Experten der Charité Berlin, der Universität Bonn, des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) und des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) untersuchten im Rahmen eines landesweiten Konsortiums - der "Deutschen COVID-19 OMICS-Initiative" (DeCOI) die Mechanismen, welche die Pathophysiologie der verschiedenen Krankheitsverläufe von COVID-19 erklären könnten. Die Ergebnisse wurden diese Woche in der Fachzeitschrift Cell publiziert.
Was passiert mit dem Immunsystem?
Einzelzellstudien an bronchoalveolären Lavageproben haben bisher eine komplexe Dysregulation der pulmonalen Immunantwort bei schwerem COVID-19 nahegelegt. Weiterhin induziert eine SARS-CoV-2-Infektion spezifische T-Zell- und B-Zell-Antworten, was sich in einer Erhöhung der SARS-CoV-2-Peptid-spezifischen T-Zellen und der Produktion von SARS-CoV-2-spezifischen Antikörpern widerspiegelt. Patienten mit schwerem COVID-19 weisen hohe systemische Spiegel an entzündlichen Zytokinen auf, insbesondere IL-6 und IL-1β, während Interferon (IFN)-Reaktionen eher unterdrückt zu sein scheinen. Eine tiefgreifende Dysregulation des Immunsystems wird häufig bei schweren Infektionen oder einer Sepsis beobachtet.
Studie
In der Studie wurden Blutproben von insgesamt 53 Männern und Frauen mit leichtem oder schwerem COVID-19 aus Berlin und Bonn untersucht. Als Kontrollen dienten Blutproben von Patienten mit anderen viralen Atemwegsinfektionen sowie von gesunden Personen. Um eine hohe Auflösung der Untersuchungen zu erzielen verwendeten die Forscher sog. Single-Cell-OMICs-Technologien – ein Sammelbegriff für moderne Labormethoden, mit denen sich beispielsweise die Genaktivität und die Proteinmengen für einzelne Zellen bestimmen lassen. Auf diese Weise charakterisierten die Wissenschaftler die Eigenschaften der im Blut zirkulierenden Immunzellen. Der Schwerpunkt lag hierbei auf den myeloiden Zellen, zu denen Neutrophile und Monozyten gehören; Also Immunzellen, die sich ganz vorne in der Immunantwort befinden und in einem sehr frühen Stadium mobilisiert werden, um den Organismus gegen Infektionen zu verteidigen. Da sie außerdem die spätere Bildung von Antikörpern und anderen Zellen beeinflussen, die zur Immunität beitragen, nehmen myeloide Zellen eine Schlüsselposition innerhalb der Immunantwort ein.
Ergebnisse
Im Gegensatz zu dem, was bisher allgemein angenommen wurde, zeigen die Ergebnisse der Studie, dass ein schwerer COVID-19-Verlauf nicht nur zu einer starken Immunreaktion führt, sondern die Immunantwort in einer kontinuierlichen Schleife von Aktivierung und Hemmung gefangen zu sein scheint.
„Über die Ursachen schwerer COVID-19-Krankheitsverläufe ist noch nicht viel bekannt. Die bei den Betroffenen gemessenen hohen Entzündungsniveaus deuten tatsächlich auf eine starke Immunantwort hin. Klinische Befunde sprechen aber eher für eine ineffektive Immunantwort - ein Widerspruch", sagt Joachim Schultze, Professor an der Universität Bonn und Leiter der Forschungsgruppe am DZNE.
Unreife Zellen
In der Studie stellten die Wissenschaftler fest, dass bei milden COVID-19-Krankheitsverläufen Neutrophile und Monozyten aktiviert werden – also abwehrbereit sind. „Sie sind auch so programmiert, dass sie den Rest des Immunsystems in Gang setzen. So kommt es letztlich zu einer ausreichenden Immunantwort gegen das Virus“, erklärt Dr. Antoine-Emmanuel Saliba vom Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI) in Würzburg.
Anders ist die Situation bei den schweren Fällen von COVID-19, wie Prof. Sawitzki erläutert: „Hier sind Neutrophile und Monozyten zwar zum Teil aktiviert, aber auch in ihrer Funktion gestört. Wir finden deutlich mehr unreife Zellen, die eher hemmend auf die Immunreaktion wirken.“ Prof. Sander ergänzt: „Das Phänomen lässt sich auch bei anderen schweren Infektionen beobachten, der Grund dafür ist jedoch unklar. Es spricht vieles dafür, dass sich das Immunsystem bei schweren COVID-19-Verläufen gewissermaßen selbst im Wege steht. Dadurch kommt es womöglich zu einer unzureichenden Immunantwort gegen das Coronavirus, bei gleichzeitiger starker Entzündung im Lungengewebe.“
Einfluss auf Therapie?
Dr. Anna Aschenbrenner vom LIMES Institut der Universität Bonn sieht in den aktuellen Befunden eine Möglichkeit für neue Therapiemöglichkeiten: „Unsere Daten legen nahe, dass man bei schweren Krankheitsverläufen von COVID-19 Strategien erwägen sollte, die über die Behandlung anderer Viruserkrankungen hinausgehen.“ Bei viralen Infekten wolle man das Immunsystem eigentlich nicht unterdrücken „wenn jedoch zu viele dysfunktionale Immunzellen auftreten, wie es unsere Studie zeigt, dann möchte man solche Zellen sehr wohl unterdrücken oder umprogrammieren“, so Aschenbrenner. Prof. Dr. Jacob Nattermann des Universitätsklinikums Bonn, der auch Arbeitsgruppenleiter im DZIF ist, erläutert weiter: „Medikamente, die auf das Immunsystem einwirken, könnten vielleicht weiterhelfen. Das ist allerdings ein Balance-Akt. Denn es geht darum, das Immunsystem nicht gänzlich herunterzufahren, sondern nur jene Bereiche, die sich sozusagen selbst ausbremsen. Das sind in diesem Fall die unreifen Zellen. Möglicherweise können wir von der Krebsforschung lernen. Hier gibt es Erfahrung mit Therapien, die bei solchen Zellen ansetzen.“