
Im August 2020 wurde die erste Version der S1-Leitlinie „Neurologische Manifestationen bei COVID-19“ veröffentlicht. Im Februar 2021 folgte das erste Update und nun ist im Dezember des gleichen Jahres die dritte Version erschienen.
Bei der Leitlinie handelt es sich um eine sogenannte Living Guideline. Diese Leitlinien zeichnen sich durch eine mindestens einmal jährlich erfolgende Aktualisierung aus. Damit sorgen die Autoren um Professor Dr. Peter Berlit von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) stets für Aktualität im Angesicht des dynamischen Geschehens in der COVID-19-Pandemie.
Neuerungen in der S1-Leitlinie zu Neuro-COVID
In der derzeit aktuellsten Version (Stand Januar 2022) der Leitlinie wird der neueste Wissensstand präsentiert und auf neu etablierte Termini eingegangen. Im Folgenden werden einige der Neuerungen exemplarisch aufgeführt.
Post-Covid-Syndrom
In der aktuellen Leitlinienversion wird der Terminus „Post-Covid-Syndrom“ thematisiert. Nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 können persistierende neurologische Symptome, vor allem neurokognitive, auftreten. Dauern diese länger als drei Monate über die Akutinfektion hinaus an, spricht man von einem Post-Covid-Syndrom.
Als neurologische Manifestationen des Post-Covid-Syndroms sind Hirnnervenausfälle, Myalgien und Neuropathien beschrieben, aber auch Konzentrations- und/oder Gedächtnisstörungen sowie Kopfschmerzen und weitere ZNS-Symptome. Dauern diese länger als drei Monate über die Akutinfektion hinaus an, raten die Autoren der Leitlinie zur umfassenden Diagnostik mit neurophysiologischer Testung, Labordiagnostik (auch Liquoruntersuchung bei Hirnnervenausfällen, Myalgien und Neuropathien) und zerebraler Bildgebung (bei Konzentrations- und/oder Gedächtnisstörungen sowie Kopfschmerzen und weiteren ZNS-Symptomen).
Bei Hinweisen auf einen autoimmunologischen Erkrankungsmechanismus rät die Leitlinie zur immunmodulatorischen Therapie.
Corona-Impfung bei neurologischen Erkrankungen und neuromuskuläre Nebenwirkungen
Der aktuelle Wissensstand zur Corona-Impfung bei neurologischen Erkrankungen und zu neuromuskulären Erkrankungen nach der Impfung ist in der Leitlinie zusammengefasst:
- Eine vorbestehende neurologische Erkrankung ist keine Kontraindikation einer Impfung
- Die Impfung ist unter laufender Immuntherapie sinnvoll und sicher; bei Einsatz breit wirksamer Immunsuppressiva, B-Zell-depletierenden Therapien und S1P-Modulatoren kann die Impfantwort verringert sein; entsprechende Impfstrategien sind in der Leitlinie zu finden
- Als neuromuskuläre Nebenwirkungen nach SARS-CoV-2-Impfung werden genannt: Hirnnervenaffektionen, Plexopathien, Polyneuritiden und Myopathien, Vakzin-induzierte immun-thrombotischen Thrombozytopenie (VITT) mit zerebrale Hirnvenen- und Sinusvenenthrombosen (VITT nur nach Impfung mit Vektorimpfstoffen beschrieben)
- Das Auftreten von akuter Rhabdomyolyse, Fazialisparese oder einem Guillain-Barré-Syndrom nach der ersten Impfung mit einem der in Deutschland zugelassenen COVID-19-Impfstoffe ist sehr selten.
VITT nach Corona-Impfung
Nach der Impfung mit Vektorimpfstoffen wurde gehäuft über Sinus- und Hirnvenenthrombosen (SHVT) berichtet. Die Gefahr einer SHVT nach Vektorimpfstoffen ist gegenüber den mRNA-Vakzinen um das 10-fache erhöht, aber immer noch deutlich niedriger als das Auftreten einer Thrombose durch COVID-19.
Die Vakzin-induzierte immunologische thrombotische Thrombozytopenie (VITT) manifestiert sich mit starken Kopfschmerzen, einer reduzierten Thromboyztenzahl, erhöhten D-Dimeren, Plättchenfaktor-4-Antikörpern und einem positiven VITT-Funktionstest. Auch das erstmalige Auftreten epileptiformer Anfälle nach Impfung mit einem Vektorimpfstoff sollte den Verdacht auf eine SHVT oder VITT lenken.
Als Therapie werden die Gabe von Immunglobulinen und eine heparinfreie Antikoagulation genannt. Hier weisen die Autoren der Leitlinie darauf hin, dass die Therapie auch ohne Nachweis einer Thrombose erfolgen kann, wenn starke Kopfschmerzen vier Tage bis drei Wochen nach der SARS-CoV-2-Impfung mit einem Vektorimpfstoff aufgetreten sind und die Laborkriterien für eine VITT erfüllt sind.
Enzephalitis und zerebrovaskuläre Erkrankungen ohne VITT
Laut Leitlinie ist bei einer Virus-Enzephalitis durch SARS-CoV-2 ist ein Virusnachweis im Liquor sehr selten.
Das Risiko für ischämische Schlaganfälle steigt bei COVID-19. Hier liegt die Inzidenz laut Leitlinie bei 1,1-1,6%. Das erhöhte Risiko besteht besonders in den ersten Wochen nach der Infektion und besonders bei Patienten, die ohnehin ein erhöhtes kardiovaskuläres Risikoprofil haben. Aber auch kryptogene Schlaganfälle bei jüngeren COVID-19-Patienten wurden registriert. Die Assoziation zwischen COVID-19 und dem erhöhten Schlaganfallrisiko wird aktuell in einer immun-vermittelten Aktivierung des Gerinnungssystems oder als Ausdruck vaskulärer Komplikationen bei schweren Organschäden vermutet.
Im Leitliniendokument sind alle Neuerungen aufgeführt und übersichtlich in blauer Schrift hervorgehoben.