MS: neuartiger Schädigungsmechanismus identifiziert

Ein retrovirales Hüllprotein (pHERV-W ENV) scheint Mikrogliazellen im ZNS so zu verändern, dass diese myelinisierte Axone angreifen und schädigen. In zwei klinischen Studien mit Patienten mit Multipler Sklerose neutralisierte der Antikörper Temelimab erfolgreich das Hüllprotein und verminderte die Schädigung des Nervengewebes.

Multiple Sklerose Schriftzug

Hintergrund

Die multiple Sklerose (MS) ist eine autoimmune, chronisch-entzündliche Erkrankung mit unterschiedlichen Verlaufsformen, bei der Nervenfasern in Gehirn und Rückenmark betroffen sind. Immunzellen infiltrieren das zentrale Nervensystem und schädigen die Myelinscheiden, die durch bestimmte Gliazellen gebildet werden.
Bei MS ist die axonale Degeneration von zentraler Bedeutung für die klinische Behinderung und das Fortschreiten der Erkrankung. Man nimmt an, dass myeloide Zellen wie Mikroglia im Gehirn und Monozyten aus dem Blut entscheidend an diesem degenerativen Prozess beteiligt sind. Die genauen zugrunde liegenden Mechanismen sind jedoch noch nicht geklärt.
In früheren Forschungsarbeiten wurde gezeigt, dass das humane endogene Retrovirus Typ W (HERV-W) die Differenzierung und Remyelinisierung von Vorläuferzellen von Oligodendrogliazellen über sein pathogenes Hüllprotein pHERV-W ENV (ehemals MS-assoziiertes Retrovirus [MSRV]) negativ beeinflusst.

Zielsetzung

In dieser aktuellen Studie untersuchte ein wissenschaftliches Team um Prof. Dr. Patrick Küry und David Kremer von der Abteilung für Neurologie an der medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf, in Zusammenarbeit mit Forschern aus Kanada und den USA sowie von der Firma GeNeuro in der Schweiz, ob pHERV-W ENV auch eine Rolle bei axonalen Schädigungen spielt, wie sie bei MS beobachtet werden [1, 2].

Ergebnisse

Die Forscher fanden pHERV-W ENV in mit Axonen assoziierten myeloiden Zellen in MS-Läsionen. In fortgeschrittenen Krankheitsstadien scheint pHERV-W ENV in Mikrogliazellen einen degenerativen Phänotyp zu induzieren, welcher eine enge räumliche Assoziation mit myelinisierten Axonen begünstigt. In mit pHERV-W ENV stimulierten myelinisierten Co-Kulturen konnte nachgewiesen werden, dass Mikrogliazellen myelinisierte Axone strukturell schädigen.
Aus den Daten ziehen die Forscher den Schluss, dass die pHERV-W ENV-vermittelte Polarisation von Mikrogliazellen zur Neurodegeneration bei MS beiträgt. Dieser Befund kann die neurobiologische Begründung für Beobachtungen in einer kürzlich abgeschlossenen klinischen Phase-IIb-Studie bei MS-Patienten liefern. Dort schienen Antikörper pHERV-W ENV zu neutralisieren und einen neuroprotektiven Effekt auszuüben. Die neurodegenerative Hirnatrophie war bei den behandelten Patienten signifikant verringert.

Fazit

Es gibt ein breites Repertoire an immunmodulatorischen Arzneimitteln, die die entzündlichen Aspekte der remittierenden MS wirksam behandeln. Die axonale Degeneration, die bei der progredienten MS hauptsächlich auftritt, ist jedoch immer noch nicht verstanden und kann nicht medikamentöse behandelt werden. Die neurodegenerativen Schäden führen zu nicht wiederherstellbaren Defiziten und anhaltender Behinderung.
Die aktuellen Studiendaten beschreiben einen neu entdeckten Mechanismus der Schädigung von Axonen über pHERV-W ENV und myeloide Zellen und erklären, warum die Neurodegeneration bei Patienten abnimmt, die mit Temelimab, einem Antikörper gegen pHERV-W ENV, behandelt wurden. „Künftige klinische Studien bei progressiven MS-Patienten müssen nun zeigen, ob die Behandlung mit Temelimab auch die klinischen Symptome der MS, die in Folge von Neurodegeneration auftreten, verbessern kann“, sagt Prof. Hartung, Koautor der Publikation.

Autor:
Stand:
11.07.2019
Quelle:
  1. Kremer et al. (2019) pHERV-W envelope protein fuels microglial cell-dependent damage of myelinated axons in multiple sclerosis. PNAS, DOI: 10.1073/pnas.1901283116
  2. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Pressemeldung, 27.06.2019
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