
Am 1. Oktober hatten wir 293.016 kumulierte Corona-Fälle, 9.507 Todesfälle und 26.805 aktive Fälle bei einer Einwohnerzahl von nahezu 83 Millionen. Die tägliche Fallzahl-Steigerungsrate lag mit 0,88% unterhalb aller kritischen Werte. Am 1. November hatten wir 537.364 kumulierte Fälle, 10.507 Todesfälle und einen täglichen Zuwachs von 2,08%. Nur zwei Wochen später hatten wir 794.462 kumulierte Fälle, 12.497 Todesfälle, und die Übersterblichkeit nimmt seit der 42. Kalenderwoche wieder zu. Zeit ein kurzes Résumé zu ziehen, denn wir haben in den letzten Monaten viel dazugelernt.
Was macht dieses Virus anders als andere Viren?
Normalerweise reagiert ein Mensch bei einer Virusinfektion mit einer konzertierten Aktion gegen das Virus. Virale Bestandteile werden durch bestimmten Toll-like-Rezeptoren und cytosolische Abwehrproteine wie RIG-I (RNA) erkannt, die dann über eine Art molekularen Staffellauf sowohl eine inflammatorische Antwort, als auch die lebenswichtige Interferon-Abwehr hochfahren. Die überlebenswichtige TypI/III Interferon-Antwort dirigiert dann umgehend die Neusynthese von kleinen Kampfproteinen, die jedes Virus in wenigen Tagen eliminieren können. Dieser molekulare Kampf dauert 5-6 Tage, Zeit die es unserem adaptiven Immunsystem erlaubt, spezielle T-Zellen und B-Zellen zu aktivieren, um eine cytotoxische und humorale Immunantwort zu generieren. Das heißt übersetzt: Virus-infizierte Zellen werden abgetötet, und Antikörper fangen die noch vorhanden Viren ab, bevor sie weitere Zellen infizieren können.
SARS-CoV-2 ist insofern besonders, weil es mehrere Dinge tut, die all dies verhindern.
Erster Fakt
SARS-CoV-2 kodiert für 28 Proteine von denen allein 10 versuchen, den Interferon-Abwehrmechanismus zu unterbinden. Je besser das dem Virus gelingt, umso höher ist die Gefahr, dass man als COVID-19-Patient auf einer Intensivstation verstirbt. Bei allen hospitalisierten COVID-19-Patienten findet man nur eine schwache Interferon-Antwort. Dadurch dass das Virus die Interferon-Antwort unterbindet, fährt die sonst schwache inflammatorische Reaktion so hoch, dass unser eigenes Immunsystem damit beginnt, Organe immunologisch zu attackieren. Das geschieht allerding mit Hilfe von Fakt Nummer 2.
Zweiter Fakt
Das Virus kodiert 2 wichtige Proteasen, NSP3 (PLpro) und NSP5 (3CL): Diese beiden Eiweiß-spaltenden Enzyme benötigt das Virus für seine eigene Vermehrung in den infizierten Zellen. Dummerweise spalten diese aber nicht nur die viralen Proteine, sondern auch körpereigene werden von ihnen zerschnitten. Während der Antikörperbildung findet unser Immunsystem diese "neuen" Eiweißfragmente (Neoantigene) und beginnt nun auch gegen unsere eigenen Eiweiße Antikörper herzustellen. Bei einer Untersuchung an COVID-19-Patienten, wo man versucht hatte alle Antikörper dieser Patienten zu charakterisieren, wurde festgestellt, dass 9 von 10 Antikörpern sog. Autoantikörper waren, und nur 1 von 10 Antikörpern gegen das wichtige Spikeprotein des Virus gerichtet ist [1]. Das hat dramatische Konsequenzen für eine große Anzahl an Infizierten, denn diese Auto-Antikörper docken an verschiedene Körpergewebe an und sorgen dafür, dass unser eigenes Immunsystem dann diese Organe attackiert - vergleichbar mit einer chronischen Autoimmunerkrankung. Fast alle heute bekannten Nebenwirkungen bei COVID-19-Patienten, wie zum Beispiel der Verlust des Geschmacks- oder des Riechsinnes, Schäden an Herz, Niere, Lunge oder Gehirn beruhen auf diesem Auto-Immuneffekt. Sie verursachen auch die Langzeitschäden, die man jetzt immer häufiger bei Patienten aller Altersklassen nachweist.
Dritter Fakt
Auch Fakt Nummer 3 ist wichtig: Auto-Antikörper gegen Phospolipide, das sind Bausteine unserer Zellmembranen, binden an Endothelzellen und sorgen dort - in Zusammenarbeit mit neutrophilen Granulozyten für eine Serie von Mikroembolien, die bei vielen COVID-19-Patienten zum Tod führen können [2]. Deshalb werden heute COVID-19-Patienten mit bestimmten Blutverdünnern behandelt, um zumindest diese Gefahr in den Griff zu bekommen.
Fazit
Alles in allem zeigt dieses Virus also Besonderheiten, die ihn sehr gefährlich machen, sehr viel gefährlicher als Grippeviren oder andere respiratorische Krankheitserreger. Es handelt sich also nicht um eine „besondere Grippe".
Über den Autor
Rolf Marschalek ist ein deutscher Molekularbiologe. Er ist seit 2000 Professor für Pharmazeutische Biologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Fachgebiete sind Biochemie, Molekularbiologie, Genetik und Immunologie.