tinnitusbelastung und Leidensdruck allmählich abgebaut werden [1].
Prophylaxe
Einem Tinnitus kann nicht sicher vorgebeugt werden. Bestimmte Verhaltensweisen helfen jedoch, das Erkrankungsrisiko zu verringern. Die beste Präventivmaßnahme ist, auf die Ohren zu achten, und schon in jungen Jahren sorgsam mit dem Gehör umzugehen; dazu gehört [14]:
Ohren vor übermäßigen Lärm schützen, besonders gefährlich sind Dauerlärm und abrupte, laute Geräusche wie Explosionen, Feuerwerkskörper oder Schüsse
bei nicht zu umgehenden Lärmquellen, zum Beispiel am Arbeitsplatz, geeigneten Gehörschutz tragen
Ohrstöpsel oder Otoplastiken bei Freizeitaktivitäten wie Disko-, Club- und Konzertbesuchen oder Stadionspielen verwenden
Musikhörgewohnheiten der Kinder und Jugendlichen kontrollieren
Belastungszeiten und Schalldruckpegel durch Stereoanlagen, tragbare Musik- Player, Kopfhörer, Video- und Computerspiele sowie lärmerzeugende Spielwaren reduzieren
Erholungsphasen für das Gehör in der Freizeit sichern (maximale Wirkpegel tagsüber 50 dB und nachts 35 dB)
Risikofaktoren vermeiden: regelmäßige körperliche Bewegung, gesunde Ernährung, Normalgewicht anstreben, Alkoholrestriktion, Nikotinverzicht und ggf. Umstellung von Medikamenten, die als Nebenwirkung einen Tinnitus angeben
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