
Hintergrund
Millionen von Menschen leiden unter Migräne. Die Erkrankung ist durch Kopfschmerzattacken gekennzeichnet, wird aber häufig von weiteren Beschwerden, wie Benommenheit, Schwindel, Übelkeit bis hin zum Erbrechen, Gleichgewichtsstörungen und diversen Wahrnehmungsstörungen begleitet. Migräne-Patienten reagieren auch während der anfallsfreien Zeit empfindlicher auf innere und äußere Reize als Menschen ohne Migräne. Zu diesen Reizen zählen beispielswiese Hormonschwankungen, Lichtreize, Geräusche und sensorisch-motorische Reize. Ursache ist vermutlich eine gegenüber Gesunden erhöhte Baseline-Aktivität der neuronalen Netzwerke im Gehirn bei Migränikern. [1]
Achterbahn für die neuronalen Netzwerke
Mit ihren raschen Tempowechseln von sehr langsam bis zu extrem schnell, den als fast freien Fall empfunden Abfahrten und den nicht alltäglichen Positionen im Raum, wie dem Rasen über Kopf im Looping, stellen Achterbahnfahrten eine Herausforderung für die neuronalen Netzwerke im Gehirn dar. Das Wechselbad an Gefühlen von gespannter Erwartung, Schrecken, Angst und Erleichterung erschwert eine geregelte neuronale Verarbeitung der vielen Reize zusätzlich. Kein Wunder also, dass vielen Menschen bei oder nach einer Achterbahnfahrt schwindelig wird.
Verarbeitung von Achterbahnfahrten bei Migräne-Patienten
Es ist auch nicht sonderlich erstaunlich, dass Menschen mit Migräne, die auf Außen- und Innenreize stärker ansprechen als Nicht-Migräniker auch auf Achterbahnfahrten heftiger reagieren. Doch verarbeiten Migräniker die Reize einer Achterbahnfahrt auch anders als Menschen, die nicht an Migräne erkrankt sind? Dieser Frage ging ein Team um Dr. Arne May an der Universität Hamburg nach. Die Forscher verglichen die neuronale Aktivität von Migräne-Patienten mit Menschen ohne Migräne bei einer virtuellen Achterbahnfahrt, um mehr über die spezifische Reizverarbeitung bei Migräne-Patienten zu erfahren. Die Studie wurde im Journal Neurology veröffentlicht. [2]
Zielsetzung
Die Forscher prüften, ob ihre Hypothese zutrifft, dass Migräne-Patienten nach einer virtuellen Achterbahnfahrt häufiger unter Kinetosen leiden als Personen ohne Migräne und, dass diese Anfälligkeit für Kinetosen mit einer anderen zentralen Reizverarbeitung und Nervenaktivität als bei den Gesunden korreliert.
Methoden
An einer Universitäts-Kopfschmerzklinik in Hamburg wurden 20 Migräne-Patienten für die Studie rekrutiert. Die Kontrollgruppe bestand aus 20 Personen ohne Migräneerkrankung. Alle Studienteilnehmer erlebten eine virtuelle Achterbahnfahrt. Die Simulation der Achterbahnfahrt basierte auf Filmaufnahmen echter Achterbahnfahrten aus der Fahrgastperspektive. Durch Reize in zufälliger Abfolge wurde auch die Bewegungswahrnehmung der Probanden stimuliert. Während der virtuellen Achterbahnfahrt wurde die Aktivität der neuronalen Netzwerke im Gehirn der Probanden per funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRI) gemessen. Zusätzlich wurden die Patienten in den Untersuchungspausen und am Ende der virtuellen Achterbahnfahrt gefragt, ob sie dabei unter Schwindel, insbesondere Kinetosen, gelitten hätten. Die Intensität des Schwindels wurde über Simulator Sickness Questionnaire (SSQ) und visuellen Analogskalen erhoben.
Ergebnisse
Im Vergleich zur Kontrollgruppe (K) berichteten mehr als doppelt so viele Migräne Patienten (M) von allgemein von Schwindel (M 65% vs. K 30%; p= 0,03). Die Migräne-Patienten empfanden ihre Schwindelgefühle im Mittel stärker als die Kontrollgruppe. Im SSQ Score (0=kein Schwindel bis 180=maximaler Schwindel) erreichten die Migräne-Patienten einen Punktwert von 47,3 im Durchschnitt (95% Konfidenzintervall [CI] 37,1-57,5), die Kontrollgruppe nur einen Punktwert von 24,3 (95%CI 18,2-30,4). In der visuellen Analogskala (0-100=maximaler Wert) lag der Wert bei den Migränepatienten im Schnitt bei 22,0 (95%CI 14,8-29,2), bei den Personen ohne Migräne bei 9,9 95%CI 4,9- 14,7). Die Symptome dauerten bei den Migräne-Patienten auch länger an: durchschnittlich 1,19 min (95%CI 00,51-01,48) vs. 0,27 min. (95%CI 00,03-00,51).
Neuronale Aktivität
Die neuronale Aktivität war bei den Migränepatienten vs. der Kontrollgruppe verstärkt in den Gyri frontales superior (Contrast estimate 3,005; 90% CI 1,817-4,194)] und inferior (Contrast estimate 1,759 (90% CI 1,062-2.456), den Nuclei pontis (Contrast estimate 0,665; 90% CI 0,383-0,946), und den Lobuli cerebelli V/VI (Contrast estimate 0,672; 90% CI 0,380-0,964), herabgesetzt war sie hingegen im Lobulus cerebelli VIIb (Contrast estimate 0,787; 90% CI 0,444-1,130) und im Gyrus frontalis medius (Contrast estimate 0,962; 90% CI 0,557-1.367).
Fazit
In dem Experiment mit der virtuellen Achterbahnfahrt reagierten Migräne-Patienten stärker und länger mit Schwindel als die Kontrollgruppe. Das Team um May konnte auch zeigen, dass die Reize bei ihnen in anderen Gehirnarealen verarbeitet wurden. Die Veränderungen korrelierten dabei mit den Veränderungen mit den Schwindelscores und der Beeinträchtigung durch die Migräne der Patienten. „Die Identifikation dieser anderen Reizverarbeitung und ihrer genauen Verortung kann dabei helfen, Migräne besser zu verstehen und auch neue Therapien zu entwickeln,“ erklärte May. Die erhöhte Aktivität in den Nuclei ponti könnte, so May, auf eine abnorme Übermittlung von visuellen, auditorischen und sensorischen Informationen im Gehirn hinweisen.