
Auf einer digitalen Pressekonferenz anlässlich des Deutschen Kopfschmerztages am 5.9.2021 berichtete Privatdozent Dr. Tim Jürgens, Präsident der Deutschen Migräne und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG), dass rund 1 Milliarde Menschen (12% der Weltbevölkerung) unter Migräne leiden sollen – andere Kopfschmerzerkrankungen nicht eingerechnet. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehört die Migräne darüber hinaus zu den 10 Erkrankungen, die die Betroffenen am meisten beeinträchtigen. Das Bewusstsein, dass es sich bei Kopfschmerzen und Migräne um keine Befindlichkeitsstörung zartbesaiteter Gemüter, sondern um echte, organisch-neurologische Krankheiten handelt, wächst, aber noch zu langsam. Die Bagatellisierung von Kopfschmerzen und Migräne ist ein wichtiger Grund dafür, dass diese Krankheiten häufig unterbehandelt werden [1,2].
Unterversorgung in Deutschland
Das Problem beginnt bei der Diagnosestellung. Eine Umfrage der DMKG hat gezeigt, dass Diagnosestellung insbesondere in der Erstversorgung ungenau ist und in vielen Fällen vermutlich auf falschen Annahmen beruht. So wird die Diagnose Migräne häufig voreilig ausgeschlossen, wenn der Patient über Nackenschmerzen oder beidseitige Kopfschmerzen klagt. Dabei weiß man heute, dass diese Symptome keine Ausschlusskriterien für eine Migräne sind, erklärte Jürgens. Bei der Akutmedikation und der prophylaktischen Versorgung werden die vorhandenen Möglichkeiten bei Weitem nicht ausgeschöpft. So erhalten <10% der Patienten eine Migräneprophylaxe, obwohl sie indiziert wäre, sagte Jürgens. Besonders vielversprechend hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit sind die CGRP-Antikörper als Migräneprophylaktika. Da die Hürden für eine Verschreibung auf Kosten der gesetzlichen Krankenassen hoch sind, werden sie jedoch relativ selten verordnet [3].
Situation von Kindern und Jugendlichen
Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist die Unterversorgung von Kopfschmerzen alarmierend. „Eltern sollten das Problem nicht unterschätzen. Kopfschmerzen können den Alltag und die Zukunft Heranwachsender stark beeinträchtigen und in einem Teufelskreis aus Leistungsabfall, Schulangst und sozialer Isolation enden", sagte Dr. Gudrun Goßrau, Expertin der DMKG im Rahmen der Pressekonferenz. Eine Umfrage bei Schülern von Grundschulen und weiterführenden Schulen ergab, dass etwa Zweidrittel der Kinder und Jugendlichen regelmäßig Kopfschmerzen hatten. 31,5 % der Schüler gaben an, dass sie in den letzten drei Monaten an ≥ 2 Tagen pro Monat an Kopfschmerzen gelitten hatten [4].
Individuelle multimodale Therapien
Von den Schülern mit ≥ 2 Kopfschmerztagen nahmen 48,1 % Analgetika (49,1 % Ibuprofen; 32,8 % Paracetamol). Aber 68,3 % hatten keine ärztliche Kopfschmerzdiagnose. Die Schmerzmittel-Behandlung ohne Diagnose oder ärztliche Kontrolle ist gerade bei Kindern und Jugendlichen mit hohen Risiken behaftet, wie beispielsweise einer Chronifizierung der Schmerzen oder Medikamentenübergebrauchskopfschmerz. Goßrau betonte: „Kopfschmerzen sind nicht gleich Kopfschmerzen. Migräne kann genetische Ursachen haben und muss anders behandelt werden als Kopfschmerzen vom Spannungstyp." Eine Therapie müsse immer individuell auf das Krankheitsbild, die Bedürfnisse und Möglichkeiten der jugendlichen Patienten abgestimmt werden. An erster Stelle stehen dabei nicht-medikamentöse Maßnahmen, wie beispielsweise Techniken der Stressbewältigung, Bewegung oder Entspannung, die bei Bedarf gezielt medikamentös ergänzt werden können.
„Attacke! Gemeinsam gegen Kopfschmerzen“
Um die Versorgungsqualität von Kopfschmerzpatienten zu verbessern, hat die DMKG in den letzten Jahren viele Aktionen an den Start gebracht. Ein Beispiel ist die Awareness-Initiative »Attacke! Gemeinsam gegen Kopfschmerzen«. Ziel der Initiative ist es, mehr Bewusstsein für die Folgen von Kopfschmerzen im Einzelfall aber auch für die Gesellschaft zu schaffen. Durch die Vermittlung von Fachwissen trägt die Initiative zu einer besseren Versorgung der Betroffenen bei. Das DMKG-Kopfschmerzregister ermöglicht dabei eine genaue Bestandsaufnahme der Versorgung im Alltag als Ansatzpunkt für künftige strukturelle Verbesserungen. Die Zertifizierung von Kopfschmerzpraxen und -zentren ist eine weitere Maßnahme, die die Qualität der Kopfschmerzversorgung in Deutschland verbessern soll. Über die DMKG-Homepage können Kopfschmerz-Betroffene spezialisierte und zertifizierte Einrichtungen in ihrer Region zu finden. Da die primären Ansprechpartner im Alltag häufig dem nichtärztlichen Personal angehören, bietet DMKG auch eine Weiterbildung zur „DMKG Headache Nurse“ an [5].