
Die Realität der Versorgung von Patienten mit schlaganfallassoziierter Spastik bleibt in Deutschland hinter den Empfehlungen der Leitlinie weit zurück, berichtete Professor Dr. Matthias Schwab von der Klinik für Neurologie der Universität Jena anlässlich der Neurowoche 2022 [1, 2]. Das ergab eine repräsentative, longitudinale Analyse von anonymisierten Krankenkassendaten von rund vier Millionen Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus der Forschungsdatenbank des InGef - Institut für angewandte Gesundheitsforschung Berlin GmbH. Dieser Datenpool ist repräsentativ für die Allgemeinbevölkerung in Deutschland [3].
Analyse von GKV-Daten zur Versorgung von schlaganfallassoziierter Spastik
Anhand von ICD-10-Codes wurden aus den Daten der Jahre 2015 bis 2019 Patienten mit Schlaganfall und konsekutiver Spastik im ersten Jahr nach dem Schlaganfall identifiziert. Für diese Betroffenen wurde anschließend die Verordnung von Physiotherapie, Ergotherapie, oralen Antispastika, Botulinumtoxin Typ A (BoNT-A) sowie Schmerzmedikamenten im Zeitraum von zwei Jahren nach der Diagnose der schlaganfallassoziierten Spastik analysiert. Regelmäßige Injektionen mit BoNT-A sollten laut Leitlinie aufgrund des besseren Nutzen-Nebenwirkungsprofils gegenüber oralen Antispastika bevorzugt werden.
Leitlinienkonformität abschätzen
Für den Vergleich von Leitlinienempfehlungen und tatsächlicher Versorgung wurden drei Szenarien geprüft:
1. Szenario: Leitlinienkonform ist es, wenn mindestens einmal in einem Quartal in den zwei Jahren nach Diagnose der schlaganfallassoziierten Spastik eine Physiotherapie-Verordnung erfolgt ist.
2. Szenario: Leitlinienkonform ist es, wenn mindestens in vier Quartalen in den zwei Jahren nach Diagnose der schlaganfallassoziierten Spastik eine Physiotherapie-Verordnung erfolgt ist.
3. Szenario: Leitlinienkonform ist es, wenn mindestens in vier Quartalen in den zwei Jahren nach Diagnose der schlaganfallassoziierten Spastik eine ZNS-spezifische Physiotherapie verordnet wurde.
Frühe Diagnose der Spastik nach Schlaganfall
Daten von 7.947 Patienten mit schlaganfallassoziierter Spastik konnten analysiert werden. Die Diagnose der Spastik erfolge bei etwa der Hälfte (49%) bereits innerhalb der ersten drei Monate nach Schlaganfall, bei 89% innerhalb von sechs Monaten, berichtete Schwab. Die Diagnose wurde bei fast zwei Drittel der Patienten (63,2%) ambulant gestellt, in der Hälfte der Fälle (47%) durch Allgemeinmediziner und nur bei 17,1% durch Neurologen.
Spastik bleibt wahrscheinlich oft unbehandelt
44% der von der schlaganfallassoziierten Spastik Betroffenen wurde regelmäßig eine Physiotherapie verordnet, nur 25% erhielten eine Verordnung für Ergotherapie. Jeder Zehnte erhielt mindestens einmalig orale Antispastika, was Schwab als deutlichen Hinweis auf eine behindernde Spastik ansah. Nur 1% wiesen eine Verordnung von BoNT-A auf. 9% erhielten erstmalig regelmäßige orale Schmerzmedikamente nach der Diagnose der Spastik. Leitliniengerecht war die Therapie je nach Szenario nur bei 21% (Szenario 3) bis 66% (Szenario 1) der von einer schlaganfallassoziierten Spastik Betroffenen.
Ursachensuche
Insgesamt war die Rate der leitliniengerechten Verordnung von Physiotherapie, BoNT-A oder alleiniger Therapie mit oralen Antispastika in jedem Fall gering. Über die Ursachen kann nur spekuliert werden. Wenn Allgemeinmediziner vorrangig die Spastik bei Schlaganfall diagnostizieren und behandeln, fehlt vermutlich schlicht die Kenntnis dieser Empfehlungen. Ein Hemmschuh sei laut Schwab sicher auch die Budgetierung der Physiotherapie. Ein fehlender Zugang zu einer BoNT-A-Therapie aufgrund der zu geringen Zahl von Therapeuten, langer Fahrzeiten zu den Versorgern und der Immobilität der Betroffenen spiele sicher auch eine Rolle. Schwab beklagte in diesem Zusammenhang auch die inadäquate Honorierung der BoNT-A-Behandlung im ambulanten Bereich.
Versorgung bei schlaganfallassoziierter Spastik verbessern
Insgesamt stellten die Studienergebnisse ein starkes Argument für eine strukturierte Nachsorge nach Schlaganfall dar, meinte Schwab. Ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Versorgung sei die Zusammenarbeit mit Allgemeinmedizinern, die offensichtlich im Hinblick auf Diagnose und Initiierung einer Therapie besondere Bedeutung haben. Außerdem regte er an, die BoNT-A-Therapie speziell bei Betroffenen zu evaluieren, die mit oralen Antispastika behandelt werden, also eine behindernde Spastik haben. Die Ergebnisse einer solchen Studie könnten helfen, die in Leitlinien empfohlene Versorgung primär mit BoNT-A und nicht mit oralen Antispastika besser zu etablieren.
Die Studie wurde durch eine unabhängige Spende der Firma Merz GmbH & Co. KGaA ermöglicht.