
Diabetespatientinnen und -patienten werden in Deutschland, wo immer möglich, in das DMP Diabetes eingeschlossen. DMPs sind Disease Management Programme, die unter anderem dafür sorgen sollen, dass Volkskrankheiten möglichst strukturiert und standardisiert behandelt werden. Ein Aspekt des DMP Diabetes ist es, Folgeerkrankungen vorzubeugen. Dazu gehört - neben anderen Aspekten - das jährliche augenärztliche Screening auf diabetische Retinopathie. Gerade von jungen Erwachsenen wird dieses Screening jedoch nicht immer gut angenommen.
Fehlende Adhärenz
In Deutschland sollten Erwachsene ihre Netzhaut alle ein bis zwei Jahre augenärztlich untersuchen lassen, wenn sie bereits seit fünf Jahren Diabetiker oder Diabetikerin sind. Das ist Teil des DMP Diabetes. So sollen diabetische Schäden an der Netzhaut möglichst früh erkannt und behandelt werden. Die Evidenz, dass diese Vorsorge effektiv ist, ist gut. Die Adhärenz schwankt jedoch je nach Bevölkerungsgruppe, wie auch internationale Beobachtungen zeigen: In Australien gehen 78% der betroffenen Einheimischen zum Screening. Unter den Nichteinheimischen sind es jedoch nur 53%. In Kanada waren es 51% der Langzeiteinwohner und -einwohnerinnen im Vergleich zu 38% der Immigrierten. Es sind jedoch nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund, die seltener zum Screening auf diabetische Retinopathie gehen. Auch junge Erwachsene zählen zu dieser Gruppe. In Großbritannien gehen zwar 70% der Diabetikerinnen und Diabetiker im Alter von 18 bis 34 Jahren jährlich zum Screening, in der gleichen Altersgruppe war jedoch auch ein Fünftel in den letzten drei Jahren seit Registrierung gar nicht beim Screening.
Die Gründe dafür, warum Diabetesbetroffene Screeningangebote seltener annehmen, können vielfältig sein. Dazu zählen beispielsweise mangelndes Wissen, Emotionen, soziale Einflüsse oder der Umweltkontext. Gerade für junge Menschen mit Diabetes ist die Vorsorge jedoch besonders wichtig, um ihnen ein möglichst einschränkungsarmes Leben zu ermöglichen. Deshalb hat sich eine britische Studie näher damit befasst, was junge Erwachsene daran hindert, an Screeningprogrammen für diabetische Retinopathie teilzunehmen. Die Daten wurden im Journal »BMJ Open Diabetes Research & Care« veröffentlicht.
Zielsetzung
Screeningprogramme sollen helfen, Erkrankungen frühzeitig zu erkennen. Damit Betroffene an den Programmen teilnehmen, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Ziel der Studie war es deshalb, herauszufinden, was junge Erwachsene mit Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 daran hindert, am Screeningprogramm für diabetische Retinopathie teilzunehmen, und was fördernde Gründe (Enabler) bzw. Grundvoraussetzungen sein könnten. Zusätzlich sollte untersucht werden, wie gut sich die gefundenen Hindernisse und Grundvoraussetzungen auf alle jungen Erwachsenen übertragen lassen. Gibt es Unterschiede zwischen den jungen Erwachsenen, die regelmäßig zum Screening gehen, und denen, die es nicht tun?
Methodik
Für die Querschnittsstudie wurden 18- bis 34-Jährige eingeladen, im Juni 2021 an einer anonymen Onlinebefragung teilzunehmen. Voraussetzung war, dass sie an Diabetes mellitus erkrankt sein mussten.
Rekrutiert wurden die jungen Menschen entweder mittels SMS mit Umfragelink. Dafür wurde auf die DESP-Datenbank (Diabetic Eye Screening Program) zurückgegriffen und die Menschen herausgefiltert, die in London registriert waren und eine Mobilfunknummer angegeben hatten. Als zweite Rekrutierungsstrategie wurde via Website und sozialen Medien (Facebook und Twitter) durch die Juvenile Diabetes Research Foundation UK (JDRF UK) und die Organisation Diabetes UK geworben.
Aufbau der Befragung
Die Onlinebefragung bestand aus drei Teilen. Der erste Teil fragte vor allem demographische Daten ab. Im zweiten Teil wurden die Teilnehmenden gebeten, bei 30 Aussagen anzugeben, wie sehr diese auf sie zutreffen. Die Zustimmung oder Ablehnung erfolgte mittels 5-Punkt-Likert-Skala. Die Aussagen basierten auf in früheren Studien festgestellten 14 Themenkomplexen, die beeinflussen, ob Menschen an Screeningprogrammen teilnehmen. Zu den Aussagen zählten Themen wie „Diabetic retinopathy is a concern“ oder „I worry about diabetic retinopathy“. Im dritten Teil wurden die Teilnehmenden gebeten, im Freitextformat weitere Fragen zu beantworten.
Die Analyse erfolgte anhand der folgenden in Aussagen abgefragten Themenkomplexe:
- Kenntnisse
- Fertigkeiten
- Soziale/berufliche Rolle/Identität
- Auffassung der Fähigkeiten
- Auffassung von Konsequenzen
- Stärkung
- Intention
- Ziele
- Gedächtnis, Absicht, Entscheidungsfindung
- Umweltkontext und Ressourcen
- Soziale Einflüsse
- Verhaltensregulierung
- Emotionen
Ergebnisse
An der Onlinebefragung nahmen insgesamt 102 Personen teil. Etwas mehr als die Hälfte der Teilnehmenden (59,8%) war weiblich und hatte Typ-1-Diabetes (65,7%). Mehr als die Hälfte (52,9%) war zwischen 30 und 34 Jahren alt und zählte zu weißen Briten (57,8%). Der Großteil war in Anstellung (76,4%) und hatte einen Berufsabschluss oder höher (60,8%).
Die meisten der Teilnehmenden gingen regelmäßig zum Augenscreening: 76,5% der Teilnehmenden hatte innerhalb der letzten drei Jahre keinen Termin verpasst. Von den untersuchten vierzehn Themenkomplexen war der wichtigste für die Teilnahme am Screening für diabetische Retinopathie der Bereich „Ziele“. Mit 93% hatte er eine hohe Priorität für das Diabetesmanagement. Auch „Intention“ spielte mit 97% eine große Rolle, ebenso „Kenntnisse“ mit 98% im Sinne, dass die Teilnehmenden sich bewusst waren, dass mithilfe des Screenings Augenprobleme frühzeitig erkannt werden können. Als weitere Enabler gaben die Teilnehmenden an, dass sie sich bewusst waren, dass eine Früherkennung der diabetischen Retinopathie wichtig sei (98%; Themenkomplex „Auffassung von Konsequenzen“).
Am Screeningprogramm teilzunehmen beruhigte sie (75%; „Emotionen“). Wichtig war jedoch auch, dass sie sich wohl damit fühlten, anderen gegenüber anzugeben, dass sie Diabetes haben (71,6%; „Soziale Identität“). Hier unterschieden sich die beiden Diabetesgruppen deutlich: Menschen mit Typ-2-Diabetes erzählten anderen nur ungerne von ihrer Diagnose (77,6% vs. 57,6%; p=0,039; Themenkomplex „Soziale Identität“), während Menschen mit Typ-1-Diabetes sich deutlich häufiger durch den Diabetes überfordert fühlten (76,9% vs. 56,7%; p=0,046; Themenkomplex „Emotionen“). In den übrigen Bereichen waren sich beide Diabetesgruppen überwiegend ähnlich.
Dem gegenüber steht, dass 84% der Teilnehmenden nicht wussten, wie eine diabetische Retinopathie behandelt werden könnte, sollte sie bei ihnen auftreten. Ebenso deckten Diabetesschulungen nur bei 52% der Teilnehmenden das Augenscreening im Detail ab („Fertigkeiten“). Auch Terminflexibilität war für die Teilnehmenden ein Hindernis, am Screening teilzunehmen: 67,4% gaben an, mehr Flexibilität bei den Terminen hilfreich zu finden („Umweltkontext und Ressourcen“). Etwa ein Drittel berichtete beispielsweise, dass es schwierig sei, für die Termine frei zu bekommen. Auch fänden die Screeningtermine oft zu anderen Zeiten statt als ihre normalen Diabeteskontrolltermine (75,2%). Diese Themen spielten bei denen, die gar nicht oder nicht regelmäßig zu Screeningangeboten gingen, eine größere Rolle als bei denen, die regelmäßig teilnahmen (59,1% vs. 23,1%; p=0,002). Sie hatten auch deutlich mehr Schwierigkeiten, für die Termine frei zu bekommen und berichteten, die Termine nähmen zu viel Zeit des Tages in Anspruch (50,0% vs. 23,1%; p=0,015).
Ein weiteres mögliches Hindernis stellten die Ergebnisse des Screeningprogramms dar: 74,3% der Teilnehmenden gaben an, sie würden sich Sorgen wegen einer möglichen diabetischen Retinopathie machen und 63% hatten Angst vor den Ergebnissen („Emotionen“). Sie wünschten sich, sie würden mehr unterstützt, wenn und nachdem sie die Ergebnisse erhielten (66%; „Soziale Einflüsse“).
Fazit
Ob junge Erwachsene mit Diabetes an Screeningprogrammen teilnehmen oder nicht, wird durch komplexe, interaktive Verhaltensfaktoren beeinflusst. Zu den Gründen, die junge Erwachsene daran hindern, an Screeningterminen für die diabetische Retinopathie teilzunehmen, zählen unter anderem eine geringe Flexibilität bei den Terminen und Angst vor den Ergebnissen und dem, was danach kommen könnte. Dies ließe sich durch ein flexibleres Terminvereinbarungssystem mit gebündelten Terminen und Abend- oder Wochenendterminen möglicherweise vermeiden. Auch helfen könnte, so die Studienautorinnen und -autoren, in Diabetesschulungen mehr auf die Screenings aufmerksam zu machen und die Betroffenen besser darüber aufzuklären, wie im Falle einer diabetischen Retinopathie behandelt werden kann. Ob sich dadurch jedoch deutlich mehr Menschen erreichen ließen, die bisher nicht an Screeningprogrammen teilnehmen, lässt sich bisher nicht sagen. Dafür braucht es Studien, die noch einmal gezielt vor allem die Personen ansprechen, die nicht gar nicht an den Programmen teilnehmen.