Schlafentzug könnte Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen verhindern

Rezidivierende Hypoglykämien können zu einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung führen. Ein Schlafentzug im akuten Setting könnte das eventuell verhindern, wie eine kleine Studie aus Deutschland, der Schweiz und Österreich herausgefunden hat.

Schlafentzug

Hypoglykämie ist eine der schwersten Komplikationen, die eine Diabetesbehandlung mit sich bringen kann. Sinkt der Blutzucker zu stark ab, werden normalerweise gegenregulatorische Mechanismen ausgelöst. Dabei werden unter anderem Hormone wie Adrenalin, Glukagon, Cortisol und Wachstumshormone (Growth Hormones, GH) ausgeschüttet. Gleichzeitig kommt es zu autonomen und neuroglykopenen Symptomen. Der Körper antwortet mit einer gesteigerten Glykogenolyse und Glukoneogenese und unterdrückt gleichzeitig den Glukoseverbrauch.

Entstehung einer Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung

Im Körper werden die Prozesse unter anderem durch das sympathische Nervensystem und Hormone reguliert. Eine wichtige Rolle scheinen dabei aber auch bestimmte Nuclei im Hypothalamus und der dorsale Mittellinienthalamus zu spielen. Sie sind daran beteiligt, die Energievorräte des Körpers zu regulieren. Kommt es wiederholt zu hypoglykämen Episoden, geraten diese feinjustierten Mechanismen der Gegenregulation jedoch aus dem Gleichgewicht. Es kommt zur Anpassung an die neue Situation. Dadurch sind die hormonellen Reaktionen und die autonomen und neuroglykopenen Symptome bei erneuten Hypoglykämien abgeschwächt. Es entsteht eine Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung (hypoglycaemia unawareness).

Habituation durch milde Hypoglykämien

Bereits milde Hypoglykämien können eine Habituation auslösen. Dadurch kann es beispielsweise zu einem Shift im glykämischen Threshold für die Aktivierung des sympathischen Nervensystems kommen, wenn das Plasmaglukoselevel zu niedrig ist.  Nach nur einer einzigen Hypoglykämie sinkt die Awareness (Wahrnehmung) für zu niedrige Blutzuckerspiegel. Diese Habituation und die Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung lassen sich umkehren, wenn es länger nicht zu Hypoglykämien gekommen ist. Im Idealfall sollten Habituationen jedoch gänzlich vermieden werden. Das gestaltet sich jedoch schwierig, denn der genaue Mechanismus, warum Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen und Habituationen entstehen, ist unbekannt.

Schlaf moduliert das metabolische Gedächtnis

Eine Option könnte im Schlaf liegen. Oder besser gesagt im Mangel an selbigem, denn während des Schlafes findet der Prozess der Gedächtniskonsolidierung statt. Dieser Prozess ist auch für das metabolische Gedächtnis wichtig. Im Zusammenspiel mit dem Hippocampus wird das deklarative Gedächtnis nachts gefestigt. Neuronengruppen im Hippocampus, dem basalen Vorderhirn und dem anterioren Hypothalamus sind zu diesem Zeitpunkt besonders aktiv. Diese Neuronen sind aber auch wichtig, um den Energiehaushalt und die Glukosehomöostase im Körper zu regulieren. Schlaf könnte deshalb, so die Theorie, ein wichtiger Modulator des metabolischen Gedächtnisses sein und die metabolische Kontrolle und die Glukosehomöostase beeinflussen.

Dieser Thematik hat sich das Wissenschaftsteam um Svenja Meyhöfer gewidmet. Die Daten wurden in der Studie „Sleep deprivation prevents counterregulatory adaptation to recurrent hypoglycaemia“ im Journal »Diabetologia« veröffentlicht.

Zielsetzung

Die zentrale Frage der deutsch-österreichisch-schweizerischen Studie war, ob der Schlaf die gegenregulatorische Antwort des Körpers und des Gehirns auf wiederholte Hypoglykämien abschwächen kann oder sie durch Schlafentzug gänzlich vermieden werden könnte.

Methodik

Die Studie wurde als balancierte Cross-over-Studie angelegt. Dafür rekrutierte das Team 15 gesunde, normalgewichtige, männliche Teilnehmer zwischen 18 und 35 Jahren. Als Ausschlusskriterien war definiert worden:

  • Rauchen
  • aktuell eingenommene Medikation jeglicher Art
  • Erhöhter Alkoholkonsum von >50 g pro Tag
  • Koffeinkonsum von >300 mg pro Tag
  • Verschreibungspflichtige Medikamente
  • Schichtdienst
  • Reisen durch mehrere Zeitzonen innerhalb der letzten vier Wochen
  • Kurze habituelle Schlafdauer von <6 h pro Tag
  • Blutspende in den letzten acht Wochen
  • Psychologische oder physiologische Erkrankungen jeder Art
  • Diabetes mellitus bei erstgradigen Verwandten
  • Abnormale Untersuchungsergebnisse in der körperlichen Untersuchung oder Routinelaboruntersuchungen.

Die Studiengruppe wurde unterteilt in die Schlafgruppe und die Schlafentzugsgruppe. Beiden Gruppen wurden am ersten Morgen des zweitägigen Experiments nüchtern Blutproben entnommen. Anschließend wurde bei allen Teilnehmern jeweils am Morgen und am Nachmittag des ersten Tages je eine hyperinsulinäme Hypoglykämie ausgelöst. Nach jeder Hypoglykämie wurden Blutproben entnommen. Anschließend durften die Teilnehmer der Schlafgruppe in der Nacht acht Stunden im Schlaflabor schlafen, während die Teilnehmer der Schlafentzugsgruppe ein festes Repertoir an Filmen und Spielen gestellt bekamen und wach bleiben mussten. Am zweiten Morgen wurde eine dritte hyperinsulinäme Hypoglykämie bei den Teilnehmern ausgelöst und anschließend erneut Blutproben entnommen.

Die Blutproben wurden auf verschiedene Enzyme wie Wachstumshormone (GH), Adrenocorticotropes Hormon (ACTH), Cortisol, Glukagon, Adrenalin und Noradrenalin untersucht. Diese Hormone gelten als beteiligt an der gegenregulatorischen Antwort des Körpers auf Hypoglykämien. Zusätzlich erfasste das Forschungsteam autonome und neuroglykopene Symptome, die die Teilnehmenden während der Hypoglykämien berichteten bzw. zeigten.

Ergebnisse

Alle Teilnehmer beendeten die Studie und gaben die erbetenen Blutproben ab. Die Werte brachten die hypothetisch erwarteten Ergebnisse: Im Verlauf der Studie veränderten sich die im Blut gemessenen Hormonwerte.

Am zweiten Tag zeigten alle Teilnehmer vor Beginn der dritten Hypoglykämieepisode im Vergleich zu den Basiswerten vom Studienbeginn signifikant erniedrigte Werte für Glukagon, GH und Adrenalin (p<0,026). Die anderen gemessenen Hormone zeigten keine signifikanten Unterschiede zu den Ausgangswerten (p>0,219).

Im direkten Vergleich der beiden Gruppen, der Schlafgruppe und der Schlafentzugsgruppe, waren die Unterschiede ebenfalls signifikant. Während der dritten Hypoglykämieepisode stieg das Adrenalin zwar in der Schlafgruppe an, in der Schlafentzugsgruppe blieb es aber stabil (p=0,004). Ähnlich verhielt es sich mit GH (p=0,089). Auch die Konzentration von ACTH zeigte gleiche Entwicklungen: Während es in der Schlafgruppe zwischen der ersten Hypoglykämie und der dritten signifikant sank (p=0,04), blieb es in der Schlafentzugsgruppe weitestgehend stabil (p=0,06). Cortisol war in beiden Gruppen bei der dritten Episode erniedrigt (p<0,005). Das Hormon Noradrenalin blieb im Vergleich von erster und dritter Hypoglykämieepisode gleich.

Auch die neuroglykopenen und autonomen Symptome, die Betroffene auf eine drohende Hypoglykämie hinweisen, veränderten sich mit der Häufigkeit der Hypoglykämien. Diese Änderung war jedoch abhängig vom Schlaf der Teilnehmenden. In der Schlafgruppe sanken sowohl die neuroglykopenen (p=0,005) als auch die autonomen (p=0,019) Symptome deutlich. In der Schlafentzugsgruppe aber, waren die neuroglykopenen Symptome bei der dritten Hypoglykämie erhöht (p=0,014), während die autonomen unverändert blieben (p=0,859).

Fazit

Der Schlaf spielt eine Rolle dabei, wenn sich der Körper nach wiederholten Hypoglykämien habituiert. Schliefen Betroffene direkt nach einer Hypoglykämie eine Nacht nicht, dämpfte das die Adaptation auf wiederholte Hypoglykämien. Gleichzeitig waren die neuroglykopenen und autonomen Symptome nach Schlafentzug ausgeprägter als nach normalem Schlaf. Das könnte bedeuten, dass neuroendokrine Gegenregulationen nach wiederholten Hypoglykämien durch einen akuten Schlafentzug in der darauffolgenden Nacht verhindert werden könnten. Dadurch bliebe die subjektive Wahrnehmung der Hypoglykämien erhalten.

Ob die beobachtete Reaktion aber auch in größeren Studiengruppen standhalten kann und auf Diabetesbetroffene zutrifft, muss sich in weiteren Studien zeigen. Ließen sich die Ergebnisse weiterhin bestätigen, könnte das neue Perspektiven eröffnen, Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen zu vermeiden.

Autor:
Stand:
05.07.2022
Quelle:

Meyhöfer S. et al. Sleep deprivation prevents counterregulatory adaptation to recurrent hypoglycaemia. Diabetologia 2022, 65:1212-1221. DOI: 10.1007/s00125-022-05702-9

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