Problematische Hypoglykämien und mögliche Ursachen

Hypoglykämien stellen bei Diabetes ein ernstes Gesundheitsrisiko für die Betroffenen dar. Bei einem Teil der Erkrankten treten sie trotz Schulungen, angepassten Insulintherapien und technischer Unterstützung gehäuft auf. Bei Teilnehmenden des HARPdoc-Programms wurde das nun untersucht.

Hypoglykämie

Hypoglykämien sind eine der gefährlichsten und gefürchtetsten Komplikationen von Diabetes mellitus. Besonders betroffen davon sind Patientinnen und Patienten mit Typ 1 Diabetes mellitus (T1DM). Fällt die im Körper zirkulierende und für die Organe frei verfügbare Glukose unter ein bestimmtes Niveau, können normale kognitive Funktionen nicht mehr aufrechterhalten werden und die Betroffenen sich nicht mehr selbst aus der Hypoglykämie befreien. Sie haben dann laut Definition eine schwere Hypoglykämie. Von allen Menschen mit einem Typ-1-Diabetes erleben etwa 12% diesen Zustand mindestens einmal innerhalb von einem knappen Jahr. Aufgrund der Schwere müssen von diesen Betroffenen etwa 4% ins Krankenhaus. Das klingt zwar wenig, die Prävalenz steigt jedoch, je länger Menschen bereits mit einem Typ-1-Diabetes und einer gestörten Selbstwahrnehmung von Hypoglykämien leben.

Hypoglykämien mit gestörter Selbstwahrnehmung

Bei einer gestörten Selbstwahrnehmung von Hypoglykämien können Betroffene, wie der Ausdruck bereits besagt, nicht mehr selbst erkennen, wenn sie hypoglykäm werden. Das kann beispielsweise an verspätet oder vermindert auftretenden Symptomen liegen. Auch kann die neuroendokrine Antwort auf die stark gesunkene Plasmaglukose ausbleiben.

Haben Typ-1-Diabetikerinnen und -Diabetiker eine solche gestörte Wahrnehmung, steigt ihr Risiko für schwere Hypoglykämien sechsfach an. Treten eine gestörte Wahrnehmung von Hypoglykämien zusammen mit wiederholten schweren Hypoglykämien auf, wird von problematischen Hypoglykämien gesprochen. Sie können zu einer sinkenden Lebensqualität, Verlust der Fahrerlaubnis, steigenden Belastungen für das Sozial-, Arbeits- und Familienleben und einem höheren Risiko für Notaufnahmebesuche führen. Gleichzeitig steigen dadurch die Gesundheitskosten.

Schwere Hypoglykämie trotz Schulung

So weit muss es jedoch nicht kommen. Schulungen im Selbstmanagement des Insulins und der technische Fortschritt beim Glukosemonitoring und der Insulintherapie haben bereits zu deutlich weniger schweren Hypoglykämien geführt. Bei einigen Betroffenen konnte mit den Schulungen und genutzter Technik keine Verbesserung erreicht werden. In diesen Fällen könnten psychologische Aspekte zugrunde liegen. Haben Betroffene beispielsweise ein hohes Risiko für schwere Hypoglykämien, aber nur wenig Angst davor - immerhin 8% aller Diabetikerinnen und Diabetiker und etwa ein Drittel der von schweren Hypoglykämien Betroffenen -, sind sie wohlmöglich gar nicht in der Lage, Hypoglykämien zu vermeiden, da sie die Gefahr nicht erkennen oder das Thema nicht für sich priorisieren.

HARPdoc-Programm

Ein Programm, das dieses Thema angehen möchte, ist HARPdoc. Das Akronym steht für »Hypoglycemia Awareness Restoration Programme or people with type 1 diabetes and probematic hypoglycaemia persisting despite otherwise optimised control« und wurde speziell für Menschen mit einem Typ 1 Diabetes mellitus und problematischen Hypoglykämien entwickelt.

In dem sechswöchigen psychoedukativen Programm sollen gedankliche Fallen angegangen werden, die bei den Betroffenen dafür sorgen, dass sie Hypoglykämien nicht als solche identifizieren können. Die meisten der Betroffenen, für die dieses Programm gedacht ist, haben bereits andere Schulungsprogramme durchlaufen, in denen sie lernen sollten, ihre Insulintherapie selbst zu managen und Zugang zu technologischer Unterstützung bekommen haben.

Um das Programm wissenschaftlich zu evaluieren, wird es in einer internationalen, multizentrischen, pragmatischen, parallel-armigen und randomisiert-kontrollierten Studie untersucht.

Eine britisch-amerikanisches Team hat sich nun genauer angeschaut, wer die Betroffenen sind, die in die HARPdoc-Studie eingeschlossen. Die Daten wurden im Journal »Diabetologia« publiziert.

Zielsetzung

Die britisch-amerikanische Studie hat sich drei Fragen als Ziel gesetzt:

  1. Welche demographischen, klinischen und psychologischen Charakteristika Menschen mit Typ 1 Diabetes mellitus und problematischer Hypoglykämie mitbringen
  2. Ob es klinische und psychologische Unterschiede in den Subgruppen der Teilnehmenden gibt und sich diese mit dem Kognition und Antworten im „Hypoglycaemia Fear Survey II-Fragebogen“ einteilen lassen
  3. Ob es  Populationscharakteristika zwischen der HARPdoc-Kohorte und einer passenden Vergleichsgruppe von Menschen ohne problematische Hypoglykämien gibt.

Methodik

Rekrutiert wurden die Teilnehmenden für die Studie zwischen März 2017 und März 2019 in drei speziellen Diabeteszentren in Großbritannien und einem in den USA.

Ein- und Ausschlusskriterien

Alle Teilnehmenden waren erwachsen und hatten seit mindestens vier Jahren einen Typ 1 Diabetes mellitus. Zusätzlich mussten sie seit mindestens einem Jahr problematische Hypoglykämien vorweisen, an strukturierten Schulungsprogrammen teilgenommen haben sowie aktuell ihr Insulin nach einem flexiblen Plan spritzen.

Problematische Hypoglykämien wurden definiert als Gold oder Clarke Scores von mindestens vier und mehr als einer Episode einer schweren Hypoglykämie in den vergangenen zwei Jahren. Seitdem die aktuelle Behandlung begonnen worden ist, musste es zu mindestens einer dieser Hypoglykämien gekommen sein. Alle Teilnehmenden erklärten sich bereit, mindestens vier Mal pro Tag ihren Blutzuckerspiegel selbst zu erheben.

Ausgeschlossen wurden Teilnehmende mit einem Typ 2 Diabetes mellitus oder mit einem Typ 1 und erhaltener, normaler Wahrnehmung von Hypoglykämien. Auch Interessierte, die noch nicht an strukturierten Diabetesschulungsprogrammen teilgenommen hatten, derzeit auf eine Inselzell- oder Pankreastransplantation warteten, schwanger waren oder schwere psychische Erkrankungen, inklusive Essstörungen hatten, wurden ausgeschlossen. Das galt ebenso für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Bestanden weitere unbehandelte Erkrankungen, die ebenfalls Grund für die Hypoglykämien sein könnten, konnten die Betroffenen nicht teilnehmen.

In der Vergleichsgruppe (COBrA-Gruppe, kurz für Cognitions Outcomes and Behaviours around hypoglycaemia in Adults with type 1 diabetes) galten die gleichen Ein- und Ausschlusskriterien mit einem Unterschied: Die Teilnehmenden durften maximal einen Gold- oder Clarke-Score von drei haben und damit keine gestörte Wahrnehmung von Hypoglykämien.

Gesammelte Daten

Von den eingeschlossenen Teilnehmenden sammelte das Forschungsteam verschiedene Daten wie demographische Daten, die medizinische Vorgeschichte und Vitalwerte sowie der HbA1c.

Um die letzten Episoden von schweren Hypoglykämien zu evaluieren und zu erheben, wurden die Teilnehmenden zu den vergangenen 12 und 24 Monaten befragt. Gesammelt wurden Daten zur Anzahl der Episoden, dem Verlust des Bewusstseins oder Krampfanfällen, parenteralen Therapien, Rettungsdiensteinsätzen, Ambulanzbesuchen und stationären Aufnahmen im Krankenhaus, die alle Folge der schweren Hypoglykämien waren.

Zusätzlich wurden die Teilnehmenden gebeten, verschiedene Fragebögen auszufüllen. Mit diesen Fragebögen wurden unter anderem erhoben, wie viel Angst Teilnehmende vor Hypoglykämien haben, ob sie ungesunde Gesundheitsüberzeugungen hinsichtlich Hypoglykämien und deren Vermeidung haben, wie groß die Belastung durch den Diabetes ist und ihre Ängstlichkeit sowie mögliche Depressionen.

Ergebnisse

Die Studie brachte die erhofften Ergebnisse dazu, wie sich die Teilnehmenden des HARPdoc-Programmes zusammensetzten. Von 626 möglichen Teilnehmenden wurden 99 in die Studie eingeschlossen.

Das durchschnittliche Alter lag bei 54,3 Jahren (Standardabweichung [SD] ±13,3). Etwas mehr als die Hälfte (55,6%) der Teilnehmenden war weiblich. Der durchschnittliche Body-Mass-Index (BMI) lag bei 26,4 kg/m2 (SD ± 4,9). Der Diabetes mellitus Typ 1 bestand in der Kohorte seit durchschnittlich 35,8 Jahren (±15,4 Jahre) und mit 54,5% hatten mehr als die Hälfte seit mindestens 10 Jahren problematische Hypoglykämien. Der durchschnittliche SD-Gold-Score lag bei 5,3 (± 1,2) und der mediane Interquartilenabstand (IQR) bei 5,0 (2,0-12,0) schweren Hypoglykämie-Episoden im vorherigen Jahr.

Alle Teilnehmenden wurden mittels eines Therapieschemas mit flexibler Insulingabe behandelt und der Großteil hatte bereits strukturierte Gruppenschulungen erhalten (57,9% DAFNE, 16,8% BERTIE, 8,4% DO-IT und 11,6% andere). Auch ein kontinuierliches Glukosemonitoring (62,9%) und/oder ein intermittierendes Monitoring (27,8%) war den meisten Teilnehmenden bereits angeboten worden. Als die Teilnehmenden in die Studie aufgenommen wurden, nutzte auch etwas mehr als die Hälfte (56,7%) bereits irgendeine Form von Diabetestechnologie. Ein kleiner Teil erhielt professionelle psychologische Unterstützung (7,2%), mehr als einem Drittel (35,4%) war sie bereits angeboten worden und 24,7% hatte sie in der Vergangenheit in Anspruch genommen.

Die Anzahl der Hypoglykämien im vorherigen Jahr ließ sich nicht eindeutig in einfachen Prozentwerten ausdrücken, denn hier war die Verteilung deutlich verzerrt: Während der Durchschnitt bei 29,5 lag, lag der Median nur bei 5,0. Das spiegelt die Diversität der Kohorte wider.

Auswertung der Fragebögen

Die Fragebögen brachten wie die demographischem Untersuchungen erwartete Ergebnisse: Fast die Hälfte der Betroffenen in der HARPdoc-Kohorte hatte grenzwertig auffällige (abnormale) oder auffällige (abnormale) Anxiety Scores (49,5%). Etwa ein Drittel zeigte grenzwertig auffällige oder auffällige Depressionsscores (35,0%) und 31,3% zeigten hohe Diabetes Distress Scores. Nur ein Fünftel aller Teilnehmenden machte sich wenig Sorgen (HFS-W<0,92). Als Gesamtgruppe wiesen die Betroffenen mit problematischen Hypoglykämien vor allem eine hohe Belastung durch Ängstlichkeit und Depressionen auf. In der Vergleichsgruppe waren diese Scores signifikant niedriger.

Auffällig war in der HARPdoc-Kohorte, dass sie sich zusätzlich in zwei Cluster unterteilen ließ: Das eine Cluster (n=69) zeigte wenig Angst aber hohe Barrieren.. Beim anderen Cluster hingegen war es genau andersherum. Sie hatten große Angst vor Hypoglykämien, aber nur wenig Barrieren. Beide Gruppen unterschieden sich jedoch nicht signifikant in ihren demographischen Charakteristika, nur in ihren Fragebögen-Scores.

Fazit

Die Studie zeigt, so berichten die Studienautorinnen und -autoren, dass mit dem HARPdoc-Protokoll erfolgreich genau die Menschen rekrutiert werden konnten, die eine behandlungsresistente und problematische Hypoglykämie aufweisen. Sie sind besonders gekennzeichnet durch eine hohe Ängstlichkeit und Depressionen.

Gleichzeitig haben sie wenig Angst vor einer Hypglykämie und teilweise hinderliche Gesundheitsverständnisse. Diese Kombination kann dazu beitragen, dass sich die Thematik der problematischen Hypoglykämien verfestigen kann und persistiert. Das, so die Studienautoren, könnte ein mögliches Ziel für psychologisch-therapeutische Ansätze sein, um das Thema neu anzugehen und über Schulungen und technischen Fortschritt hinaus und den Betroffenen nachhaltig zu helfen.

Autor:
Stand:
19.04.2022
Quelle:

Jacob P. Et al. Characteristics of adults with type 1 diabetes and treatment-resistant problematic hypoglycaemia: a baseline analysis from the HARPdoc RCT. Diabetologia 2022, ePub. DOI: 10.1007/s00125-022-05679-5

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