
Hintergrund
Der menschliche Körper ist in der Lage, lebenslang kleine Gefäße zu bilden. Tut er dies jedoch in Regionen, in denen keine Gefäße entstehen sollten oder um Tumoren zu versorgen, hat die Gefäßneubildung, die sogenannte Angiogenese, einen krankhaften Wert. Dies ist zum Beispiel bei diabetischer Retinopathie, rheumatoider Arthritis, Krebserkrankungen und vielem mehr der Fall. Durch medikamentöse Unterdrückung der Gefäßneubildung, ergeben sich Behandlungsoptionen für manche dieser Erkrankungen.
Vasoinhibin: ein natürlicher Hemmer der Angiogenese
Im Körper kommt ein natürlicher Inhibitor der Angiogenese vor, das Vasoinhibin. Dieses Protein besteht aus mehr als 123 Aminosäuren und ist ein Metabolit des körpereigenen Hormons Prolaktin. Es entsteht, wenn die vierte alpha-Helix (H4) von Prolaktin mittels spezifischer Proteolyse entfernt wird. Zusammen mit anderen körpereigenen Molekülen wie Plasminogen Activator Inhibitor-1 oder Urokinase Plasminogen Aktivator kann es Signalwege in Endothelzellen inhibieren, die die Gefäßneubildung anstoßen und Gefäße permeabler machen würden. In präklinischen Krebsmodellen konnte bereits gezeigt werden, dass Vasoinhibin Tumorwachstum reduzieren kann und beispielsweise vaskuläre Veränderungen bei diabetischer Retinopathie und Arthritis verringert.
Struktur bisher unbekannt
Vasoinhibin zu produzieren ist jedoch nicht einfach und sehr teuer. Die genaue Struktur des Moleküls ist unbekannt. Das zusammen stellt ein großes Problem dar, denn so kann das Protein in klinischen Studien nur bedingt eingesetzt werden. Ein Forscherteam um Juan Pablo Robles vom neurobiologischen Institut der Universität Nacional Autónoma de México in Mexiko befasste sich nun näher mit Vasoinhibindeterminanten und publizierte die Daten im Journal Angiogenesis.
Zielsetzung
In ihrer Studie wollte das Team die funktionelle Determinante von Vasoinhibin identifizieren und ein möglichst einfach zu produzierendes, lösliches Oligopeptid entwickeln, dass die Angiogenese und Vasopermeabilität ähnlich wie Vasoinhibin hemmen könnte. Ihr Ziel war es, die funktionellen Domänen des Proteins zu identifizieren, die als Mimetika therapeutisch fungieren könnten.
Methodik
Um die genaue Lokalisation des antiangiogenen Determinanten von Vasoinhibin zu detektieren, wurden synthetische Oligopeptide untersucht. Der Fokus lag dabei auf der 45-48-Residue-Sequenz, die auch in menschlichem Prolaktin vorhanden ist und die Proliferation von Endothelzellen unterdrücken kann. Die molekulare Dynamik untersuchte das Team mittels klassischer MD (molecular dynamic) Simulation anhand bekannter Daten zu Prolaktin.
Anschließend prüften sie ihre Peptide mittels verschiedener Tests in vitro an Endothelzellen aus menschlichen Nabelschnurvenen (HUVEC). Diese wurden dafür auf unterschiedliche Art und Weise präpariert und mit Vasoinhibin, Vi45-51 (Residue-Sequenzen 45 bis 51) und anderen gefäßproliferationsinhibierenden Substanzen behandelt und inkubiert. Der Effekt auf die Proliferation wurde beispielsweise mithilfe von Prolaktin, Vasoinhibin und dem synthetischen Oligopeptid untersucht. Die Motilität und Migrationsfähigkeit unter Vi45-51 wurde mittels Motilitätsassay getestet, für den Wunden in HUVEC gekratzt wurden und gemessen wurde, wie weit die Zellen bei den verschiedenen Substanzen in einem festen Zeitraum migrieren konnten. Ähnlich wurde auch die Invasionsrate der Endothelzellen gemessen als Hinweis auf Endothelzellproliferation unter Vi45-51. Für die dritte Komponente der Gefäßproliferation, die Röhrenformation, wurden Matrigel Tube Formation Assays eingesetzt, die ebenfalls mit HUVEC und Vasoinhibin oder Vi45-51 versetzt und inkubiert wurden. Die Vasopermeabilität wurde mittels trans-endothelialem elektrischem Widerstand, kurz TEER, gemessen, indem der Albmuntransit über einlagige HUVEC erfasst wurde.
Abschließend wurden die Ergebnisse in Tiermodellen mit männlichen Wistar Ratten und männlichen und weiblichen C57BL6 und CD1 Mäusen bestätigt. Dafür wurden unter anderem die retinale Angiogenese gemessen, nachdem neugeborenen Mäusen alle 12 Stunden von Tag drei bis acht Vi45-51 in den Bauch injiziert wurde. Die retinale Vasopermeabilität wurde auf ähnliche Weise mit VEGF Endothelwachstumsfaktor, engl. Vascular Endothelial Growth Factor) oder Vasoinhibin oder Vi45-51 untersucht. Um zu testen, ob Vi45-51 auch das Tumorwachstum beeinflusst, wurden im letzten Mausmodell Tieren B16-F10 Melanomzellen gespritzt und diese Tiere nach fünf Tagen mit CRIVi45-51 und Vergleichssubstanzen behandelt.
Ergebnisse
Vom gesamten Vasoinhibinmolekül konnte das Forscherteam die Residue-Sequenzen 45 bis 51 (Vi45-51) als relevante Region identifizieren. Sie reichen aus, um die Endothelzellproliferation ähnlich wie durch Vasoinhibin (mit einer Potenz von IC50 ~150pM) zu unterdrücken. In dieser Region ist auch das HGR-Motiv (Vi46-48) verankert, das aus His46-Gly47-Arg48 besteht. Kommt es in diesem Bereich zu Mutationen, verliert das Molekül seine Funktion, wie die Forschungsarbeit zeigte. Auch evolutionär ist diese Struktur konserviert - sie findet sich in verschiedenen Arten wieder. Im Körper ist sie jedoch gehemmt, solange Prolaktin nicht zu Vasoinhibin metabolisiert wurde. Mittels molekularer Dynamiksimulationen zeigte das Team, dass Salzbrücken und Strukturveränderungen zwischen verschiedenen Aminosäuren (E161, E162) in Prolaktin dazu führen, dass das Hormon nicht antiangiogenetisch wirkt.
Auch in vivo konnte das HGR-Motiv als vasoinhibierende Region bestätigt werden: Proliferation, Migration und Rohrformation wurden unterdrückt. In Mausmodellen führten tägliche intraperitoneale Injektionen von Vi45-51 dazu, dass die Vaskularisierung der Retina in der ersten Lebenswoche von Mausbabys nicht vollendet werden konnte. Ebenso unterdrückte Vi45-51 die VEGF-induzierte Hyperpermeabilität von einlagigen Endothelzellverbänden und mehrere weitere Extravasationen.
Klinisch wäre Vi45-51 in dieser Form jedoch noch nicht anwendbar. Deshalb optimierte das Forscherteam das Molekül weiter, bis ein zyklisches Retro-inverses Peptid (CRIVi45-51) entstand, dass D-Aminoäsäuren in umgekehrter Reihenfolge zur natürlichen Sequenz enthält und so einer Proteolyse standhalten könnte. Die Potenz von CRIVi45-51 erwies sich als ähnlich zu der von Vi45-51. In Mausmodellen reduzierte es dosisabhängig das Tumorwachstum.
Fazit
Die antiangiogenetische und antivasopermeable Funktion von Vasoinhibin liegt in einem kleinen Motiv des großen Moleküls, dem HGR, bestehend aus gerade einmal drei Aminosäuren. Damit gelang es dem Forschungsteam zu zeigen, dass ein Oligopeptid, bestehend aus drei bis sieben Aminosäuren, ausreichen würde, um so potent wie das Protein selbst zu sein.
„Die neueste Erkenntnis ist, dass von den 123 Aminosäuren, aus denen das natürliche Protein besteht, nur eine Sequenz von drei Aminosäuren die sogenannte aktive Domäne bildet. Außerdem ist eine Sequenz von nur sieben Aminosäuren notwendig und ausreichend, um die volle Funktion des Proteins zu entfalten“ sagt Professorin Carmen Clapp vom Neurobiologischen Institut der Universidad Nacional Autónoma de México in Mexiko.
Dadurch ergeben sich neue klinische Anwendungsmöglichkeiten: „Aktuelle Behandlungen sind teilweise invasiv und nicht immer effektiv. Vasoinhibin-Analoga könnten eine selektive und potente Behandlung zur Hemmung der Blutgefäßneubildung darstellen, welche zum Tumorwachstum, zur Erblindung bei Diabetes und zur Entzündung bei Arthritis beiträgt“ erläutert Dr. Jakob Triebel, Arzt am Klinikum Nürnberg und der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU).
Möglicherweise ließen sich aus dem HGR-Motiv orale Arzneimittel entwickeln, denn in der Studie zeigte es sich als resistent gegenüber Pepsin. Auch könnte es helfen, herauszufinden, wo überall Vasoinhibin binden kann und Signalwege auslöst oder dabei helfen, Antikörper zu entwickeln, die zwischen Vasoinhibin und Prolaktin unterscheiden ließen und so klinisch die Vasoinhibintiter besser quantifizieren zu können. Ebenso könnten Mutationen in der Region, schreibt das Forscherteam, verantwortlich dafür sein, dass manche Krankheit entstehen.