
Hintergrund
Schluckstörungen treten bei vielen neurologischen und neuromuskulären Erkrankungen auf. Sie können Mangelernährung, Dehydratation und mitunter lebensbedrohliche Aspirationspneumonien verursachen. Darüber hinaus beeinträchtigen die Dysphagien die Lebensqualität der Patienten massiv und stellen für das Pflegepersonal in Kliniken und Heimen eine erhebliche Belastung dar. Bisherige Klassifikationen der neurogenen Dysphagien orientierten sich hauptsächlich an der Schwere der Schluckstörungen. Sie berücksichtigten kaum, dass der hochkomplexe Schluckvorgang auf zahlreichen Ebenen gestört sein kann und sich dabei je nach neurologischer Grunderkrankung phänotypische Störungsmuster zeigen können. [1,2]
Spezifische Störungsmuster
Die Schluckendoskopie (fiberoptic endoscopic evaluation of swallowing [FEES]) ist in der Lage die verschiedenen Störungsmuster von Dysphagien in hoher Präzision zu visualisieren. Forscher der Universität Münster führten eine systematische Literaturanalyse der Ergebnisse von FEES-Untersuchungen durch, die krankheitsspezifische Schluckstörungsmuster im Focus hatten. Die Ergebnisse dieser Analyse wurden genutzt, um eine neue Klassifikation der neurogenen Dysphagien zu entwickeln. Anschließend validierten die Forscher die neue Systematik mithilfe von randomisierten Datensätzen aus eigenen FEES-Untersuchungen. Die neue Klassifikation sowie die hinführenden Analysen und Untersuchungen wurden im Fachjournal Neurology veröffentlicht.
Zielsetzung
Die Forscher hatten zum Ziel eine neue Klassifikation der neurogenen Dysphagien zu entwickeln und zu validieren, die sich hauptsächlich an den phänotypischen, krankheitsspezifischen Störungsmustern orientiert. Die neue Klassifikation basiert auf der FEES-Technik, die diese Störungsmuster mit hoher Präzision abbilden kann.
Methoden
In die Literaturanalyse wurden Studien eingeschlossen, in denen krankheitsbezogene, detaillierte FEES-Befunde aufgezeichnet worden waren. Dabei musste zumindest ein Patient in der Studie unter an Schlaganfall, Parkinson, Demenz, Amyotropher Lateralsklerose, Myasthenia gravis oder Myositis erkrankt sein. Ein sechsköpfiges Team aus Neurologen und Logopäden definierte die Phänotypen der Schluckstörungen für die Klassifikation, die anhand von FEES-Videos aus dem Archiv der Universitätsklinik Münster validiert wurden. Hierzu wurden 1.500 Videos zufällig ausgewählt, aus denen anschließend die 1.012 Videos für die Validierung herangezogen wurden, die alle nötigen Kriterien erfüllten.
Ergebnisse
Die meisten Erkrankungen sind mit mehreren Störungen des Schluckfunktion verbunden. Dennoch zeichnen sich Muster ab, die bei bestimmten Krankheiten häufiger auftreten als bei anderen.
Auf der Basis ihrer Literaturrecherche und der anschließenden Validierung konnten die Forscher folgende sieben Phänotypen der neurogenen Schluckstörungen definieren und für eine Klassifikation bzw. für die Ergänzung bestehender Klassifikationen vorschlagen.
- Leaking: vorzeitiges Abgleiten des Nahrungsbolus in den Pharynx – vor allem bei Schlaganfall
- Pathologisch verzögerter Schluckreflex – vor allem bei Schlaganfall
- Residuen in den Valleculae – am häufigsten beim idiopathischen Parkinson-Syndrom
- Residuen im Sinus Piriformis – nur bei Myositis, Motoneuronerkrankungen und Hirnstamminfarkten
- Pharyngolaryngeale Bewegungsstörungen – vor allem bei atypischen Parkinson-Syndromen und Medulla oblongata Infarkt
- Fatigue des Schluckens – ausgeprägt bei Myasthenia Gravis, teilweise bei amyotropher Lateralsklerose (ALS).
- Komplexe Dysphagie mit einem gemischten Störungsmuster – bei allen Erkrankungen außer bei Myasthenia gravis, vorherrschend bei ALS.
Fazit
Die Autoren schließen aus ihren Ergebnissen, dass neurogene Dysphagien nicht als Symptom, sondern als multiätiologisches Syndrom mit verschiedenen Störungsmustern betrachtet werden sollten. Einer der Erstautoren Dr. Bendix Labeit von der Abteilung für Neurologie der Universität Münster erklärte: „Neben krankheitsspezifischen Befunden zeigen sich auch krankheitsübergreifende Störungsmuster. Zukünftig können ausgehend von dieser Studie transdiagnostische und störungsmusterspezifische Therapieansätze untersucht werden“. Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN sieht in der neuen Klassifikation eine Basis: „..., um die Versorgung von neurologischen Patienten in Zukunft weiter zu verbessern.“