
Hintergrund
Schon früh im Verlauf der COVID-19-Pandemie war bekannt, dass die Krankheit nicht nur den Respirationstrakt betrifft, sondern auch eine große Bandbreite neurologischer Symptome und Begleiterscheinungen hervorrufen kann. Wie zahlreiche Fallberichte und Studien belegen, kann es im Verlauf der Erkrankung neben den häufigen Geruchs- und Geschmacksstörungen auch zu diffusen Enzephalopathien mit neurologischen und psychiatrischen Auffälligkeiten, zu einer Enzephalomyelitis oder zu Schlaganfällen kommen. Auch Erkrankungen des peripheren Nervensystems und das Guillain-Barré-Syndrom wurden bereits im Zusammenhang mit COVID-19 beschrieben. [1]
Neuro-COVID auch bei jungen Gesunden
„Noch ist für einige der neurologischen Manifestationen nicht klar, wie häufig sie bei COVID-19 wirklich sind. Angesichts der enorm hohen Infektionsraten weltweit ist die absolute Zahl COVID-19-assoziierter neurologischer Erkrankungen jedoch als hoch einzustufen.“, erklärt Professor Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in einer Presseinformation der DGN. Besonders alarmierend dabei ist, dass die neurologischen Folgeerscheinungen der SARS-CoV-2 Infektion auch bei jungen Patienten ohne kardiovaskuläre Risikofaktoren auftreten. Diese Tatsache hat dazu geführt, dass mittlerweile der Begriff „Neuro-COVID“ in der Fachwelt gebraucht wird.
Zusammenfassung aktueller Studien
Die weite Verbreitung von „Neuro-COVID“, die mitunter dramatischen akuten Erkrankungen, die teilweise andauernden Einschränkungen und die noch nicht absehbaren Langzeitfolgen, haben die neurologischen Manifestationen der SARS-CoV-2 Infektionen in den Focus vieler wissenschaftlicher Arbeitsgruppen gerückt. Die Deutsche Neurologische Gesellschaft (DGN) hat die aktuell wichtigsten Studien in einer Presseinformation zusammengefasst.
Stadien und Diagnosegruppen
Unter Federführung des Neurologen Dr. Majid Fotuhi des NeuroGrow Brain Fitness Center der Johns Hopkins Universität haben US Wissenschaftler auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen eine Basis-Klassifikation von Neuro-COVID veröffentlicht, die die Erkrankung in drei Stadien einteilt und die neurologische Begleitsymptomatik nach Schweregrad einordnet.[2] Die Klassifikation der COVID-19 Arbeitsgruppe des UCL Queen Square National Hospital for Neurology and Neurosurgery unterteilt die Symptomatik in die folgenden fünf neurologischen Diagnosegruppe [3]:
- Enzephalopathien
- Entzündungen des ZNS
- Ischämische Schlaganfälle,
- periphere neurologische Störungen und
- sonstige Störungen des ZNS
Persistenz der Symptome
COVID-19 Patienten, die stationär behandelt werden mussten, können auch noch Wochen und Monate nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht vollständig symptomfrei sein. Dabei sind neurologische Beschwerden besonders häufig: Von den 87% der COVID-19 Patienten, die in einer italienischen Studie noch zwei Monate dem Beginn der Erkrankung unter Symptomen litten, klagten 53% über Fatigue, 16% über Riechstörungen, 11% über Geschmacksstörungen, 10% über Kopfschmerzen und 5% über Schwindel. [4] Tatsächlich ist dieses Phänomen laut der DGN Presseinformation nicht unbekannt: „Auch die Spanische Grippe 1918 führte in Folge zu ungeklärten neurologischen Beschwerden („Enzephalitis lethargica“), an denen noch ein Jahrzehnt lang über eine Million Menschen litten.“ Berlit erklärt hierzu: „Das zeigt, dass eine neurologische Nachbetreuung von COVID-19-Patienten mit entsprechend weiterführender Diagnostik enorm wichtig ist.“
Hypothese der indirekten viralen Pathogenese
Beim SARS-CoV-Ausbruch 2002/2003 wurden Coronaviren in Gehirnzellen gefunden, während sie in den benachbarten Blut- und Lymphbahnen nicht nachweisbar waren. In der aktuellen SARS-CoV-2-Pandemie konnte das Virus jedoch nur in Einzelfällen im Liquor nachgewiesen werden. Das führte zu der Hypothese, dass in erster Linie indirekt viral vermittelte Mechanismen im Zusammenhang mit den neurologischen Beschwerden stehen. „So erklärt vermutlich die Aktivierung des Gerinnungssystems bei COVID-19 zumindest einen Teil der Schlaganfälle“ erläutert Professor Hans-Christoph Diener, Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).
Viral vermittelte autoimmune Prozesse
Eine Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Harald Prüß von der Charité Berlin, Sprecher der DGN-Kommission Neuroimmunologie, konnte bei 11 Intensivpatienten mit COVID-19 und neurologischen Symptomen spezielle Autoantikörper gegen Nervenzellen nachweisen. „Derzeit prüfen wir, ob die Antikörper-Bildung eine Folge der virusbedingten Entzündung ist. Alternativ könnte es sich dabei um eine „Strategie“ des Virus handeln, seine Oberfläche körpereigenen Strukturen anzupassen. In beiden Fällen richten sie sich gegen alle Zellen mit (einer bestimmten) Oberflächenstruktur, auch gegen gesunde Nervenzellen. erklärt Prüß. [4]. Dieser Mechanismus ist auch von anderen Viren bekannt, beispielsweise können Herpesviren auf diese Weise eine autoimmune Form der Hirnentzündung nach der eigentlichen viralen Infektion auslösen.
Fazit
Um alle Pathomechanismen zu klären, die zu den neurologischen Manifestationen bei COVID-19-Patienten führen, sind weitere prospektive Studien mit größeren Patientenzahlen erforderlich. „Der von Prüß und Kollegen vermutete krankheitsauslösende Prozess erscheint aber plausibel und hat zudem den Charme, dass wir hier eine Therapieoption hätten: Bei viral ausgelösten Autoimmunreaktionen können wir erfolgreich mit Immuntherapien behandeln.“, so das Fazit von Berlit.