
Keine Wirkung ohne Nebenwirkung - dieser Grundsatz gilt auch und vielleicht besonders für den Hustenstiller Dextromethorphan (DXM). Er ist chemisch mit Morphin verwandt und ein Pro-Drug. In der Leber wird der Wirkstoff zum Metaboliten Dextrorphan (DXO) umgewandelt. Neben seiner hustenstillenden Komponente hat er viele andere Wirkungen, unter anderem zentralnervöse. Deshalb wird er nicht nur in der Medizin eingesetzt, sondern gilt auch als rekreative Droge. In letzter Zeit hatDextromethorphan aber vor allem Aufmerksamkeit für eine ganz andere Funktion bekommen: seine mögliche Fähigkeit, Diabetes mellitus Typ 2 (T2DM) zu behandeln bzw. besser zu kontrollieren.
Effekte in klinischen Studien
Bereits in präklinischen Studien und zwei placebokontrollierten, randomisierten klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass DXM dafür sorgen kann, dass der Insulinspiegel nach dem Essen stärker ansteigt und der Blutzuckerspiegel bei T2DM niedriger bleibt. Der Wirkstoff verlangsamte in Mausmodellen auch das Fortschreiten eines T2DM und erhöhte die Überlebensrate von Pankreasinseln. Ebenso verbesserte Dextromethorphan Endothelfunktionen und senkte den Blutdruck. So könnte er potentiell kardiovaskuläre Erkrankungen verhindern.
Nebenwirkungen sind problematisch
Ein Hauptproblem bleibt jedoch bei Dextromethorphan: Er wirkt auch im zentralen Nervensystem und kann dort Schwindel, Kopfschmerzen und eine psychische Abhängigkeit verursachen. Gelänge es, den Wirkstoff so zu verändern, dass er die Bluthirnschranke nicht mehr passieren kann, könnten diese Nebenwirkungen ausgeschaltet werden. Mit dem Thema hat sich nun ein Forscherteam um Okka Scholz vom Leibniz Center für Diabetesforschung an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf befasst. Die Ergebnisse wurden vorab online im Journal Cell Chemical Biology veröffentlicht.
Zielsetzung
Die Studie wurde mit dem Ziel durchgeführt, Derivate des Wirkstoffs Dextromethorphan herzustellen. Diese sollten keine zentralnervösen Nebenwirkungen mehr verursachen. Die antidiabetischen und zellprotektiven Eigenschaften sollten dabei jedoch erhalten bleiben.
Methodik
Zunächst modifizierte das Team DXM und DXO chemisch auf verschiedene Art und Weise, um potentielle Kandidaten zu finden. Dazu fügten sie unter anderem polare Seitengruppen und Gruppen mit Nitrogen hinzu und testeten, ob die modifizierten Substanzen in vitro in isolierten Mausinseln und humanen Pankreasinseln die Glukose-stimulierte Insulinsekretion (GSIS) erhöhen können und die Zellen gleichzeitig vor Zelltod schützen. Letzteres geschah, indem die Zellen mit und ohne DXM- und DXO-Derivate inkubiert wurden und danach Streptozotocin ausgesetzt wurden, einer für Betazellen des Pankreas toxischen Substanz.
Anschließend untersuchten sie, welche der Moleküle in vivo die Plasmainsulinkonzentration erhöhen könnten und welche die stärksten Blutzuckerabweichungen im Glukosetoleranztest in Mäusen verursachten.
Nachdem hoffnungsvolle Kandidaten, die vor allem die GSIS erhöhen konnten, ausgewählt wurden, wurden diese weiteren Tests unterzogen. Dazu zählte unter anderem, ob sie zu einem cAMP-Anstieg führen und damit vermutlich den gleichen Wirkmechanismus hätten wie GLP-1 Rezeptoragonisten. Dazu wurden die gleichen Effekte in Kombination mit verschiedenen GLP-1-Rezeptoragonisten getestet. Anschließend untersuchte das Team, inwieweit sie das Membranpotential von Betazellen aus dem Pankreas und ob sich die Ca2+-Konzentrationen verändern.
Ein großes Problem des ursprünglichen Wirkstoffs DXM und seines Metaboliten DXO ist, dass sie die Bluthirnschranke überschreiten können. Um zu testen, ob dies bei den Derivaten ebenfalls der Fall ist, testete das Forschungsteam unter anderem mittels Madin-Darby Canine Kidney (MDCK)-Multidrug Resistance Gene-1 (MDR1) Assays das Effluxverhältnis der Wirkstoffe und in vivo zusätzlich die Konzentration im Liquor. In isoliertem Hirngewebe wurde die Konzentration mittels Tandem-Massenspektrometrie mit der Plasmakonzentration verglichen. Als abschließender Test wurde untersucht, ob die Substanzen auch charakteristische Verhaltensveränderungen verursachen können. Dafür setzte das Team das „rotarod“-Experiment und den „hanging-wire“-Test ein.
Ergebnisse
Aus den synthetisch hergestellten und getesteten DXM- und DXO-Derivaten konnten drei potentielle Kandidaten isoliert werden. Die hoffnungsvollen Kandidaten hatten alle eine Gemeinsamkeit: Ihnen waren spezifische Substituenten an Position 2 hinzugefügt worden und sie basierten auf Morphinianen. Besonders das Derivat Lam39M (M für demethyliert) zeigte erfolgversprechende Ergebnisse.
Das Derivat erhöhte die GSIS in vitro in Mauspankreasgewebe und auch die Insulinausschüttung in einem humanen T2DM-Pankreasinselzellenpräparat. Dies war jedoch erst für höhere Konzentrationen der Fall. Gleichzeitig senkte es die Blutzuckerabweichungen während des Glukosetoleranztests, ohne im Mausmodell eine Hypoglykämie auszulösen. Der zugrundeliegende Mechanismus scheint aber nicht ein Anstieg der cAMP-Konzentration zu sein, wie es bei GLP-1 Rezeptoragonisten der Fall ist. Im Gegenteil hatte Lam39M nur in Kombination mit GLP-1 Rezeptoragonisten einen Effekt auf die cAMP-Konzentration, was sich gleichzeitig auch in einer höheren GSIS bemerkbar machte. Lam39M verlängerte aber die Zeit, in der Betazellen im depolarisierten Zustand mit erhöhtem intrazellulären Ca2+-Level verweilen. Dies könnte, so die Autoren, eine mögliche Erklärung sein, warum die Insulinausschüttung unter wirksamen Derivaten anstieg. Im Streptozotocintest zeigte sich, dass mit zeitlichem Abstand vorab mit den Derivaten inkubierte Pankreasinselzellen weniger anfällig für das Toxin waren.
Hinsichtlich der Bluthirnschrankengängigkeit der Derivate beobachteten die Wissenschaftler, dass die Derivate in geringeren Konzentrationen im Hirngewebe gefunden wurden als DXO. Lam39M hatte das höchste Effluxverhältnis im MDCK-MDR1-Assay. Auf das Verhalten der Mäuse in der Studie wirkten sich die Derivate nicht aus - die Tiere zeigten keine charakteristischen Verhaltensveränderungen.
Fazit
Der Hustenstiller Dextromethorphan lässt sich chemisch so verändern, dass seine Derivate die Glukose-stimulierte Insulinsekretion erhöhen. Gleichzeitig schützen sie Inselzellen des Pankreas vor Toxin-bedingtem Zelluntergang. Ebenso erhöhen sie die Glukosetoleranz, ohne Hypoglykämien zu verursachen und können die Bluthirnschranke deutlich schlechter überwinden als die Originalsubstanz. Damit bieten sie mögliche pharmakologische antidiabetische und zellschützende Agenzien an.
„Die Beobachtung, dass die neuen Wirkstoffe deutlich weniger Nebenwirkungen aufweisen, macht sie zu interessanten Kandidaten für die Zukunft der Diabetestherapie“, erklärt Prof. Michael Roden, Wissenschaftlicher Direktor und Vorstand des DDZ. In der Zukunft werden die hoffnungsvollen Derivatkandidaten nun weiter entwickelt hin zu möglichen Arzneimitteln, wie das Team in einer Pressemitteilung resümiert.