
Hintergrund
Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie klassifiziert die idiopathische intrakranielle Hypertension (idiopathic intracranial hypertension [IIH]) als ätiologisch heterogenes Syndrom, gekennzeichnet durch Kopfschmerzen und Papillenödem mit Sehstörungen bei erhöhtem Liquordruck. Die IIH tritt vor allem bei Frauen im gebärfähigen Alter auf und ist stark mit Adipositas assoziiert. Patienten mit intrakraniellem Hochdruck leiden unter chronischen, häufig täglich auftretenden, stark beeinträchtigenden Kopfschmerzen, Verdunklung des Visus, Doppelbildern und in Einzelfällen auch unter einem permanenten Verlust des Visus, der peripher beginnt. Einige Patienten berichten auch von einem pulsatilen intrakraniellen Tinnitus. Die Therapie besteht in einer Gewichtsreduktion. In wenigen Fällen ist ein chirurgischer Eingriff zum Erhalt des Augenlichts notwendig. [1,2]
Mangel an Daten
Weltweit ist Adipositas (Body Mass Index [BMI] >30kg/m2) ein schwerwiegendes Gesundheitsproblem, das zunehmend an Bedeutung gewinnt. Angesichts der starken Assoziation von idiopathischer intrakranieller Hypertonie (IIH) mit Adipositas, scheint es plausibel, dass die Inzidenz von IIH ebenso ansteigt, wie die Inanspruchnahme von damit verbundenen Gesundheitsdienstleistungen. Obwohl Evidenzen bestehen, die diese Annahme unterstützen, besteht ein Mangel an Daten zur Epidemiologie, Nutzung von Gesundheitsdienstleistungen und Behandlungsergebnissen bei IIH-Patienten.
Zielsetzung
Das Ziel der Bevölkerungsstudie bestand darin, anhand routinemäßig aufgezeichneten Gesundheitsdaten die temporären Trends hinsichtlich Inzidenz, Prävalenz und Behandlungsergebnissen bei idiopathischer intrakranieller Hypertonie in Wales zu charakterisieren.
Methoden
In der retrospektiven Kohortenstudie (Zeitraum 2003-2017) wurden anonymisierte Gesundheitsdienst-Daten aus Wales genutzt, die von der Secure Anonymised Information Linkage (SAIL) Datenbank der Swansea University, Wales routinemäßig gesammelt werden. In SAIL werden Gesundheitsdaten aus Hausarztpraxen, Facharztpraxen und Kliniken sowie demografische Daten von der gesamten Bevölkerung von Wales (3,1 Millionen/2017) anonymisiert miteinander verknüpft.
Kohortenbildung und Datenauswahl
In der Analyse wurden Datensätze von Fällen mit gesicherter IIH-Diagnose (Fallkohorte) 1:3 mit Datensätzen von Personen ohne IIH (Kontrollkohorte) hinsichtlich Geschlechts, Alter und soziökonomischem Status gematcht. Der sozioökonomische Status umfasste Daten zu Einkommen, Beschäftigung, Gesundheit, Bildung und Zugang zu Dienstleistungen. Anhand dieser Parameter wurden die Datensätze fünf Gruppen von höchsten bis zum niedrigsten Status eingeteilt. An medizinischen Daten flossen unter anderem Body Mass Index (BMI), Liquorshunts zur Liquorableitung und außerplanmäßige Hospitalisierungen in die Analyse ein.
Ergebnisse
Die Autoren analysierten Daten, die insgesamt 35 Millionen Patientenjahren entsprachen. Für den 15jährigen Zeitraum von 2003-2017 wurden insgesamt 2275 IIH-Diagnosen in den Datensätzen gefunden. Den Aufnahmerichtlinien (darunter gesicherte Diagnose und vorhandene demografische Daten) entsprachen aber nur 1765 Fälle. Der Anteil von Patientinnen lag bei diesen Fällen bei 85%. Von 2003 bis 2017 kam es zu einem mehr als sechsfachen Anstieg der Fälle (Prävalenz). Im gleichen Zeitraum nahm auch der Anteil adipöser Menschen von 29% im Jahr 2003 auf 40% im Jahr 2017 zu. Während 2003 noch 12 IIH Fälle pro 100.000 Einwohner errechnet wurden, waren es 2017 76/100.000 (p<0,001). Die Inzidenz stieg von 2003 2,3/100.000/Jahr auf 7,8/100.000/Jahr (p<0,001).
BMI und sozioökonomischer Status
Sowohl für Frauen als auch für Männer bestand ein starker Zusammenhang zwischen BMI und IIH. Bei den Frauen mit hohem BMI waren 180 von 100.000 Einwohnern betroffen, aber nur 13/100.000, bei jenen mit einem als ideal betrachteten BMI; bei den Männern waren es 21 (adipös)/100.000 im Vergleich zu 8 (mit idealem BMI)/100.000. Ein hoher BMI kommt in Regionen mit einem durchschnittlich niedrigen sozioökonomischen Status deutlich häufiger vor als in sozialökonomisch besser gestellten Gegenden. Daher war es zu erwarten, dass sich der Zusammenhang auch bei der IIH zeigt. Aber auch nach Adjustierung um den BMI war die Wahrscheinlichkeit bei Frauen für eine IIH bei dem Quintil mit dem niedrigsten sozioökonomischen Status rund 1,5mal höher als für das Quintil in dem höchsten Status. (Odds Ratio höchster Status [OR] 0,65; 95% Konfidenzintervall [CI] 0,55-0,76)
Medizinische Ergebnisse
Bei 9% der IIH Patienten wurden Liquorshunts zur Liquorableitung durchgeführt, bei weniger als 0,2% dieser Patienten auch eine bariatrische Operation. In der IIH Kohorte kam es zu signifikant mehr außerplanmäßigen Hospitalisierungen als in der Kontrollkohorte, dabei wurden Patienten mit Liquorshunts deutlich häufiger eingewiesen als Personen, die sich nicht dem Eingriff unterzogen hatten.
Fazit
Der federführende Autor William Owen Pickrell, Ph.D., M.R.C.P., der Swansea University in Wales und ein Mitglied der American Academy of Neurology (AAN) zieht folgendes Fazit aus der Studie: Der beträchtliche Anstieg der idiopathischen intrakraniellen Hypertonie, den wir gefunden haben, ist möglicherweise mehreren Faktoren geschuldet; aber wahrscheinlich tragen die steigenden Adipositasraten eine Hauptverantwortung dafür.“ Er zeigte sich jedoch weit mehr darüber überrascht, dass die Studie ergab, dass auch ein niedriger sozialökonomischen Status ganz unabhängig vom BMI das IIH-Risiko bei Frauen signifikant erhöht. [3]