
Soziale Interaktionen sind für uns Menschen als soziale Wesen essentiell. Was ein Mangel sozialer Kontakte bewirkt, erleben wir nach nunmehr zwei Jahren Pandemie: die Rate an Depressionen, gerade auch bei Kindern und Jugendlichen, nimmt zu. Nicht nur der Lockdown, auch COVID-19 selbst, kann zu psychischen Leiden führen.
Menschliche Nähe und vor allem Berührungen lassen sich im virtuellen Kontext eben nicht ersetzen. Zur Bedeutung von Berührungen in der Therapie von Depressionen und anderen Erkrankungen haben Professor Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen und sein Team ein Review publiziert, das aktuelle Erkenntnisse der Berührungsforschung und deren Bedeutung für die klinische Medizin aufzeigt [1].
Plädoyer für die Berührungsmedizin
Die meisten Menschen haben die heilsame Kraft der Berührung sicherlich schon erfahren, sei es in der Kindheit, bei einer Massage … die Auflistung ließe sich beliebig fortführen. In dem Review von Müller-Oerlinghausen liegt der Fokus auf dem therapeutischen Ansatz bei Depressionen. Es werden jedoch auch weitere Fachgebiete exemplarisch erwähnt, bei denen die positive Wirkung von Berührungen belegt ist: Neonatologie, Pädiatrie, Schmerzmedizin, Onkologie und Geriatrie.
In Anbetracht der sich mehrenden Evidenz für die heilsame Kraft der Berührung fordern die Autoren eine neue Fachdisziplin – die Berührungsmedizin – welche sich der Erforschung und Anwendung manueller Berührungstechniken bedient.
Erkenntnisse der Berührungsforschung
Zunächst geben die Autoren einen Überblick über den aktuellen Stand der Berührungsforschung. Die Haut ist unser größtes Sinnesorgan. Im Laufe der Embryonalentwicklung entsteht die Haut aus dem Ektoderm. Dieses Keimblatt ist auch die Grundlage für unser Nervensystem, so dass eine ontogenetische Verbindung zwischen Haut und Psyche besteht. Ein Aspekt, der in der Therapie psychischer Leiden von besonderer Bedeutung ist.
Der Tastsinn entwickelt sich bereits sehr früh, etwa in der achten Schwangerschaftswoche. Aus der Forschung weiß man, wie wichtig Berührungen und ein enger Körperkontakt für die psychische und physische Entwicklung von Kindern ist. Die Bedeutung von Berührung wurde in Publikationen aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erstmals thematisiert und beruhte auf Beobachtungen von Verhaltensstörungen bei Waisenkindern, welche in Folge einer Berührungsdeprivation entstanden.
Die Bedeutung von Berührungen und Nähe werden auch in den, aus heutiger Sicht ethisch problematischen, Harlow-Versuchen an Rhesusaffen deutlich. Dabei zeigten Rhesusaffen-Jungtiere eine höhere Bindung an eine mit Stoff bespannte Attrappe ohne Milch als Ersatzmutter im Vergleich zu einer Drahtattrappe, die aber Milch spendete.
Wie erfolgt die Wahrnehmung von Berührungen?
Der Tastsinn der Haut ist für die Wahrnehmung von Berührungen verantwortlich. In den letzten drei Jahrzehnten wurden bis dato unbekannte nervale Strukturen des Tastsinns entdeckt. Dabei handelt es sich um die C-taktilen (CT) Afferenzen, die in den 1980-Jahren als Bestandteil des taktilen Wahrnehmungssystems entdeckt wurden. Diese Fasern kommen in der behaarten Haut von Menschen und anderen Säugetieren vor und sind, wie alle Fasern der C-Fasergruppe, nicht myelinisiert. Diese CT-Afferenzen stellen eine strukturell und funktionell unabhängige Gruppe von Mechanorezeptoren dar, die auf bestimmte Berührungsqualitäten (etwa Streicheln, Kraulen, sanfte Massagen) reagieren.
Auf psychologischer Ebene führt die Aktivierung der CT-Afferenzen zu einem Wohlgefühl, welches sich wahrnehmungsphysiologisch der Interozeption zuordnen lässt. Interozeption meint ein inneres Wohlgefühl. In der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) zeigte sich bei Stimulierung der CT-Afferenzen eine Aktivierung kortikaler limbischer Regionen wie der posterioren Insula, die an Empfindungen wie Empathie, Mutterliebe oder Fairness beteiligt zu sein scheint. Die Verarbeitung der CT-assoziierten Berührungen findet an Orten im Gehirn statt, welche auch an der Verarbeitung von Emotionen und sozialen Kognitionen beteiligt sind.
Daneben sind für die Wirkung und Verarbeitung von Berührungsreizen auch sogenannte Top-Down-Mechanismen von Bedeutung, das meint: Wer führt die Berührung aus und mit welcher Intention?
Klinische Anwendung in Depressionstherapie
Die Verbindung zwischen Haut und Nervensystem durch nervale Fasern und den gemeinsamen ontogentischen Ursprung ist in der Therapie durch Berührung von Bedeutung.
Die Autoren des Reviews richten hier den Fokus besonders auf die Therapie von Depressionen. Schaut man sich an, was eine Depression ausmacht, wird auch der positive Wert von Berührungen in der Therapie dieses Krankheitsbildes deutlich.
Verändertes Körperempfinden bei Depressionen
Depressionen zeichnen sich primär durch eine Anhedonie aus. Damit ist ein „Nicht-mehr-lustvoll-spüren-Können“ gemeint, was nicht nur die kognitive Ebene betrifft, sondern das gesamte Sensorium. Bei einer Depression zeigen sich nicht nur psychische Symptome, sondern auch körperliche, etwa körperliche Schmerzen, Brustenge, Schwindel, Herzklopfen und viele weitere. Nicht nur der Geist-Gemüt-Komplex, auch der Körper, ist betroffen. Hierbei ist jedoch nicht ausschließlich der anatomische Körper gemeint, sondern der erlebte Körper, wie die Autoren betonen.
Die Autoren stellen nach Schilderung dieser Zusammenhänge die Grundannahme auf, dass mittels heilsamer Berührungen ein „averbaler Zugang“ zu depressiven Menschen herzustellen ist, der Angst und Unruhe reduzieren und gleichzeitig ein positives Körperempfinden ermöglichen soll.
Studienlage
Zahlreiche Studien untermauern mittlerweile die positiven Effekte von Berührung. Ein Team um Moyer hat 2004 in einer Metaanalyse die antidepressive und anxiolytische Wirksamkeit von Massagen belegt [2]. Darin zeigte sich die Effektstärke derjenigen einer Psychotherapie vergleichbar.
Die erste deutsche Studie im randomisierten klinischen Setting bei stationär-depressiven Patienten (im Vergleich zu gesunden Probanden) zeigte eine eindeutige Überlegenheit der eigens hierfür entwickelten Slow Stroke-Massage im Vergleich zu den Kontrollbedingungen ohne Berührung [3].
Wie wirkt Berührung bei Depressionen?
Das eingangs erwähnte System der CT-Afferenzen und die Interozeption spielen sicherlich eine bedeutende Rolle bei der positiven Wirkung von manuellen Therapie bei Patienten mit Depressionen. Die in diesem Zusammenhang angesprochene Insula des limbischen Systems integriert die Summe alle Einzelempfindungen zu einem leiblichen Selbst („material me“).
Die Rolle von Oxytocin
Eine weitere wichtige Komponente stellt das oxytocinerge System dar. Oxytocin, umgangssprachlich auch als Kuschel-Hormon bezeichnet, spielt nicht nur bei der Geburt und Mutter-Kind-Bindung eine Rolle.
Die Aktivierung kutaner Afferenzen, ausgelöst durch sanftes Streicheln, führt zur Freisetzung von Oxytocin. In der Folge kommt es zu verschiedenen physiologischen Effekten wie Förderung von prosozialem Verhalten, Minderung von Angst, Reduzierung von Stress, Förderung von Ruhe und Wohlbefinden sowie zu analgetischen und anti-entzündlichen Effekten.
Etablierung und weitere Forschung im Bereich Berührungsmedizin
Die Autoren leiten am Ende ihrer Ausführungen zwei Handlungsaufforderungen ab, die sich aus dem zuvor Geschilderten ergeben.
Berührungsmedizinische Therapieformen sollten in größerem Umfang auf ihre Wirksamkeit und Praxistauglichkeit hin untersucht werden. Eine Unterstützung durch die Krankenkassen wird dabei thematisiert.
Als zweiten Punkt fordern die Autoren eine Stärkung der Berührungsforschung im deutschsprachigen Raum. Sie nennen dabei wissenschaftliche Zentren mit Patientenzugang vergleichbar dem US-amerikanischen Touch Research Institute.