
Hintergrund:
Es ist bekannt, dass Patienten, die an mentalen/psychischen Störungen leiden, vermehrt an Gewalttaten beteiligt sind. Viele dieser Taten werden ausgeübt, während die Patienten unter dem Einfluss von Medikamenten stehen. Hieraus ergab sich der Verdacht, dass Medikamente für die erhöhte Kriminalität mitverantwortlich sein könnten. Vor diesem Hintergrund stehen insbesondere SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer [Selective Serotonin Reuptake Inhibitor]) im Verdacht, da sie das am häufigsten verordnete Antidepressivum sind und Depressionen die häufigste mentale Störung darstellen. Bei diesen Wirkstoffen ist bereits bekannt, dass sie mit einer erhöhten Rate an Aggressivität / Gewalttaten bei Kindern und Jugendlichen assoziiert sind.
Methodik:
Eine aktuelle schwedische Kohortenstudie untersuchte aus diesem Grund die Daten von 785.337 Menschen (davon 64,2% Frauen) im Alter von 15 und 60 Jahren, denen zwischen 2006 und 2013 ein SSRI (ATC Code: N06AB) verschrieben wurde. Die Daten bezüglich der verschriebenen Pharmaka, Krankheitsdiagnosen, verübten Gewaltverbrechen, Krankenhausaufenthalten, demographische Daten, Inhaftierung und Emigration wurden aus diversen schwedischen Nationalregistern entnommen. Das Follow-Up der Patienten betrug im Durchschnitt 7,3 Jahre.
Als Outcome legten die Studienautoren „die Ausübung von Gewaltverbrechen“ (inklusive u.a. Tötungsdelikte, Totschlag, Belästigung, Stalking, Raub, Brandstiftung, Entführung, Nötigung, Übergriffe und Sexualverbrechen) fest.
Ergebnisse:
Die SSRI Einnahme scheint mit einem erhöhten Risiko für die Ausübung von Gewaltverbrechen assoziiert zu sein
Insgesamt wurden 32.203 Gewalttaten während des Studienzeitraumes verübt. Davon wurden 6306 Gewalttaten während der Einnahme von SSRI und 25.897 außerhalb der SSRI Einnahme begangen.
Die Wissenschaftler konnten zeigen, dass während der Therapie mit SSRI häufiger Gewaltverbrechen verübt wurden (Behandlungstag 1-28: Hazard Ratio [HR] 1,28 [95% Konfidenzintervall: 1,13-1,45]; Behandlungstag 29-84: HR 1,35 [95% Konfidenzintervall: 1,22-1,49]; Behandlungstag >85: HR 1,24 [95% Konfidenzintervall: 1,14-1,35].
Es begingen nur 2,7% (n=20 821) der untersuchten Patienten Straftaten während des Studienzeitraums. Männer verübten mehr Gewaltverbrechen im Vergleich zu den Frauen (5,7% versus 1,0%).
Insbesondere Gewaltverbrechen in der Anamnese schienen mit einem erhöhten Risiko einherzugehen (HR: 1,13 [95% Konfidenzintervall:1,09-1,18] versus HR 1,07 [95% Konfidenzintervall 1,02-1,12]). Schaute man nach dem Alterseffekt, so zeigte sich, dass die SSRI Einnahme insbesondere bei Patienten zwischen 15-24 und 25-34 Jahren mit einem erhöhten Risiko für Gewaltverbrechen assoziiert war (HR 1,19 bzw. 1,16) im Vergleich zu den älteren Patienten (35-44 und 45-60 Jahre).
Auch nach dem Absetzen der SSRI bleibt das Risiko zur Ausübung von Gewaltverbrechen erhöht
Die Studienautoren konnten zudem zeigen, dass in den ersten 28 Tagen nach dem Absetzen des Wirkstoffes das Risiko für die Ausübung von Gewaltverbrechen erhöht bleibt (Behandlungstag 1-28: HR1,37 [95% Konfidenzintervall: 1,21-1,55]; Behandlungstag 29-84: HR 1,20 [95% Konfidenzintervall: 1,08-1,33]). 85 Tage nach Absetzen der SSRI war die Wahrscheinlichkeit Gewalttaten zu begehen nicht mehr erhöht.
Interpretation der Ergebnisse
Die Wissenschaftler um Lagerberg betonen, dass die Studie nicht abschließend beweisen kann, ob die SSRI und nicht etwa die Depression selber die Neigung zu Gewaltverbrechen erhöht hat.
Auf der anderen Seite weiß man, dass der Wirkstoff zu einer Antriebssteigerung führt, und dies ggf. bei anfälligen Personen zu einer erhöhten Neigung zur Ausübung von Gewalttaten führen könnte.
Die Wissenschaftler empfehlen daher, Patienten mit einem erhöhten Risiko (z.B. nach Gewalttaten in der Anamnese) auf die Gefahr hinzuweisen und bei möglichen Warnzeichen (Feindseligkeit, Aggressivität, Reizbarkeit) ärztlichen Rat einzuholen.
Fazit:
Die Studienautoren der vorliegenden Arbeit schlussfolgerten, dass die Einnahme von SSRI mit einem erhöhten Risiko für Gewalttätigkeit bei einigen Personen assoziiert sein könnte. Sie wiesen darauf hin, dass die Studie keine abschließende Kausalität darlegen kann, ob der Wirkstoff und nicht etwa die Depression selber die Neigung zu Gewaltverbrechen erhöht hat.