Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Diabetespatienten in Deutschland

Auf einer Pressekonferenz der DDS berichteten verschiedene Experten über die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Versorgungs- und Gesundheitssituation von Diabetespatienten in Deutschland.

Studienlage

Diabetes mellitus stellt einen Risikofaktor für einen schweren COVID-19-Verlauf dar. Aber auch die Therapie und ärztliche Betreuung von Diabetespatienten wurde durch die Coronavirus-Pandemie beeinflusst. Die Deutsche Diabetesstiftung (DDS) hat nach dem ersten Jahr der Pandemie verschiedene Studien gefördert, die die Versorgungssituation von Menschen mit Diabetes mellitus in Deutschland untersuchten. Erste Ergebnisse dieser Studien wurden am 16. Februar 2022 im Rahmen einer Online-Pressekonferenz der Stiftung vorgestellt. Dabei wurden Themen wie die medizinische Betreuung, der Einfluss auf die Lebenssituation und gesundheitliche Auswirkungen behandelt.

Die Ergebnisse der Projekte zeigten ein gutes Abbild, von dem was im ersten Jahr der Pandemie passiert sei, so Prof. Dr. Hans Hauner, Vorstandsvorsitzender der DDS und Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums (EKFZ) am TUM-Klinikum rechts der Isar und am Wissenschaftszentrum Weihenstephan. Auch wenn die Daten nicht mehr ganz aktuell seien, lieferten sie zum ersten Mal einen guten Überblick über die Auswirkungen der Pandemie auf die Diabetesversorgung in Deutschland.

Auswirkungen auf Lebenssituation & Versorgung

Im Rahmen der von der DDS geförderten Studien führte die Firma BioMath GmbH aus Rostock von März bis Mai 2021 ein Scoping Review zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Lebens- und Versorgungssituation von Menschen mit Diabetes in Deutschland durch. Dazu wurden sowohl wissenschaftliche als auch nicht-wissenschaftliche Daten gesammelt.
Bei der Recherche konnten allerdings keine Routine- und Registerdaten von Krankenkassen oder Patientenregistern gewonnen werden. Als Gründe nannte Dr. Paula Friedrichs, Projektmanagerin Lebenswissenschaften bei BioMath, einen erheblicher Zeitverzug bei der Datenübermittlung sowie den hohen Aufwand für den Genehmigungsprozess zur Nutzung der Daten.

Evidenzlücken zur Diabetesversorgung

Insgesamt konnten nur zwölf empirische Studien identifiziert werden, was laut Friedrichs auf hohe Evidenzlücken im Bereich Diabetes und COVID-19 zum Recherchezeitraum schließen lässt. Dies zeige eine klare Diskrepanz auf zwischen den Evidenzlücken und der hohen Aufmerksamkeit, die die Pandemie von Anfang an in der Öffentlichkeit bekam. Aufgrund der hohen Prävalenz von Diabetes in der Bevölkerung bestehe aber ein hoher Bedarf für die Beurteilung der Versorgungsituation.

Versorgungssituation eingeschränkt

Die lückenhafte Datenlage lässt keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu, liefert aber Anhaltspunkte für die Beurteilung der Versorgungssituation der Diabetespatienten während der Pandemie.
Beispielsweise wurden weniger Neu-und Wiedereinschreibungen in Disease-Management-Programme (DMP) verzeichnet, es erfolgte seltener eine Anpassung der antidiabetischen Medikamente und auch die Anzahl der Diabetesdiagnosen sank. Im Gegensatz dazu stieg die Rate diabetischer Ketoazidosen bei Kindern und Jugendlichen an. Ob das Versorgungsangebot allerdings eingeschränkt war oder durch Angst vor einer Ansteckung weniger genutzt wurde, lässt sich anhand der Daten jedoch nicht sagen, so Friedrichs.

Positive Daten zur Digitalisierung

Einen positiven Effekt zeigten die Daten in Bezug auf die Digitalisierung bei der Diabetesversorgung, wie beispielsweise Videoschulungen oder -Sprechstunden sowie die Breitstellung von Blutglukose-Sensordaten der Patienten über das Internet. Es sei wünschenswert, wenn der Einsatz von Diabetestechnologien und Telemedizin auch nach der Pandemie ein ergänzender Baustein in der Versorgung von Diabetespatienten bliebe, so Friedrichs.

Gesundheit von Typ-2-Diabetikern

Ein weiteres Projekt untersuchte mit repräsentativen Real-Daten von Arztpraxen aus einer deutschlandweiten, ambulanten Datenbank (Disease Analyser der IQVIA) die Auswirkungen des ersten Lockdowns zwischen März und Mai 2020 auf die metabolische Kontrolle sowie das Auftreten klinisch diagnostizierter psychiatrischer Störungen von Patienten mit Typ-2-Diabetes.

Keine schlechtere Stoffwechselkontrolle

Es wurden Daten von 140.000 Diabetespatienten von 2018 bis 2020 aus über 800 Arztpraxen analysiert und mit Daten aus den Jahren 2018 und 2019 verglichen. Dabei konnten für Typ-2-Diabetiker keine starken Auswirkungen der Pandemie auf Body-Mass-Index (BMI), HbA1c, Blutdruck und Triglyzeridwerte festgestellt werden. Der Anteil von Personen mit schlechter metabolischer Kontrolle während des Untersuchungszeitraums unterschied sich nicht signifikant von den Vergleichsjahren. 

Konstante Inzidenz psychiatrischer Erkrankungen

Auch die Inzidenz klinisch diagnostizierter Angst- und Stressstörungen pro Quartal blieb im Zeitraum von Januar 2019 und März 2021 konstant. Die Inzidenz neu diagnostizierter depressiver Erkrankungen nahm sogar leicht ab. Dies zeigen auch Versorgungsdaten von Antidepressiva: Im Vergleich zu 2019 kam es im Jahr 2020 zu einer leichten Abnahme der Neuverordnungen.

Stabile Routinen der Diabetesversorgung

Dr. Bernd Kowall vom Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, Universitätsklinikum Essen erklärte, die Ergebnisse zeigten, dass es keine Verschlechterung der Stoffwechselkontrolle für Diabetespatienten im ersten Pandemiejahr gegeben habe. Die Routinen in der Typ-2-Diabetesversorgung seien sehr stabil und hatten so auch während des Lockdowns Bestand.

Die Studienpopulation schloss insbesondere ältere Menschen mit einem Durchschnittsalter von 68 Jahren ein. Dies könnte das Gleichbleiben der Inzidenz psychiatrischer Erkrankungen erklären, obwohl Umfragedaten auf einen Anstieg hindeuteten, erläutert Kowall weiter. So seien diese Menschen weniger von den Maßnahmen des Lockdowns wie Home-Office oder Heimunterricht der Kinder betroffen und hätten seltener einen Jobverlust zu befürchten, sodass diese Stressfaktoren nicht zum Tragen kämen. Zu beachten sei zudem, dass es sich um frühe Analysen handele und auch der Beobachtungszeitraum recht kurz war. Es seien daher weitere Untersuchungen in Bezug auf Langzeiteffekte geplant.

Stoffwechseleinstellung bei Typ-1-Diabetes

Daten aus dem multizentrischen DPV (Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation)-Register ermöglichen Untersuchungen in Bezug auf Therapie, Lebensstil, Stoffwechseleinstellung und Begleiterkrankungen von Betroffenen.

Kinder und Jugendliche

Bei Kindern und Jugendlichen mit Manifestation eines Typ-1-Diabetes wurde seit Beginn der COVID-19-Pandemie ein Anstieg von Stoffwechselentgleisungen in Form diabetischer Ketoazidosen detektiert. Dies betraf insbesondere Kindern unter 6 Jahren. Die Daten seien ein Hinweis auf verspätete Diagnosestellungen aufgrund der COVID-19-Pandemie, so Dr. Stefanie Lanzinger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Epidemiologie und medizinische Biometrie am ZIBMT der Universität Ulm.

Anstieg der Inzidenz

Eine Analyse der DPV-Daten für das Gesamtjahr 2020 und das erste Halbjahr 2021 zeigte eine um 15% erhöhte Inzidenz für Diabetes mellitus Typ 1 als in den Jahren 2011 bis 2019. Ursächlich seien wahrscheinlich insbesondere indirekte Effekte der Pandemie wie Veränderungen anderer Umweltfaktoren, Lebensstilveränderungen, weniger Kontakt zu anderen Infektionskrankheiten und psychologische Einflussfaktoren, die bereits vor der Pandemie mit der Entstehung eines Typ-1-Diabetes diskutiert wurden.

Stoffwechsellage bei manifestem Diabetes

Sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch Erwachsenen Patienten mit einem manifesten Typ-1-Diabetes konnte hingegen keine Veränderung der Stoffwechsellage während der ersten Lockdowns festgestellt werden. Dies galt ebenso für Erwachsene mit Typ-2-Diabetes und bestätigt die Erkenntnisse aus der Analyse der IQVIA-Datenbank.

Praxiserfahrung bestätigt Studienergebnisse

Dr. Ralph Bierwirth, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Diabetes Stiftung (DDS) und Leiter der MVZ Contilia GmbH Praxis für Diabetologie, Essen, berichtete ergänzend von Erfahrungen aus der Praxis.

Verzögerte Diagnose und Therapie

Die Hygienemaßnahmen und Abstandsregelungen stellten die Praxen in der Pandemie vor besondere Herausforderungen. Gerade zu Beginn hätten zudem viele Patienten ihre Termine aufgrund von Verunsicherung und Angst vor Ansteckung abgesagt. Als Folge zeigten sich eine verzögerte Diagnosestellung mit Stoffwechselentgleisung insbesondere bei der Problematik des diabetischen Fußes, so Bierwirth.

In Bezug auf die Stoffwechseleinstellung der Diabetespatienten sei ein wellenförmiger Verlauf beobachten worden. Während es in Phasen des Lockdowns zu Gewichtszunahme und erhöhten HbA1c-Werten kam, führten die Lockerungen in den Sommermonaten wieder zu verbesserten Werten, sodass längerfristig keine verschlechterte Stoffwechsellage beobachtet wurde, erklärte der stellvertretende Vorsitzende der DDS.

Förderung des Digitalisierungsangebots

Die COVID-19-Pandemie bezeichnete Bierwirth als Brandbeschleuniger, der die Defizite der Digitalisierung in der ambulanten Versorgung aufgedeckt habe. Es wurden vermehrt diabetische Videosprechstunden oder -Schulungen durchgeführt, um die Versorgungsqualität möglichst hoch zu halten. Das digitale Angebot sei allerdings nicht für alle Patienten wahrnehmbar. Insbesondere profitierten Typ-1-Diabetespatienten, solche mit CGM (Continous Glucose Monitoring)-Systemen und Insulinpumpen sowie Frauen mit Gestationsdiabetes von den neuen Betreuungsmöglichkeiten.

Bierwirth wies allerdings auch darauf hin, dass die Videosprechstunden zwar vergütet würden, die Deckelung allerdings dafür sorgte, dass ein Großteil der Leistungen nicht honoriert wurde. Er forderte die Digitalisierung in Deutschland zu fördern und nicht durch politische und finanzielle Einschränkungen zu bremsen.

Fazit

Zwar hat die Corona-Pandemie die Betreuung von Menschen mit Diabetes mellitus erschwert, die Herausforderung wurde jedoch von Patienten und den Gesundheitsdienstleistern in weiten Teilen gemeistert, so das Fazit Prof. Dr. Hauner. Die geförderten wissenschaftlichen Projekte leisteten dabei einen wichtigen Beitrag, um die Datenlage zur Diabetesversorgung währen der Pandemie zu verbessern. Es konnte klar herausgearbeitet werden, dass die Versorgung und Stoffwechsellage im ersten Pandemiejahr von Typ-2-Diabetikern im Gegensatz zu Typ-1-Diabetikern weitgehend unbeeinflusst blieben.

Zugang zu Routinedaten erleichtern

Hauner betont, dass es unverständlich und irritierend sei, dass Routinedaten wie beispielsweise der Krankenkassen oder DMP-Dokumentation im deutschen Gesundheitssystem nicht zugänglich seien und die Daten nicht genutzt würden. Gerade in der derzeitigen Krisensituation sei es laut des DDS-Vorstandsvorsitzenden umso wichtiger, diesen Datenschatz zeitnah nutzen zu können. Daher forderte Hauner ein Umdenken der Krankenkassen und Gesundheitspolitik in diesen Punkten und erhielt hier die Zustimmung aller Beteiligten.

Untersuchungen zu Langzeitfolgen nötig

Die Corona-Pandemie und deren Auswirkungen seien mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch dieses und nächstes Jahr bemerkbar, erklärte Hauner weiter. Aus diesem Grund solle weiter daran gearbeitet werden, die Langzeitfolgen beispielsweise in Bezug auf Ernährungsveränderungen zu adressieren und sich der Vermeidung und Kontrolle von Begleit- und Folgeschäden der Pandemie durch Präventionsaktivitäten stärker zuzuwenden. Dazu seien dringend weitere Studien nötig, um die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen auf Menschen mit Diabetes im Hinblick auf mögliche Spätfolgen zu evaluieren. Beispielsweise habe sich im Rahmen einer Forsa-Umfrage gezeigt, dass es bei einem großen Teil der Bevölkerung zu einer Gewichtszunahme im Laufe der Pandemie gekommen sei. Als Risikofaktor für Typ-2-Diabetes seinen langfristige Untersuchungen hierzu daher sehr relevant, auch wenn sie bisher in der Öffentlichkeit nicht diskutiert würden.

Autor:
Stand:
17.02.2022
Quelle:

DDS: Online-Pressekonferenz vom 16.02.2022

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