EASD 2022: Suizid bei Diabetes – Raus aus der Tabuzone!

Es wird geschätzt, dass bis zu 7 Prozent der Todesfälle bei Typ-1-Diabetes auf einen Suizid zurückgeführt werden müssen. Die Datenlage ist dürftig. Es wird Zeit, das Problem genauer zu erfassen und Maßnahmen zu ergreifen.

Depression Hilfe

Erstmals überhaupt wurde während eines Kongresses der European Association for the Study of Diabetes (EASD) das Thema selbstverletzendes Verhalten und Suizid 2022 auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei handelt es sich um ein relevantes und für viele im Bereich Diabetesversorgung Tätige bekanntes Problem, erklärte Dr. Simon O’Neill von der Organisation Diabetes UK, selbst examinierte Pflegekraft und von Typ-1-Diabetes betroffen [1]. Das Suizidrisiko ist bei Menschen mit Diabetes gegenüber der Allgemeinbevölkerung etwa verdoppelt, sagte er. Ein großes Problem sei, dass Betroffene weder in der Familie und mit Freunden, noch mit dem medizinischen Fachpersonal über suizidale Gedanken sprechen könnten. „Fragen sie Ihren Patienten nicht als erstes nach dem Blutzucker, fragen Sie ihn als erstes, wie es ihm geht“, bat er alle, die in der Versorgung von Diabetes-Patienten tätig sind.

Datengrundlage schlecht

Offizielle Zahlen zu Suiziden sind wenig verlässlich. Häufig sind die Angaben auf dem Totenschein nicht vollständig. So zeigte sich, dass bei 35% bis 40% der Menschen mit Diabetes auf dem Totenschein diese Diagnose nicht gelistet wurde [2]. Evidenz in der Literatur gibt es nicht. Beim Versuch, eine systematische Übersichtsarbeit zum Thema Kodierung von suizidalen Gedanken und suizidalem Verhalten im Zusammenhang mit Diabetes zu erstellen, wurde festgestellt, dass keine einzige wissenschaftliche Arbeit dazu existierte, die darüber Aufschluss gab.

Insulin-Überdosierung – wirklich ein Unfall?

Prof. Dr. Tadej Battelino, pädiatrischer Diabetologe von der Universität Ljubljana, geht davon aus, dass die Häufigkeit von bewusster Selbstverletzung und Suizid bei Menschen mit Typ-1-Diabetes höchstwahrscheinlich deutlich unterschätzt wird [3]. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigte sich, dass 90% der Fälle einer Insulin-Überdosierung, die in einer Notaufnahme registriert wurden, entweder suizidal oder parasuizidal einzuordnen waren, nur 5% waren wirklich ein Versehen [4]. Zudem tauche nicht nur die Diabetes-Diagnose zu selten auf dem Totenschein auf, auch ein Suizid werde beispielsweise aufgrund der damit verbundenen Stigmatisierung der ganzen Familie oft nicht kodiert, glaubt er.

Kodierung ist entscheidend

Um das Ausmaß des Problems erfassen und rasch angemessene Unterstützungsangebote entwickeln zu können, muss erst einmal eine entsprechende Kodierung von Selbstverletzung und suizidalen Handlungen bei Diabetes erfolgen, forderte Battelino. Vor allem ist seiner Ansicht nach das Augenmerk auf die hohe Depressivität bei Diabetes zur richten. Das Risiko für einen Suizidversuch ist bei Menschen mit depressiven Symptomen erhöht und junge Menschen mit Typ-1-Diabetes berichten zu 9% auch von Gedanken an einen Suizid [4].

RESCUE-Kollaboration

Die unzureichende Datenlage zu selbstverletzendem und suizidalem Verhalten im Zusammenhang mit Diabetes führte auf Anregung der US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA zur Gründung der RESCUE-Kollaboration, die mit Akteuren auf der ganzen Welt zusammenarbeitet [5]. Ziel ist die Identifizierung und Entwicklung geeigneter Maßnahmen, um die Situation zu verbessern. Dazu gehört beispielsweise ein Screeningtool für das Suizidrisiko speziell für Menschen mit Diabetes, das in verschiedenen Sprachen frei verfügbar gemacht werden soll. Natürlich müsse das zuvor entsprechend validiert werden, betonte Battelino. Zudem soll ein Rahmen für eine standardisierte Datenerhebung geschaffen werden. Neben einer größeren Aufmerksamkeit für die seelische Situation der Menschen mit Diabetes könnte ein weiterer Schritt sein, die technische Möglichkeit zum Suizid zu beeinflussen, die mit der Insulintherapie gegeben ist. „Sie haben ja beispielsweise mit einer Insulinpumpe praktisch die ganze Zeit eine geladene Waffe dabei“, meinte Battelino. Er rief alle Betroffenen und an der Diabetes-Versorgung Beteiligten auf, sich am RESCUE-Projekt zu beteiligen.

Autor:
Stand:
04.10.2022
Quelle:
  1. Dr. Simon O‘Neill: „Experiences and unmet needs of people with diabetes“, 58th EASD Annual Meeting 2022, Stockholm/hybrid, 21. September 2022.
  2. Mühlhauser I, Sawicki PT, Blank M (2002): Reliability of causes of death in persons with Type I diabetes. Diabetologia. DOI: 10.1007/s00125-002-0957-8
  3. Prof. Dr. Tadej Battelino: „Identification and coding of self-injurious and suicidal acts: unmasking the scale of the challange“, 58th EASD Annual Meeting 2022, Stockholm/hybrid, 21. September 2022.
  4. Majidi S, O'Donnell HK, Stanek K et al. (2019): Suicide Risk Assessment in Youth and Young Adults With Type 1 Diabetes. Diabetes Care. DOI: 10.2337/dc19-0831
  5. Barnard KD, Majidi S, Clements MA et al. (2022): RESCUE Collaborative Community: A New Initiative to Reduce Rates of Intended Self-Injury and Suicide Among People with Diabetes. Diabetes Technology & Therapeutics. DOI: 10.1089/dia.2021.0474
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