
Sprechen, sich konzentrieren, erinnern – fehlen diese vermeintlich selbstverständlichen Fähigkeiten bei einer neurologischen Erkrankung plötzlich, müssen sie neu erlernt werden. Die unter Leitung von Dr. Angelika Thöne-Otto aktualisierte S2e-Leitlinie bietet allen Berufsgruppen in der neurologischen Rehabilitation einen Leitfaden dazu [1].
Auslöser von Gedächtnisstörungen
Die Leitlinie geht auf Gedächtnisstörungen von Erwachsenen bei neurologischen Erkrankungen ein. Störungen der Gedächtnisleistung können durch verschiedenste Ursachen ausgelöst werden, die sowohl physischer als auch psychischer Natur sein können. Mögliche Ursachen sind beispielsweise Demenzen, Schlaganfälle, Depressionen, Schizophrenie, Multiple Sklerose, Schädel-Hirn-Traumata, Epilepsien oder verschiedene Enzephalitiden.
Neuerungen der Leitlinie
In der aktualisierten Leitlinie gibt es Neuerungen in den Bereichen des übenden Funktionstrainings, der assistiven Technologien (externe Gedächtnishilfen), des fehlerfreien Lernens (Errorless Learning) und der virtuellen Realität.
Übendes Funktionstraining
Die Leitlinie informiert darüber, dass aufgrund mehrerer randomisierte Studien nun die Evidenz für die Wirksamkeit des übenden Funktionstrainings bei Patienten mit leichten bis mittelschweren Gedächtnisstörungen erhärtet wird.
Die Autoren begründen dies mit einzelnen Studien von guter methodischer Qualität, die für eine Wirksamkeit sprechen. Die Empfehlungsstärke ist hoch (A), da die Akzeptanz eines Trainings in der Regel hoch ist und keine Risiken durch die Therapie anzunehmen sind. Patienten mit progredienten Erkrankungen, z.B. Multipler Sklerose, sollte eine frühzeitige Therapie empfohlen werden, da die Aufmerksamkeits- und Arbeitsgedächtnisleistung hier noch besser funktioniere.
Zur Therapiedauer: Als gute klinische Praxis gelten laut Leitlinie mindestens 10 Sitzungen.
Assistive Technologien
Unter assistiven Technologien werden alle Möglichkeiten zur technischen Unterstützung von Patienten verstanden, die auf elektronischen Unterstützungssystemen bestehen. Eine einfache Form davon ist beispielsweise der Kalender auf dem Smartphone mit Erinnerungsfunktion.
Die Leitlinie spricht zur Nutzung assistiver Technologien folgende Empfehlungen aus:
- Elektronische Erinnerungshilfen sollen als Kompensationsstrategie in die Therapie mit einbezogen werden, unabhängig von der Schwere der Gedächtnisstörung, wenn der Patient dazu bereit ist und Interesse zeigt (Evidenzlevel II-III).
- Beim Einsatz von technologiebasierten Gedächtnishilfen zu therapeutischen Zwecken sollten Patienten bzw. deren Angehörige über Datenschutz und Datensicherheit aufgeklärt werden (Expertenkonsens).
- Vielen Patienten ist die Nutzung von Mobiltelefonen und Smartphones vertraut. Dennoch sollte eine Anpassung an die kognitiven Fähigkeiten der Patienten in der Therapie angesprochen und ggf. geübt werden (Expertenkonsens).
Fehlerfreies Lernen bei Menschen mit schwerer Amnesie
Die Wirksamkeit des fehlerfreien Lernens (Errorless Learning) bei Patienten, die unter einer schweren Amnesie leiden, ist weiterhin Gegenstand einer intensiven Diskussion, da widersprüchliche Studienergebnisse vorliegen.
Insgesamt zeigt sich, dass ein aktiver Abruf in unterschiedlichen Intervallen (zunächst kürzere, dann größer werdende Intervalle; Spaced Retrieval) für den Lernprozess scheinbar wichtiger ist als die komplette Vermeidung von Fehlern. Die Leitlinie empfiehlt daher eine fehlerarme Lernmethode, die einen erfolgreichen Abruf möglich macht.
Virtuelle Realität
Die Leitlinie sieht für die Untersuchung und das Training visuell-räumlicher Gedächtnisstörungen großes Potenzial bei der Nutzung von virtueller Realität. Allerdings lägen zum aktuellen Zeitpunkt noch zu wenige Daten zum klinischen Einsatz vor, um eine Empfehlung aussprechen zu können.