
Hintergrund
Rund Dreiviertel der Berufstätigen hatte schon einmal Rückenschmerzen. Die Schmerzen schränken die Lebensqualität und die Leistungsfähigkeit der Betroffenen stark ein. Sie können zu einer vorübergehenden oder dauerhaften Arbeitsunfähigkeit der Betroffenen führen. Laut DAK Gesundheitsreport 2018 sind Rückenschmerzen nach den Atemwegsinfektionen die zweithäufigste Einzeldiagnose, die zu einer Krankschreibung führt. Etwa jeder zwanzigste erwerbstätige Versicherte (5,2 %) war 2017 wenigstens einmal wegen Rückenschmerzen krankgeschrieben. Jeder siebte der Betroffenen leidet unter chronischen Rückenschmerzen [1].
Multisensorische Integration
Bisherige Therapieansätze und Präventionsangebote zur Linderung der chronischen Rückenschmerzen sind häufig von begrenztem Erfolg. Ein Team um Prof. Dr. Martin Diers von der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am LWL-(Landschaftsverband Westfalen Lippe)-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum (RUB) hat nun einen Ansatz entwickelt, der bei der Behandlung mehrere Eingangskanäle für Sinnesreize integriert und so die Schmerzwahrnehmung der Patienten verändern soll. Die Wirksamkeit der multisensorischen Integration bei der Wahrnehmung von Rückenschmerzen wurde aktuell untersucht. Die Ergebnisse der Studien sind vielversprechend, so eine Pressemitteilung der RUB [2].
Zielsetzung
In den aktuellen Studien geht es um die Auswirkungen visueller Informationen über den eigenen Rücken auf die Schmerzwahrnehmung von Patienten.
Methoden
An der Studie nahmen Patienten mit chronischen Rückenschmerzen und Personen ohne Rückenbeschwerden teil. Mit einer Videokamera wurde der Rücken aller Teilnehmer gefilmt. Der Film wurde auf einen Monitor übertragen, auf dem der jeweilige Proband den eigenen Rücken in Echtzeit betrachten konnte. Die Schmerzpatienten schätzten die Stärke ihrer aktuellen Schmerzen auf einer Skala von null bis zehn ein. Die Versuchsanordnung wurde mit den Videos der Rücken anderer Personen, unbewegten Bildern und einem Buch wiederholt.
Ergebnisse
Allein das Betrachten des eigenen Rückens in Echtzeit führte zu einer deutlichen Schmerzlinderung bei den Patienten. Weder die Rückenaufnahmen einer anderen Person noch das unbewegte Bild noch das Buch hatten diesen Effekt. Dieses Ergebnis wurde durch einen zweiten Test bestätigt, bei dem ein schmerzhafter Reiz auf den Rücken ausgeübt wurde. Wenn die Probanden ihren Rücken dabei in Echtzeit beobachten konnten, gaben sie eine geringere Schmerzintensität an, als wenn sie während des Reizes auf ihre Hand blickten. Auch Massagen und manuelle Therapien des Rückens waren in weiteren Studien deutlich wirksamer, wenn der Patient dabei zusehen konnte.
Erklärungsmodell
Martin Diers hat die Erfahrung gemacht, dass Patienten Umstände und Qualität ihrer Rückenschmerzen meist gut beschreiben, den Schmerz aber nur eingeschränkt lokalisieren können. Der Ort des Schmerzes scheint eine Art blinder Fleck zu sein. Beim Zeichnen ihres Körperumrisses lassen manche Patienten an der entsprechenden Stelle sogar eine Lücke. Die Schwierigkeiten bei der Lokalisation erklärt Diers so: „Wir wissen nicht, wie der eigene Rücken genau aussieht, weil wir ihn nicht direkt sehen können:“ Die Informationen der Schmerzrezeptoren vermitteln dem Gehirn nur ein grobes Bild der Schmerzlokalisation. Die zusätzliche visuelle Information über das Echtzeitvideo hilft dem Patienten seinen Schmerz zu lokalisieren und ihn einzugrenzen. Möglicherweise tragt das dazu bei, die Schmerzintensität zu vermindern.