
Fingolimod ist als oraler Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator bereits bei Erwachsenen mit einer hochaktiven schubförmig-remittierend verlaufenden Multiplen Sklerose (RMS) zugelassen. Für pädiatrische Patienten war es bislang aber keine Therapieoption. Dabei erleben Kinder und Jugendliche häufigere und oft schwerwiegendere Rezidive als Erwachsene mit MS. Die negativen Auswirkungen von Rückfällen auf Bewegung und Denken beeinträchtigen die Kindheit und Jugend dieser Patienten sehr. Novartis hat sich nun dieser Gruppe von immerhin bis zu 5 Prozent aller Patienten mit MS gewidmet. In der kontrollierten, randomisierten PARADIGMS-Studie ermittelten Wissenschaftler eine überlegene Wirksamkeit von Fingolimod bei Kindern und Jugendlichen gegenüber der in dieser Patientenklientel bisher präferierten Therapie mit Interferon beta-1a. Nachteilig ist jedoch das hohe Nebenwirkungspotential von Fingolimod. Ihre Untersuchungsergebnisse publizierten die Forscher im New England Journal of Medicine [1].
Fingolimod – gute Wirkung, hohes Risiko
Fingolimod (Handelsname Gilenya) gehört als oraler Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator zur Gruppe der Immunsuppressiva. Der Wirkstoff ist eine synthetische Replikation der natürlich vorkommenden mykotischen Substanz Myriocin. Fingolimod hält Lymphozyten in den Lymphknoten zurück und verringert so die Migration dieser Abwehrzellen in das Zentrale Nervensystem (ZNS). Infolge bleibt die für MS typische autoimmune Schädigung von Mylelinscheiden neuronaler Nervenfasern aus.
Fingolimod darf in Europa bislang nicht bei Kindern eingesetzt werden. Wie Natalizumab und Alemtuzumab zählt der Wirkstoff zu den „aggressiven“ Arzneimitteln. Sie reduzieren zwar die Schubfrequenz bei Erwachsenen deutlich, sind aber mit erheblichen Risiken verbunden.
Studienaufbau
Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde hat Fingolimod im Mai 2018 für die Anwendung bei Kindern mit Multipler Sklerose ab 10 Jahren zugelassen. Basis dieser Entscheidung waren die Ergebnisse der kontrolliert-randomisierten Phase-III-Studie PARADIGMS. Resultate der Untersuchungen wurden auf Kongressen bereits im vorigen Jahr präsentiert. Das Alter der 215 Studienteilnehmer lag zwischen 10 und 17 Jahren (Durchschnittsalter 15,3 Jahre). Die vorliegenden Einschränkungen waren mit einem Score von 0,0 bis 5,5 Punkten auf der Expanded Disability Status Scale (EDSS-Score) nur relativ leicht. Patienten mit einem maximalen EDSS-Score von 5,5 Punkten konnten ohne Hilfe und Pause etwa 100 Meter weit gehen. Zu Beginn der Therapie wurden durchschnittlich bereits 2,4 Schübe durchlebt, die Symptome bestanden im Schnitt seit etwa 2,1 Jahren.
Die Kinder und Jugendlichen der Studie erhielten randomisiert entweder eine Standardbehandlung mit intramuskulär injiziertem Interferon beta-1a (30 µg einmal wöchentlich bis zu zwei Jahre) oder Fingolimod oral (0,5 mg einmal täglich oder 0,25 mg einmal täglich bei einem Körpergewicht von ≤ 40 kg). Der primäre Endpunkt war die annualisierte Rückfallrate.
Ergebnisse der Studie
Die jährliche Rückfallrate lag mit Fingolimod bei 0,12. In der Interferon-Gruppe wurde lediglich ein Rückgang der Schübe auf 0,67 beobachtet. Nach Bereinigung der Ergebnisse (95%-Konfidenzintervall 0,36 bis 0,74) fiel die Reduktion der jährlichen Schübe hoch signifikant aus. Nach Einschätzung der Experten wirkt Fingolimod bei Kindern effektiver als bei Adoleszenten.
Der zentrale sekundäre Endpunkt der annualisierten Rate von neuen oder neu vergrößerten Läsionen in der T2-gewichteten Magnetresonanztomographie (MRT) lag mit Fingolimod bei 4,39 - verglichen mit 9,27 in der Kontroll-Interferon-Gruppe. Die absolute Differenz von 4,88 Läsionen konnte mit einen 95%-KI von 2,91 bis 6,84 als signifikant gewertet werden, ebenso die Rate Ratio von 0,47 (0,36 - 0,62).
Während der Beobachtungszeit der Studie von 1,6 Jahren blieben 85,7 der Probanden in der Fingolimod-Gruppe und 38,8 Prozent in der Interferon-Gruppe ohne weiteren Krankheitsschub (Differenz 46,9 %; 33,7-60,1).
Erhöhtes Nebenwirkungsprofil unter Fingolimod
Unerwünschte Ereignisse traten in beiden Gruppen auf. So wurden Nebenwirkungen, ausgenommen Rückfälle von Multipler Sklerose, bei 88,8 Prozent der Patienten, die Fingolimod einnahmen, beobachtet – verglichen mit 95,3 Prozent der Patienten, die Interferon beta-1a erhielten. Im Verhältnis schwerwiegender unerwünschter Ereignisse hatte jedoch die Fingolimod-Gruppe mit 16,8 Prozent (18 Patienten) gegenüber 6,5 Prozent der Interferon-Gruppe (7 Patienten) das Nachsehen. In der Fingolimod-Gruppe kam es bei vier Patienten zu Infektionen (einschließlich Appendizitis, Phlegmone, gastrointestinaler Infektion, oralem Abszess, Virusinfektion und viraler Pharyngitis), bei zwei Patienten zu Leukopenien und sechs Patienten hatten Konvulsionen (darunter ein tonisch-klonischer Anfall und eine Epilepsie). In der Interferon-beta-1a-Gruppe kam es lediglich bei zwei Patienten zu Infektionen (Paronychie und virale Gastritis), bei einem Patient zu supraventrikulären Tachykardien und ein Patient erlitt einen Krampfanfall.
Kinder mit Multipler Sklerose
Multiple Sklerose wird meistens im frühen Erwachsenenalter diagnostiziert. Es gibt aber auch pädiatrische Patienten mit MS. Diese Gruppe wird auf 3 bis 5 Prozent aller MS-Erkrankung geschätzt. Kinder und Jugendliche erleben typischerweise mehr als doppelt so viele Schubfrequenzen wie Erwachsene - mit schweren Auswirkungen. Die negativen Folgen beeinflussen vor allem Bewegung, Gedächtnis und Denken. Die Kinder ziehen sich zurück, isolieren sich und fühlen sich ängstlich. Zukünftig könnte ihnen Fingolimod eine sorgenfreiere, bessere Kindheit und Jugend ermöglichen. Einen ersten, erheblichen Beitrag dazu leistete augenscheinlich die PARADIGMS-Studie. „Ich möchte allen Kindern danken, die an der PARADIGMS-Studie teilgenommen haben, und ihren Familien, die geholfen haben, die Perspektiven für pädiatrische Patienten, die mit schubförmiger MS leben, zu verändern", sagte Dr. Tanuja Chitnis, Principal Investigator für PARADIGMS und Direktorin des Pädiatrischen Partner-Multiple Sklerose-Zentrums, Massachusetts General Hospital, Boston, USA [2]. Chitnis weiter: „Diese heute veröffentlichten Daten werden dazu beitragen, das Wissen und Verständnis der MS-Gemeinschaft darüber zu verbessern, wie man pädiatrische Patienten mit MS bewerten und behandeln kann.“
Fazit
Bei den pädiatrischen Patienten mit rezidivierender Multipler Sklerose zeichnete sich Fingolimod über einen Zeitraum von zwei Jahren im Vergleich zu Interferon-beta-1a durch eine verringerte Rückfallrate und geringere Ansammlung von Läsionen im MRT aus. Dieses Ergebnis wird aber durch eine erhöhte Rate schwerwiegender unerwünschter Ereignisse in der Fingolimod-Gruppe getrübt. Jetzt sind längere Studien erforderlich, um die Dauerhaftigkeit und Sicherheit von Fingolimod bei pädiatrischer Multipler Sklerose zu bestimmen. Die FDA hat deshalb eine Anschlussstudie veranlasst, in der Kinder und Jugendliche über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren beobachtet werden sollen.